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HERRSCHAFT/1835: Istanbul - der Anfang vom Ende ... (SB)



Ich glaube, der Wähler von Istanbul wird die beste Entscheidung für Istanbul treffen.
Recep Tayyip Erdogan nach Abgabe seiner Stimme vor Anhängern [1]

Wird man sich später an die Wahl in Istanbul als eine Weichenstellung erinnern, die den letztendlichen Sturz des Regimes eingeleitet hat? Ob dies wirklich der Anfang vom Ende der despotischen Herrschaft Erdogans war, wie derzeit allenthalben zu hören ist, kann weder eine Frage bloßer Hoffnung noch schicksalsergebener Beschwörungen sein. Ein Anfang wäre es, sofern die Hände nicht nach getaner Tat in den Schoß gelegt werden, sondern in Angriff nehmen, was als noch schwererer Brocken aus dem Weg zu wälzen ist. Da der Machthaber die Unterminierung seiner Festung fürchten muß, wird er um so größere Geschütze auffahren, den Anfängen zu wehren. Mag sein, daß er den Gegenwind unterschätzt und sich in der Wahl seiner Mittel vergriffen hat. Doch das bedeutet nicht, daß er sein Pulver verschossen hätte. Er hat in der Vergangenheit ein ums andere Mal demonstriert, wozu er fähig ist, und seine Gegner mit machiavellistischen Winkelzügen wie auch brachialer Gewalt überrascht. Wenngleich er weder unbesiegbar noch ein strategisches Genie ist, das seinen unaufhaltsamen Aufstieg von langer Hand und in allen Einzelheiten vorgeplant hätte, zeichnet ihn doch ein höchst aggressives Gespür dafür aus, in allen Windungen und Wendungen nie seinen Machtzuwachs aus dem Blick zu verlieren. Denn zurück kann er längst nicht mehr, müßte er sich doch für seine zahllosen Machenschaften verantworten.

Daß der Bann gebrochen und das Regime mit dem Verlust fast aller großen Städte und insbesondere Istanbuls nach mehr als 16 Jahren unablässigen Aufstiegs erstmals einen gravierenden Rückschlag hinnehmen muß, ist auf mehrere Gründe zurückzuführen. Die türkische Wirtschaft rutscht immer tiefer in die Krise, so daß die AKP ihr wichtigstes Versprechen, der Bevölkerung wachsenden Wohlstand zu garantieren, nicht einmal mehr ansatzweise in die Tat umsetzen kann. Die hohe Auslandsverschuldung wächst sich angesichts eines dramatischen Währungsverfalls zu einer gewaltigen Bürde aus, welche die türkische Ökonomie dicht an den Rand des vollständigen Absturzes gedrückt hat. Auch im Falle der Türkei ist die vermeintliche Zauberformel der Schwellenländer, das Produktivitätsgefälle zu den führenden Industriestaaten ließe sich kompensieren und krisenfest überbrücken, zum Scheitern verurteilt.

Die Opposition ist erstmals weitgehend geschlossen aufgetreten, was insbesondere dem Verzicht der HDP zu verdanken war, in den großen Städten auf eigene Kandidaturen zu verzichten und die aussichtsreichsten Bewerber der CHP zu unterstützen. In Istanbul haben die gut 15 Prozent kurdischstämmigen Wählerinnen und Wähler den Ausschlag zugunsten Ekrem Imamoglus gegeben. Sie folgten der Einschätzung des HDP-Vorsitzenden Sezai Temellis, daß es vordringlich darum gehe, "den Faschismus zurückzudrängen". Erdogan war sich der Bedeutung des kurdischen Votums bewußt und hatte als Wahlkampfhilfe den konservativen Präsidenten der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Nechirvan Barzani, nach Istanbul eingeladen. War die Lockerung der Kontaktsperre Abdullah Öcalans seit Anfang des Jahres offensichtlich ein Manöver des Regimes, kurdische Stimmen abspenstig zu machen, so legte die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu unmittelbar vor dem aktuellen Wahlgang mit einem Schreiben des seit 20 Jahren inhaftierten Gründers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nach. Darin rief Öcalan die HDP zur Neutralität gegenüber dem Regierungs- wie dem Oppositionslager bei der Wahl auf. Erdogan interpretierte dies als Aufruf zum Wahlboykott, während Öcalan vielmehr betonte, daß die HDP "weiter ihren eigenen Weg gehen und ihre eigenen Entscheidungen treffen" müsse, nicht aber die taktische Wahlentscheidung in Frage stellte. [2]

Erdogan hatte bereits in der Vergangenheit dringend benötigte kurdische Stimmen vereinnahmt, indem er einen Friedensprozeß in Aussicht stellte. Mit dem Aufstieg der HDP konfrontiert, leitete er eine Kehrtwende ein und überzog diese Partei wie auch die kurdischen Regionen im Südosten des Landes mit massiver Repression, die wiederum der Auftakt zum Angriffskrieg gegen die kurdischen Kantone in Nordsyrien wie auch die PKK im Nordirak war. Seither greifen die Spaltungsversuche des Präsidenten nicht mehr in dem von ihm erhofften Maße. Die Strategie der HDP, eine Art Volksfront gegen das Regime zu schmieden, ist fürs erste aufgegangen. Man darf darüber jedoch nicht vergessen, daß den Kemalisten das kurdische Streben nach Autonomie stets ein Dorn im Auge war. Auch hatte die CHP im Parlament für die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten und den Krieg gegen den kurdischen Kanton Afrin in Nordsyrien gestimmt. Daher trifft Öcalans Rat durchaus den Kern, wenn er die strategische Notwendigkeit für die HDP betont, ihre Unabhängigkeit zu wahren und einen eigenständigen dritten Weg einzuschlagen. So wichtig die weitere Zusammenarbeit mit der CHP sein mag, um die möglichen Früchte des Wahlsiegs nicht preiszugeben, darf sich die HDP nicht dafür vereinnahmen lassen, als bloßer Steigbügelhalter der Kemalisten bei deren sukzessiver Rückkehr an die Spitzenplätze der politischen Bühne zu fungieren.

Mit dem 49jährigen Imamoglu konnte die CHP erstmals seit Jahren wieder eine Führungsfigur ins Rennen schicken, die bei vielen Menschen sehr gut ankam und sie begeisterte. In einer zutiefst polarisierten und unter bleierner Schwere staatlicher Repression leidenden Gesellschaft glich diese Botschaft des Miteinanders der Menschen in Kontrast zu den Drohungen und Bezichtigungen Erdogans einem befreienden Fanal, daß ein Kurswechsel möglich sei. Imamoglu brachte Linke, Kurden und auch konservative Wähler hinter sich. Selbst AKP-Stammwähler müssen zu ihm übergelaufen sein, anders ist sein beträchtlicher Stimmenvorsprung nicht zu erklären, da die Wahlbeteiligung in etwa so hoch wie bei der regulären Wahl im März war.

Dabei hatte Erdogan wenig unversucht gelassen, Imamoglu zu diskreditieren und zu bedrohen. Unter Verweis auf seine Herkunft von der Schwarzmeerküste, an der früher viele Griechen gelebt hatten, bezeichnete ihn die regierungsnahe Presse als ethnischen Griechen, der eine Marionette Athens sei. Auch wurde ihm unterstellt, er wolle die Moscheen abschaffen, den Frauen das Kopftuch verbieten und habe während des Fastenmonats heimlich Wasser getrunken. Als die AKP in den Umfragen deutlich zurücklag und Binali Yildirim nicht in der Lage schien, diesen Trend umzudrehen, hatte sich der Präsident zuletzt wieder persönlich mit heftigen Angriffen auf Imamoglu in den Wahlkampf eingeschaltet. Dieser werde von "Terroristen" unterstützt, warf er ihm vor, weil die HDP zu seiner Wahl aufgerufen hatte. Außerdem habe er den Gouverneur von Ordu beleidigt, wofür er sich noch vor Gericht verantworten müsse. Sollte Imamoglu die Wahl gewinnen, müsse er deshalb mit einem Amtsenthebungsverfahren rechnen.

Nach dem erdrutschartigen Wahlsieg Imamoglus war davon zumindest fürs erste keine Rede mehr, was bedeuten könnte, daß das Regime vorerst jedes weitere Eigentor vermeiden möchte, nachdem die erzwungene Wahlwiederholung für die AKP derart nach hinten losgegangen ist. Das heißt jedoch keinesfalls, daß Erdogan nicht längst Pläne schmiedet, wie er den neuen Bürgermeister Istanbuls schwächen und die Macht im Land konsolidieren könnte. Wenngleich Imamoglu angekündigt hat, er werde die korrupten Netzwerke der AKP offenlegen und beseitigen, ist ungewiß, in welchem Ausmaß er tatsächlich willens und in der Lage ist, dieses Vorhaben umzusetzen. Die AKP verfügt über eine Mehrheit im Stadtrat und wird ihm zweifellos Steine in den Weg legen. Vor allem aber bringt Imamoglu nicht nur die Regierungspartei gegen sich auf, sondern legt sich auch mit Teilen der Wirtschaftseliten in der Metropole an, die von Erdogan protegiert wurden.

Für Erdogan war die Kontrolle Istanbuls stets essentiell für seinen Machterhalt. In der mit rund 16 Millionen Einwohnern weitaus größten Stadt des Landes leben fast 20 Prozent der gesamten türkischen Bevölkerung. Die Wirtschaftsmetropole generiert 40 Prozent des türkischen Steueraufkommens und hat einen Milliardenhaushalt. Mit diesem Geld hat der Präsident seine Anhänger bezahlt, in Istanbul konnte er seinen bevorzugten Unternehmern insbesondere der Bauwirtschaft die größten Aufträge zuschieben. Ohne Istanbul würde Erdogan seine wichtigste Geldquelle verlieren. Darüber hinaus könnte eine neue Administration offenlegen, auf welche Weise er sich und seinen Familienclan bereichert und Netzwerke der Korruption etabliert hat. Sein Aufstieg zur Macht im despotischen Präsidialregime war nur möglich, weil er durch eine Umstrukturierung im Gefüge der Kapitalfraktionen maßgebliche Teile der teils neuen Wirtschaftseliten an sich band. Der eigentliche Stich ins Wespennest steht Imamoglu also erst noch bevor. Die AKP wird weiterhin versuchen, ihn entweder zu Fall zu bringen oder wirksam zu neutralisieren. Viel hängt indessen davon ab, wie weit er als Kandidat einer bürgerlichen und staatstragenden Partei zu gehen bereit ist, welche die herrschende Gesellschaftsordnung nicht in Frage stellt, sondern lediglich einen Politikwechsel hin zu einem moderateren und liberaleren Kurs herbeiführen möchte.

Wahlbeobachter sprechen von einem regulären Verlauf, Zwischenfälle im Umfeld blieben offenbar aus, die Stimmung in der Stadt war turbulent, aber friedlich. Als der unterlegene AKP-Kandidat bei seiner Gratulation an den Sieger erklärte, die Abstimmung zeige, daß die türkische Demokratie ohne Probleme funktioniere, kann man das jedoch keinesfalls unterschreiben. Selahattin Demirtas und viele weitere Abgeordnete der HDP sitzen seit Jahren im Gefängnis, im Südosten des Landes wurde die HDP in vielen Kommunen um ihren Wahlsieg betrogen. Dort werden die Menschenrechte brutal mit Füßen getreten, von einem friedlichen Übergang kann keine Rede sein. Landesweit ist die Presse weitgehend gleichgeschaltet, die Institutionen des Staatsapparats, des Justizsystems und des Bildungswesens sind zu Instrumenten des Regimes deformiert worden. [3] Daran hat der Wahlsieg der Opposition in Istanbul nichts geändert, der Erdogan zwingen mag, womöglich sogar Kreide zu fressen, um an dieser Front nicht noch mehr Porzellan zu eigenen Lasten zu zerschlagen. Aufs ganze Land gesehen weiß er nach wie vor die Hälfte der Bevölkerung hinter sich und wird im Zweifelsfall eher die nationalistische Karte des Krieges in Syrien ziehen oder eine weitere Repressionswelle lostreten, als in Folge einer fehlgeschlagenen Wahlmanipulation die Felle beim Urnengang wegschwimmen zu lassen.


Fußnoten:

[1] www.handelsblatt.com/politik/international/tuerkei-oppositionskandidat-siegt-bei-buergermeisterwahl-in-istanbul/24485384.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/357271.türkei-kampf-um-istanbul.html

[3] www.deutschlandfunk.de/cem-oezdemir-wir-sind-in-der-nachspielzeit-der-aera-erdogan.694.de.html

24. Juni 2019


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