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HERRSCHAFT/1896: Immunitätsnachweis - zweifelhafte Schutzfunktion ... (SB)



Im Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, das im Bundestag am 14. Mai verabschiedet wurde, wird die zuvor noch vom Bundesgesundheitsminister verlangte Einführung eines Immunitätsnachweises nicht mehr erwähnt. Jens Spahn hatte das Vorhaben, einen analog zum Impfpaß ausgefertigtes Dokument einzuführen, das Auskunft über den Infektionsstatus eines Menschen erteilt, mit großem Engagement beworben. Er verstehe den Widerstand gegen diese Neuerung nicht, schließlich könne man sich jetzt schon den Nachweis von Antikörpern etwa gegen Hepatitis und Masern im Impfausweis eintragen lassen. Wofür diese Information dann genutzt würde, "ist ja erstmal die Entscheidung des Bürgers" [1].

Es lohnt sich, genau hinzuhören. Der Verdacht, daß ein solcher Ausweis folgenschwere Konsequenzen in Hinsicht auf die Bewegungsfreiheit noch nicht gegen COVID-19 immunisierter Menschen haben könne, wurde von Spahn durch das Verschieben möglicher administrativer Maßnahmen auf einen späteren Zeitpunkt nicht dementiert. Wenn es seiner Vorstellung nach vorerst noch keine Regelungen dazu geben soll, ob ein Immunitätsnachweis das Aufheben von Beschränkungen nach Maßgabe des Infektionsschutzes zur Folge haben könnte, dann heißt das für noch nicht mit SARS-CoV-2 infizierte Menschen, womöglich noch länger unter Quarantäne gestellt zu werden.

Im Ergebnis hätte man es mit einer von epidemiologisch legitimierten Trennungslinien durchzogenen Gesellschaft zu tun, die zu den ohnehin schon großen sozialen Unterschieden erschwerend hinzukämen. Wenn Menschen, so die Prognose einer längerfristigen Immunisierung überhaupt zuträfe, durch Ansteckung der Quarantäne ausweichen könnten, müßten diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist, desto mehr befürchten, auf diese oder jene Weise benachteiligt und ausgeschlossen zu werden. Wer vor Augen hat, wie es etwa den BewohnerInnen von der Außenwelt abgeschlossener Altenpflegeheime ergeht, könnte es plötzlich eilig damit haben, sich schnell und willkürlich zu infizieren.

Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die mit dem Argument, es dürfe "keine Zwei-Klassen-Gesellschaft von Infizierten und Nicht-Infizierten geben" [2], dafür sorgte, daß der Passus zum Immunitätsnachweis aus der Gesetzesvorlage verschwand. Aller Voraussicht nach verstärkte eine solche Dokumentationspflicht die administrative Neigung, den biopolitischen Zugriff auf den einzelnen Menschen zu vertiefen, indem seine physischen Voraussetzungen und Bedingungen transparent und verfügbar gemacht würden. Da die medizinische Präventionslogik stets in gesellschaftspolitischen Dispositiven verkankert ist, lägen weitreichendere Formen der Sozial- und Verhaltenskontrolle auf dem Wege jedes Versuches, den individuellen Stand körperlich-geistiger Verfaßtheit für Dritte transparent zu machen.

Dabei werden Forderungen etwa danach, mehr Einfluß auf die Ernährung der Menschen zu nehmen, um chronischen Erkrankungen vorzubeugen, in der Regel nicht oder nur unzureichend in den Zusammenhang der krankmachenden Zwänge und Nöte gestellt, die von der konkurrenzgetriebenen Arbeitsgesellschaft ausgehen. Das Konzept maximal individualisierter Medizin wirbt denn auch mit Effizienzvorteilen, die aus medizinaladministrativer Sicht zweifellos gegeben sind, allerdings Menschen im wortwörtlichen Sinne zum Gegenstand haben, auf die eher das Bild eines kybernetischen Ensembles psychophysisch ausgesteuerter Regelungsgrößen zutrifft, als daß es sich um Subjekte des eigenen Lebens in all seiner unbestimmbaren Vielfalt und Unberechenbarkeit handelt.

Wo der Versuch, Menschen über eine medizinisch begründete Bezichtigungslogik in ihren Verhaltens- und Lebensweisen zu regulieren, enden würde, ist vollkommen offen. Das von humangenetischen Screenings bis zu bevölkerungspolitischen Maßnahmen auf jeder Ebene hochentwickelte Arsenal wissenschaftlich-technischer Zugriffsgewalt jedenfalls ist in den Möglichkeiten bioplitischer Regulation viel weiter, als es die Gesetzeslagen liberaldemokratischer Staaten bislang zulassen. Die notwendige Bekämpfung pandemischer Bedrohungen ist eine hervorragende Gelegenheit für die Akteure der Life Sciences und der vielen ihnen zuarbeitenden Branchen, mit krisenbedingt verstärkter Innovationskraft große Schritte bei der Verwaltung des Lebens nach vorn zu machen.

Die Pandemie durch intensives Testen, Zurückverfolgen und Isolieren auf ein beherrschbares Niveau zu reduzieren und weitere Infektionsgefahren durch strukturelle Veränderungen gesellschaftlicher Art zu verhindern, die die überfällige Bewältigung sozialökologischer Probleme von hohem Zerstörungspotential gleich mitvollzöge, ist etwas anderes als die "neue Normalität" einer durch Immunitätsnachweise erweiterten Klassengesellschaft. Zu befürchten, daß die Einführung eines Immunitätsnachweises in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der der Kampf jeder gegen jeden konstitutiv geworden ist, zu Ergebnissen menschenfeindlicher Art führen könnte, ist sicher nicht völlig abwegig, da hat sogar die SPD-Bundestagsfraktion herrschaftskritischen Instinkt bewiesen.


Fußnoten:

[1] https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/05/04/spahn-verteidigt-plaene-fuer-generellen-corona-immunitaetsnachweis

[2] https://www.spdfraktion.de/presse/statements/immunitaetsdokumentation-gestrichen

30. Mai 2020


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