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HERRSCHAFT/1825: Istanbul - Autokratie marsch ... (SB)



Erdogan steht massiv unter Druck und wird auch in Zukunft Fehler machen, die seinen Sturz beschleunigen werden. Der Hungerstreik und die Proteste nach den Wahlen sowie der Druck einiger anderer Staaten führen zu panischen Reaktionen des Diktators. #HerseycokGuzelOIacak
Cansu Özdemir (Vorsitzende der Linksfraktion in Hamburg)

Mit der Annullierung der Kommunalwahl in Istanbul hat Recep Tayyip Erdogan seiner jahrelang erfolgreich praktizierten Strategie des Teilens und Herrschens einen Bärendienst erwiesen. Gelang es ihm in der Vergangenheit immer wieder, die Opposition gegen seine Machtübernahme zu spalten, so hat sein jüngster Willkürakt einen regelrechten Dammbruch in der Türkei herbeigeführt. Allenthalben erhebt der unter dem Präsidialregime geknebelte Widerstand seine Stimme und schließt sich zu einem Bündnis aller Bestrebungen zusammen, die der drängende Wunsch eint, die autokratische Herrschaft zu schwächen und letztendlich zu brechen. Eben weil dies der Anfang vom Ende seines mit brachialsten Machenschaften erzwungenen Aufstiegs sein könnte, dem ein Absturz ins Bodenlose folgen würde, wird Erdogan nichts unversucht lassen, die Gegenwehr aus dem Feld zu schlagen. Im Lichte des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung, der Massenverhaftungen, einer ins Gefängnis gesteckten Führung der HDP wie auch zahlreicher weiterer repressiver Gewaltakte der AKP/MHP-Regierung steht zu befürchten, daß der Präsident auch nicht davor zurückschrecken würde, im Falle erstarkenden Protests Panzer durch die Straßen Istanbuls rollen zu lassen.

Der Aufwind der Opposition verdankt sich eines Zusammenwirkens von Umständen, die einander nun gegenseitig verstärken und lange im Zaum gehaltenen Unmut freisetzen. Die anhaltende Talfahrt der Wirtschaft schlägt längst auf die Lebensverhältnisse vieler Menschen durch, die den Gürtel buchstäblich enger schnallen müssen. Das Wachstum ist rückläufig, der Wert der Landeswährung Lira ist abermals auf den Tiefststand vom November 2018 gefallen und die Inflation bleibt hoch bei gut 20 Prozent. Zudem ist der Ansatz, die politischen Gegner durch die Wahlwiederholung zu entmutigen, ins Gegenteil umgeschlagen. Der abgesetzte Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der CHP wurde zur Galionsfigur der Opposition und seine Losung "Alles wird gut" (Her sey güzel olacak) ist das allenthalben zitierte Fanal des Aufbruchs. Auch ist der Versuch fehlgeschlagen, die kurdische Wählerschaft zu separieren, indem erstmals seit 2011 wieder ein Anwaltsbesuch bei dem in Isolationshaft festgehaltenen Abdullah Öcalan gestattet wurde. Alle Parteien außer der AKP und MHP bis hin zu kleinen Fraktionen wollen zum 23. Juni für Imamoglu mobilisieren, der beste Aussichten hat, im zweiten Anlauf noch deutlich mehr Stimmen auf sich zu vereinen. Und nicht zuletzt wird in zahlreichen Stadtteilen der Metropole wieder kräftig auf Töpfe und Pfannen geschlagen, regt sich überwiegend junger Protest auf der Straße, der den Gezi-Park des Sommers 2013 mehr als nur ins Gedächtnis ruft. [1]

Im Streit um die Kommunalwahl von Istanbul legt sich Erdogan nun auch mit der türkischen Wirtschaft an. Die Unternehmervereinigung TÜSIAD hatte die Annullierung der Wahl mit den Worten kritisiert, die Rückkehr zum Wahlkampf sei "besorgniserregend" in einer "Zeit, in der man sich auf wirtschaftliche und demokratische Reformen konzentrieren müsse". Der Staatspräsident reagierte darauf mit einer unverhohlenen Drohung, indem er vor AKP-Funktionären erklärte, der Verband "gehe zu weit" und mache einen "Fehler": "Seid ihr Unternehmer? Dann macht eure Arbeit. Wenn ihr euch in den Wahlkampf einmischt, dann wissen wir wo ihr steht. Und das sorgt dafür, dass wir ab jetzt anders auf euch schauen werden." [2] Erdogans Maxime, jedem seinen Willen aufzuzwingen, als folge selbst die Ökonomie seinen Befehlen, könnte sich auch an dieser Flanke als Eigentor erweisen. Daß der Machthaber in dieser Situation auf Konfrontationskurs mit der Unternehmerschaft geht, um sich im weitaus wichtigsten Wirtschaftszentrum des Landes mit harten Bandagen durchzusetzen, zeugt von einer Engführung seines Handlungsspektrums, das nur noch den gewaltsamen Bruch aller Widerstände zu kennen scheint.

Ekrem Imamoglu geht souverän mit den Tiraden und Provokationen Erdogans um, die er ins Leere laufen läßt. In deutlichem Kontrast zu dessen Ausbrüchen präsentiert er sich als angenehm moderater Politiker und gibt sich doch kämpferisch, während er zugleich betont, nicht der Kandidat der CHP, sondern "ein Kandidat für alle 16 Millionen Istanbuler" zu sein. Er schmiedet ein breites Bündnis der Opposition und hat auch in den Trends der sozialen Medien die Nase vorn. "Was wir jetzt machen, ist ein Kampf für Demokratie und eine Mobilisierung für Demokratie", sagte er der Nachrichtenagentur AFP. "Das wird natürlich eine Revolution sein, sobald wir es zu Ende führen", fügte er hinzu. Mit gutem Gespür für öffentlichkeitswirksame Schlaglichter hat er bei der Hohen Wahlkommission beantragt, die Präsidentschaftswahlen von 2018 für ungültig zu erklären. Er führt dabei dieselben Argumente an, mit denen die AKP die Istanbuler Wahlen für ungültig erklären ließ, nämlich daß nicht alle Helfer an den Wahlurnen Staatsbedienstete gewesen seien, wie es die Vorschriften vorsähen. Wenngleich dem Antrag sicher nicht stattgegeben wird, führt er doch die doppelzüngige Vorgehensweise des AKP-Regimes anschaulich vor Augen.

Die kemalistische CHP stand in Tradition des Partei- und Staatsgründers Atatürk als säkulare Partei stets für die strikte Trennung von Staat und Religion. Ekrem Imamoglu bekennt sich jedoch ausdrücklich zum islamischen Glauben und ist daher für viele Menschen wählbar, die bislang aus solchen Gründen nur Erdogan ihre Stimme gegeben haben. Derzeit ist ein kurzes Selfie-Video der Renner in der Türkei, das zwei Frauen mit Kopftuch und zwei Männer vor der Kaaba in Mekka zeigt. Der eine Mann sagt auf Türkisch: "Mein Führer Ekrem, wir beten für dich. So wahr Gott will, wird alles wieder gut werden." Die anderen wiederholen nacheinander: "Inschallah!" - so wahr Gott will. Innerhalb von zehn Stunden sahen fast 700.000 Menschen das Kurzvideo. Auch prominente Künstler solidarisieren sich mit der Opposition, darunter auch der berühmte Musiker Tarkan. Er schrieb seinen 3,5 Millionen Twitter-Followern, er habe die ganze Nacht nicht schlafen können. "Doch dann bin ich aufgestanden und habe verstanden: AllesWirdGut." [3]

Wie immer in brenzligen Lagen versucht Erdogan, einen unerwarteten Trumpf aus dem Ärmel zu ziehen. Daß die Annullierung der Wahl zum Beginn des Ramadan verkündet wurde und die Neuwahl auf den 23. Juni gelegt wurde, kann kein Zufall sein. An diesem Tag brechen viele Istanbuler, die es sich leisten können, in Richtung Meer und zum Sommerurlaub auf. Zurück bleiben jene Bevölkerungsteile, die der Präsident eher zu seiner Klientel rechnen kann. Um die Menschen dennoch massenhaft zur Wahl zu bewegen, zeigten sich die Anhänger der CHP ungewöhnlich kreativ. So gab etwa die Stadtverwaltung des Badeorts Bodrum eine Unwetterwarnung heraus: "Liebe Istanbuler, für den 23. Juni ist in Bodrum schwerer Schneefall vorhergesagt. Alle unsere Strände werden geschlossen sein. Wir empfehlen euch, an diesem Tag die Sonne in Istanbul zu genießen." Andere Küstenorte warnten vor "Temperaturen bis zu 150 Grad und einer 90prozentigen Luftfeuchtigkeit". Nach Angaben von Reisebüros sind fast alle Reservierungen aus Istanbul für das Wochenende des 23. Juni storniert worden, und Fluggesellschaften wie Turkish Airlines bieten Passagieren, die am Wahltag in Istanbul bleiben, eine kostenlose Erstattung ihrer Flugtickets an. Auch in diesem Fall scheint sich eine taktische Finte Erdogans in einen Konter zu seinen Lasten verwandelt zu haben. [4]

Unterdessen brodelt es selbst in AKP. Der frühere Premierminister Ahmet Davutoglu kritisierte das Verhalten der Regierung und der Wahlbehörde: "Trotz aller Defizite der türkischen Demokratie ist die Legitimität der Wahlen die stärkste Kraft im Land." Der fundamentale Wert türkischer Politik basiere darauf, daß der Wähler das letzte Wort habe. "Die Annullierung des Wahlergebnisses vom 31. März hat zur Zerstörung dieser Kernwerte geführt." Auch AKP-Mitgründer und Ex-Präsident Abdullah Gül übte Kritik, indem er etwas verklausuliert auf Twitter erklärte, er habe das Gefühl, eine "andere oberste Instanz" habe anstelle des Hohen Wahlrats entschieden. Schon länger kursieren Gerüchte, daß die beiden namhaften Abweichler eine neue Partei gründen wollen.

Wie Pervin Buldan, die Co-Vorsitzende der HDP, betont, würde ein Boykott der Neuwahl, wie er derzeit auch diskutiert wird, nur Präsident Erdogan nützen. Ihre Partei unterstütze nach wie vor Imamoglu, der auch im zweiten Anlauf gewinnen werde. Da die AKP und Erdogan zunehmend Macht einbüßten, werde der Präsident jedoch alles daransetzen, bei der Neuwahl in Istanbul die Oberhand zu behalten: "Wir erwarten nicht, dass es eine faire, transparente und demokratische Wahl sein wird." [5]


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Neuwahlen-in-Istanbul-Erdogans-groesster-Fehler-4418032.html

[2] www.merkur.de/politik/tuerkei-erdogan-droht-wirtschaft-nach-istanbul-wahl-revolution-angekuendigt-news-zr-12258500.html

[3] www.handelsblatt.com/politik/international/analyse-in-der-tuerkei-sammelt-sich-ein-breites-buendnis-gegen-erdogans-akp/24316048.html

[4] www.focus.de/politik/ausland/wiederholung-der-buergermeisterwahl-um-erdogan-eins-auszuwischen-stornieren-tausende-tuerken-ihren-urlaub_id_10688327.html

[5] www.welt.de/politik/ausland/article193229441/Kurden-Politikerin-Buldan-Erdogan-verliert-zunehmend-an-Macht.html

10. Mai 2019


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