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HERRSCHAFT/1883: Corona - Notstands- und Kriegslogik ... (SB)



Auf der anderen Seite darf Datenschutz kein Tatenschutz sein. Es ist nämlich nicht nur ethisch bedenklich, wenn Daten missbraucht werden, es ist auch ethisch bedenklich, wenn vorhandene Daten nicht optimal genutzt werden.
Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Entwicklung im Gesundheitswesen [1]

Ethische Bedenken kennen in der Logik optimalen Nutzens keine Grenze, die nicht aus zweckrationalen Gründen zu überschreiten wäre. Während das Argument des Datenschutzes den Restbestand eines verfassungsrechtlichen Liberalismus markiert, dem bürgerliche Freiheitsrechte prinzipiell gegen staatliche Willkür und diktatorische Ermächtigung gerichtet sind, läßt sich mit utilitaristischer Ethik fast alles begründen, das sich quantitativ ins Verhältnis zu einem angeblich weniger großen Nutzen setzen läßt. Entscheidend ist, wer über die Definitionshoheit verfügt, derzufolge etwa das ökonomische Wohlergehen einer Bevölkerung schwerer wiegt als das Lebensrecht einer ihr bislang angehörenden, mit diesem Abgleich nun jedoch auszugrenzenden Minderheit. Diesen Weg staatlichen Krisenmanagements zu beschreiten bedarf keiner anderen Begründung als der, daß man es kann.

So ließen sich für eine postpandemische Zukunft auch ganz andere Vorstellungen wie etwa die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zugunsten einer ökosozialistischen Überwindung von Naturzerstörung und Klimakrise entwickeln, mit der pandemischen Bedrohungen schon bei ihrer Entstehung entgegengetreten werden könnten. Das allerdings ist nicht "erwünscht", wie es im klassischen Obrigkeitsjargon heißt, der die Instanz souveräner Entscheidungsgewalt nicht zu nennen braucht, weil jeder weiß, wer das Sagen hat.

So weist die Diskussion um einen gesellschaftlichen Neustart nach einigen Wochen Quarantäne unübersehbar Züge einer biopolitischen Kosten-Nutzen-Abwägung auf, deren zentrales Argument in dem lediglich unterbrochenen, keinesfalls in Frage zu stellenden, von nationaler Standortlogik und neokolonialistischen Konkurrenzstreben bestimmten Wirtschaftwachstum besteht. Die Wiederherstellung des Status quo ante soll zügig erfolgen, um Fragen an die angebliche Alternativlosigkeit der herrschenden Vergesellschaftungsweise gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Zunahme von Aggressionsausbrüchen der auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen gegen PartnerInnen und Familienangehörige ist ein Ausdruck jenes latenten sozialen Krieges, der im unerwarteten Bruch ihrer Zurichtung auf Arbeits- und Marktsubjekte sichtbar hervortritt und durch ökonomische Härten so sehr verschärft wird, daß die Haltbarkeit des sogenannten gesellschaftlichen Friedens in Frage gestellt ist.

Die Erkenntnis, daß nicht der andere Mensch der Grund für die eigene Misere ist, sondern die umfassende Fremdbestimmung durch den warenproduzierenden Kapitalismus, ist zwar stets virulent, drängt nun jedoch mit Macht an die Oberfläche nahtlosen Funktionierens. "Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen", gibt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble denn auch zu bedenken und relativiert den Primat menschlichen Lebens unter Verweis darauf, daß zwar die grundgesetzlich geschützte Würde des Menschen unantastbar sei, dies aber nicht ausschließe, "dass wir sterben müssen" [2]. Indem Schäuble die beanspruchte Unteilbarkeit der Menschenwürde dem biologischen Wechselfall von Leben und Tod unterwirft und so ihrer normativen Sonderstellung enthebt, stellt er die unausgesprochene Frage in den Raum, wer eigentlich darüber befindet, wer leben darf und wer sterben muß. Die Antwort kann er schuldig bleiben, denn sie liegt auf der Hand - die Notwendigkeit, den kapitalistischen Geschäftsbetrieb, der alles ist, was den Staat im Kern ausmacht, wieder hochzufahren, wird individuellen Lebenswünschen gegenüber absolut gesetzt.

Indem er erklärt, selbst zur Hochrisikogruppe der Älteren und Vorbelasteten zu gehören, sich jedoch in sein Schicksal, bei einer Lockerung der Quarantäne möglicherweise zu sterben, zu fügen, weil sein natürliches Lebensende näher liegt als das jüngerer Menschen, nährt er zudem einen Opfermythos, der immer dann beschworen wird, wenn Staat und Nation angeblich in Gefahr sind. Das Abwägen seines Lebens gegenüber dem jüngerer Menschen, die mit dem Andauern des Lockdowns ein viel größeres Risiko auf sich nähmen als er selbst, bekräftigt den ökonomischen Charakter dieses Kalküls nicht anders als etwa in der Versicherungswirtschaft üblich.

Im Alter von 78 Jahren bereitwillig zu sterben, um Jüngeren Platz zu machen, die sich durch die erforderliche Rücksichtnahme gegenüber älteren Menschen eingeschränkt fühlen, läßt als mit dem symbolischen Gewicht des zweiten Staatsamtes in der Bundesrepublik befrachtete Stellungnahme mehr erkennen als ein bloßes Votum für die übergeordnete Bedeutung von Staat und Nation. Die existenzielle Bedeutung dieses Opfers erschließt sich in der Gefahr, der soziale Krieg könne krisenbedingt die Richtung wechseln und unversehens von unten nach oben verlaufen, dem mit der ganzen Exekutivgewalt administrativer Notstandslogik entgegenzutreten wäre.


Am Abgrund eugenischer Vergesellschaftung

Darüber zu befinden, welches Leben zu welcher Zeit was für eine Qualität habe, ist ganz und gar Sache derjenigen Menschen, die ihre persönlichen Ziele verfolgen mögen oder auch nicht. Die Vielfalt des Lebens in medizinischen und demographischen Kategorien dingfest zu machen ist das Wesensmerkmal einer biopolitischen Ökonomisierung, die schon vor der Coronapandemie in der neoliberalen Bezichtigungslogik selbstverschuldeter Erkrankung in Erscheinung trat. Von daher ist es auch nicht damit getan, ältere und chronisch erkrankte Menschen der Gefahr vorzeitigen Ablebens auszusetzen. Mit medizinischen Parametern dieser Art wird ein statistisch ermittelter Lebenswert in Stellung gebracht, um die Verluste und Gewinne, die der jeweilige Mensch in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft erzeugt, beziffern zu können. Einmal durchgesetzt differenziert sich der eugenische Zugang zur betriebswirtschaftlichen Logik staatlichen Handelns immer weiter aus, um letztlich alle Praktiken und Formen individuellen Daseins auf das Gesamtergebnis hin abgleichen zu können.

Sich als älterer Mensch für die Jugend zu opfern appelliert denn auch an das nationale Kollektiv als Überlebensgemeinschaft kaum anders als in faschistischen Regimes üblich, die die Fortdauer der Nation beschwören und die Durchsetzung etablierter Klassenherrschaft meinen. Der biologistische Maximalismus, mit dem der Grünen-Politiker Boris Palmer aufwartet, wenn er den Lockdown der Wirtschaft mit dem Argument kritisiert, in Deutschland würden möglicherweise Menschen gerettet, "die in einen halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen" [3], ist das zu erwartende Ergebnis einer gesellschaftlichen Dynamik, die im zyklischen Schwungverlauf der permanenten Krise einen unerwarteten Ausschlag produziert und damit die Angreifbarkeit des Gesamtsystems offenlegt. Sich darüber zu empören macht die Rechnung ohne den Wirt eines Kapitalismus, der permanent Tote produziert, indem er sie bei der Flucht in die EU ertrinken, im subsaharischen Afrika verhungern, in Bangladesh durch Lohnsklaverei ausbeuten, in Afghanistan durch kriegerische Aggression umbringen, in der Türkei im Knast verrecken oder im Irak durch vermeidbare Krankheiten vergehen läßt.

Auf humanistische Ethik und zivilisatorische Werte zu hoffen ist ein zivilreligiöser Glaubensakt und als solcher ein Luxus, den sich zu leisten die Akzeptanz herrschender Bedingungen voraussetzt. Von den Lebensgarantien gesellschaftlicher Reproduktion ausgeschlossen zu werden, was im pandemischen Notstand nicht nur älteren Menschen, sondern auch chronisch Erkrankten droht, legt die sozialdarwinistische Matrix dieser Gesellschaft mit furchterregender Konsequenz offen. Die materialistische Kritik biopolitischer Herrschaft weitgehend unterlassen zu haben ist ein Versäumnis der Linken, die nun von einer teilweise mitverschuldeten Verteilungslogik überholt wird, deren reaktionärer Charakter zu früheren Zeiten allgemeines Wissensgut war. "Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster" - ob dieses Zitat Antonio Gramsci zuzuschreiben ist oder nicht, der derzeitige gesellschaftliche Schwebezustand läßt sich kaum besser zusammenfassen.


Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/gesundheitswesen-mit-digitalisierung-kann-man-die.694.de.html?dram:article_id=475472

[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-schaeuble-will-dem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html?fbclid=IwAR3AZ0OKLTaq4pBMkK1k2jvDZXv2sLVi74iAZpS-hoqzujrvrbYq4lLQdSw

[3] https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.coronavirus-in-deutschland-boris-palmer-wir-retten-menschen-die-moeglicherweise-sowieso-bald-sterben.3058978a-08dc-42f0-9e98-5ccba1e4a96c.html?fbclid=IwAR20Ti77TCSN5KLM2XGxJF-n2U12eTRaHsAsI7CLvEVCTIgVL-7Y_8L6zFg

28. April 2020


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