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HERRSCHAFT/1752: Martin Schulz - Heilsbringer mit beschränkter Halbwertzeit (SB)



Wer Fußballergebnisse und Lottozahlen, Konsumklimaindexe und Sonntagsfragen mangels handfester Anhaltspunkte für bessere Zeiten mit seinem eigenen Wohl und Wehe verwechselt, mag den fiktiven prozentualen Zugewinn der SPD dank Martin Schulz bedeutungsschwer goutieren. Als Hoffnungsträger und Heilsbringer, Mann aus dem Volk und Aufsteiger aus eigener Kraft, Kandidaten mit Charisma, der Deutschland im Sturm erobert, bestaunt und verklärt, hat "Sankt Martin" seine Partei in einen Rausch versetzt und die Kommentatoren euphorisiert. Schenkt man den Demoskopen Glauben, die den Leuten erzählen, was sie gerade fühlen und wollen, zögen sie Schulz als Kanzler Angela Merkel vor, würde dieser Posten in einer direkten Wahl vergeben. Den Sozialdemokraten hat er auf Anhieb den höchsten Beliebtheitswert der laufenden Legislaturperiode beschert und wenn er selbstbewußt verkündet, er wolle sie bei der Bundestagswahl im September zur stärksten Kraft machen und Kanzler werden, jubeln sie ihm unter Ausblendung einfachster Rechenkünste elektrisiert zu. Selbst in Unionskreisen, so heißt es, sei man perplex und lobe den genialen Schachzug der Konkurrenz hinter vorgehaltener Hand.

Vom Wellenschlag der Medien auf die Schaumkrone höchster Wogen geschleudert, beutet Schulz das kurze Gedächtnis des Wahlvolks weidlich aus. War er hierzulande noch vor wenigen Monaten für das Gros vorverdaute Meinungen schlingender Konsumenten eher ein unbeschriebenes Blatt, profitiert er nun von dem Mißverständnis, er komme aus "Europa" nach Hause, um unverdorben vom hiesigen Politzirkus gründlich auszumisten. Offenbar wünschen sich viele Deutsche nach zwölf Jahren Merkel einen Wechsel, ihre Beliebtheit in der Bevölkerung hat gelitten, selbst intern ist ihr Zuspruch nicht allzu groß. Ein Teil der Union fremdelt noch immer mit ihrer Flüchtlingspolitik, und die CSU ließ sich lange bitten, sie als Spitzenkandidatin zu akzeptieren. In diese Gemengelage fegt Schulz wie ein frischer Wind hinein und heizt die Aufbruchstimmung an.

Man muß nicht das unsägliche Motto Barack Obamas zitieren, der den Wechsel bar jeden Inhalts als Evangelium vorgegaukelter Selbstermächtigung gepredigt hat. Wir können wechseln - von einer Partei der herrschenden Verhältnisse zur anderen und wieder zurück - darin erschöpft sich der politische Wille der Wählerschaft und vom Volk ausgegangene Macht. Wenn Martin Schulz die Lage im Lande geißelt und sich soziale Gerechtigkeit als Leitmotiv auf die Fahne geschrieben hat, sucht er den Eindruck zu erwecken, er habe mit diesen Verhältnissen nichts zu tun. Wie von der Großen Koalition unbelastet, hausiert er mit Emotionen und setzt Signale des Ausbruchs aus der Alternativlosigkeit: Da es nicht so bleiben kann, muß jemand her, der es ändert. Wo man bei Gabriel eingeschlafen sei, begeistere Schulz die Genossen, da er ein feuriger Redner und Mann klarer Worte sei, loben die Kommentatoren - wer wollte da noch auf die Goldwaage legen, was er konkret gesagt oder tunlichst ausgespart hat!

Aus einfachen Verhältnissen aufgestiegen, ist Schulz ein Sozialdemokrat aus dem Bilderbuch vergangener Tage. Fußballer, Schulabbrecher, Buchhändler, Bürgermeister, EU-Parlamentspräsident - punktet er im Wahlkampf mit seiner bodenständigen Biographie. Sein erster Parteiauftritt außerhalb des Willy-Brandt-Hauses führte ihn von Wanne-Eickel bis Herne mitten durchs heimische Ruhrgebiet, wo er von den Genossinnen und Genossen begeistert empfangen wurde: Er ist einer von uns! Und diese Klaviatur weiß der Wahlkämpfer zu spielen:

Mein Gott noch mal, was ich mir da alles anhören muss. Ich hätte kein Abitur. Stimmt, ich hab kein Abitur. Muss ich zugeben. Ich käme aus Würselen. Ja, stimmt. Und die Sorge und Nöte meiner Nachbarn, die kenne ich vielleicht besser, als manch einer, der im Feuilleton über meinen Bildungsstandard herzieht. [1]

Die Frage, ob ein Politiker, der in die höchsten Ränge der EU aufgestiegen ist und dort seit Jahren in einflußreicher Position mitmischt, nicht womöglich die Klasse gewechselt hat, um es einmal ganz traditionell auszudrücken, kommt Sozialdemokraten der Basis offenbar nicht in den Sinn. Wie denn auch, würde es doch die Behauptung des Kanzlerkandidaten, er wolle Politik für die hart arbeitenden Menschen in diesem Land machen, gehörig konterkarieren.

Man könnte an dieser Stelle natürlich auch einwenden, daß Schulz die zwangsweise nichtarbeitenden Menschen ebenso unerwähnt läßt wie dezidierte Inhalte seiner sozialen Gerechtigkeit, die ja irgendwie an der Eigentums- oder wenigstens der Besitzstandsfrage rühren müßte. Auch von ökologischen Herausforderungen hat man aus seinem Munde noch nichts gehört, doch das kann ja alles noch kommen, da er, von höchster Warte herabgestiegen, sich in die Details der Innen- und Umweltpolitik erst noch einarbeiten muß, wie allenthalben zu hören ist. Außerdem platzen ambitionierte Seifenblasen gerade im Wahlkampf allzu leicht, sobald man in die Fettnäpfchen des Konkreten tritt.

Weiß irgend jemand, was Martin Schulz vorhat, außer natürlich, daß er Bundeskanzler werden will? Vielleicht hilft ja an dieser Stelle ein Blick in die Vergangenheit weiter: Auf europäischer Ebene war er nicht gerade ein Bannerträger sozialer Politik und die finanzjonglierenden Machenschaften führender Akteure vom Schlage Jean-Claude Junckers, der ihn als einen Freund bezeichnet, hat er mitgetragen. Saß die SPD nicht mit in der Regierung, als eben diese Zustände herbeigeführt wurden, als deren Kritiker Schulz heute Wahlkampf macht? Und gehört er selbst nicht seit 1999 dem Vorstand seiner Partei an, für deren Kurs er demzufolge maßgeblich mitverantwortlich ist? Man könne nicht das Haus anzünden und dann sagen, ich bin Feuerwehrmann, wie es Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag, jüngst im Deutschlandradio Kultur mit Blick auf den Kanzlerkandidaten der SPD ausgedrückt hat. [2]

Im Grunde genommen kann man das Feuerwerk ganz gelassen abwettern, bis die beschränkte Halbwertzeit des Heilsbringers offenkundig wird. Die Grundsatzfrage ist ohnehin eine andere und längst beantwortet: Sozialdemokraten waren für die Kriegsbeteiligung der Bundeswehr, für Agenda 2010 und Hartz IV, das deutsche Erfolgsmodell der Ausbeutung nach innen und außen, nicht nur mitverantwortlich, sondern gemeinsam mit den Grünen deren kreative Schöpfer, als die konservativen Beharrungskräfte den sogenannten Reformstau auflaufen ließen. Was sollte man anderes von einem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten erwarten, als den Kessel der Hoffnung zu brauen und die Suppe sozialer und anderer Grausamkeiten zu servieren?


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/schulz-in-nrw-kein-abitur-dafuer-viel-fussball.1773.de.html?d

[2] http://www.deutschlandradiokultur.de/dietmar-bartsch-ueber-martin-schulz-fuer-die-spd-ist-schulz.1008.de.html

3. Februar 2017


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