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HERRSCHAFT/1855: Halle - Die Spreu wird nicht getrennt vom Weizen ... (SB)



Im deutschen Politikbetrieb wird sehr viel Energie darauf verwendet, den zivilgesellschaftlichen Widerstand der Palästinenser gegen die israelische Besatzungspolitik als Antisemitismus zu brandmarken und den sogenannten linken Antisemitismus wie die Nadel im Heuhaufen zu suchen. Wer die israelische Siedlungspolitik unter antikolonialistischem Vorzeichen kritisiert ist des Antisemitismus ebenso verdächtig wie die mit palästinensischen LGBTIQ-Menschen solidarischen AktivistInnen der Gruppe Queers for Palestine. Als habe eine Frau arabischer Herkunft und lesbischer Orientierung nicht schon genug an Diskriminierung auszuhalten, drücken ihr weiße Männer auch noch den Stempel des Antisemitismus auf, wenn sie sich nicht nur gegen das palästinensische Patriarchat, sondern auch gegen die israelische Besatzungspolitik positioniert. Schwarze Künstler wie der Rapper Talib Kweli, der sich mit der im Bundestag pauschal als antisemitisch gebrandmarkten BDS-Bewegung solidarisiert hat, was zahlreiche jüdische Intellektuelle in Israel scharf kritisiert haben, erhalten in Deutschland Auftrittsverbot, verhängt von weißen KulturmanagerInnen, die damit kaum weniger repressiv agieren als US-amerikanische RassistInnen.

Wenn dann ein echter Antisemit seinen mörderischen Absichten freien Lauf läßt, gibt man sich betroffen und erklärt, das habe man sich in Deutschland gar nicht mehr vorstellen können. Selbst die Bundesregierung geht von Tausenden gewaltbereiten und bewaffneten Neonazis hierzulande aus, doch man tut ganz unschuldig, als sei der Anschlag von Halle aus heiterem Himmel über die Republik gekommen. Simpler Objektschutz, wie er für jüdische Einrichtungen in vielen Städten selbstverständlich ist, hätte ihn vermutlich von vornherein verhindert, doch in einem Hotspot der extremen Rechten verzichtet man fahrlässigerweise darauf. Bis die Bundesanwaltschaft Klartext redete, tat man sich in Medien und Politik schwer damit, überhaupt den Begriff des Terrorismus auf den Attentäter anzuwenden. Man will schlicht nichts wissen von der brutalen Realität, in der JüdInnen, MuslimInnen und andere Minderheiten rechten Anfeindungen ausgesetzt sind, bei denen auch die Grenze körperlicher Unversehrtheit überschritten wird.

Natürlich, in Chemnitz hat es keine Hetzjagden gegeben, so der damalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen ein ums andere Mal. Er sollte nach langem Hin und Her auch noch dafür befördert werden, daß die AfD von der Spitze des Inlandsgeheimdienstes beraten wurde, wie sie sich am besten als Wolf im Schafspelz präsentieren kann. Als mit der AfD sympathisierender Unionspolitiker in der Wolle braun gefärbt, kann dieser Karrierebeamte als Musterbeispiel dafür gelten, warum die Umtriebe von Gruppierungen, die Bürgerkrieg und Umsturz planen, auf die ganz leichte Schulter genommen werden. Derweil werden türkischen KommunistInnen und kurdische AktivistInnen in Deutschland nach dem Gesinnungstrafrecht 129 b in politischen Prozessen zu jahrelangen Freiheitstrafen verurteilt, und auch sonst steht man auf gutem Fuß mit islamistischen Mordschergen, wenn sie nur im Regierungsauftrag Ankaras unterwegs sind.

Was haben PolitikerInnen, die sich heute fassungslos geben, daß die jüdische Gemeinde in Halle nur haarscharf einem Massaker entkommen ist, eigentlich die letzten Jahre gemacht, als sich bei den terroristischen Anschlägen rechtsradikaler Täter in Norwegen, Neuseeland und den USA ein Muster rassistischer, antimuslimischer und antisemitischer Mordtaten etablierte? Sie hielten den Blick stramm auf nichtdeutsche und nichtweiße DemonstrantInnen gerichtet, um dort durchaus vernehmbare antisemitische Parolen zu einem undifferenzierten Ressentiment gegen MigrantInnen aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zu verallgemeinern, anstatt deren UrheberInnen konkret ermitteln zu lassen. Sie knöpften sich linke PolitikerInnen vor, die die Regierung Israels kritisierten, und instrumentalisierten den Schwur "Niemals wieder" als Waffe im parteipolitischen Kampf. Sie verharmlosten lebensgefährliche Anschläge deutscher Ausländerfeinde auf Asylantenheime als Ausdruck eines bürgerlichen Mißmutes, gegen den nur das Mittel rechtspopulistischer Maßnahmen helfe.

Bis heute will man die Aufrüstung der extremen Rechten zur veritablen Bürgerkriegsarmee nicht wirklich wahrhaben, wie der Anschlag auf den CDU-Politiker Walter Lübcke vor vier Monaten und seine Aufarbeitung in dem von sinistren Umtrieben rund um den Kasseler NSU-Mord an Halit Yozgat 2006 ohnehin belasteten hessischen Politikbetrieb belegt. Die UrheberInnen der Morddrohungen, die im Netz jahrelang gegen Lübcke verbreitet wurden, hat man nicht ermittelt, ja, sie wurden lange Zeit nicht einmal gelöscht. Der Blog, der Lübckes Büro- und Privatadresse veröffentlichte, obwohl an gleicher Stelle Gewaltfantasien und Mordaufrufe gepostet wurden, ist bis heute aktiv.

Wie überall auf der Welt ist auch in der Bundesrepublik die faschistische Mobilisierung im Zweifelsfall ein Aktivposten derjenigen, die souverän sind, weil sie den Notstand erklären können. Dazu bedarf es mordlustiger Fußtruppen, die alle Erinnerungsarbeit an der Shoah und anderen NS-Verbrechen zu einem müßigen Unterfangen machen, wenn doch wieder JüdInnen um ihr Leben fürchten oder ihre Identität verbergen müssen, wenn sie auf der Straße keinen gefährlichen Attacken ausgesetzt sein wollen. Die nun im Dutzend geleisteten Betroffenheitsbekundungen und Bekenntnisse, daß in Zukunft alles anders wird, sind die Aufmerksamkeit nicht wert, die auf sie verschwendet wird, wenn die sozialen Ursachen rassistischer und antisemitischer Feindseligkeit nicht überwunden werden. Das hat heute wie vor 1933 nicht wenig damit zu tun, daß immer schärfer artikulierte Klassenwidersprüche in Kauf genommen werden, um sie im herrschaftstechnischen Sinne für die Ermächtigung zu massiver Repression und zum politischen Ausnahmezustand zu verwerten.

11. Oktober 2019


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