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HERRSCHAFT/1706: Wir seifen ein ... Sarrazin läßt grüßen (SB)




Die in der SPD geführte Debatte über die Anwesenheit Sigmar Gabriels bei einer Veranstaltung mit PEGIDA-Anhängern lenkt davon ab, daß dem rassistischen Tenor, der in den Reihen der "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" vorherrscht, durch die neoliberale Wettbewerbs- und Standortpolitik der SPD mehr entsprochen wird, als es dem Parteivorsitzenden und seiner hauptsächlichen Kritikerin, Generalsekretärin Yasmin Fahimi, lieb sein dürfte. Das geht nicht nur daraus hervor, daß einer der wichtigsten Stichwortgeber der PEGIDA ebenfalls ein SPD-Politiker ist. Thilo Sarrazin hat mit dem Schüren nationalkonservativer Demographieangst und der Forderung nach Ausschluß angeblich unproduktiver Menschen insbesondere nichtwestlicher Herkunft den kulturalistisch verbrämten Rassismus neuer Kreuzritter durch die Verknüpfung von Leistungsprimat und ethnischer Herkunft zum Sozialrassismus erweitert und damit die zentrale Triebkraft des Protestes gegen angebliche Überfremdung offengelegt.

Spätestens seit dem Parteitag 1959 in Bad Godesberg hat die deutsche Sozialdemokratie auch die letzte Erinnerung an ihre klassenkämpferische Herkunft aus ihrem Gedächtnis getilgt und damit auch den Zusammenhang von kapitalistischer Vergesellschaftung und nationalistischer Restauration für irrelevant erklärt. Eine solche Analyse paßte nicht in das Konzept des antikommunistischen Klassenkompromisses, mit dem die Partei Willy Brandts und Herbert Wehners das historische Überleben des bürgerlichen Rechtsstaates und der angeblich sozialen Marktwirtschaft auf eine Weise gewährleistete, die der marktliberalen und nationalkonservativen Konkurrenz aufgrund ihrer bourgeoisen Klientelpolitik nicht möglich gewesen wäre. Heute verträgt sich eine prinzipielle Kapitalismuskritik, die sich nicht an den "Heuschrecken" Franz Münteferings abarbeitet, um den sozialen Burgfrieden gegen die unliebsame Konkurrenz der USA national zu konsolidieren, sondern die das Verhältnis von Kapital und Arbeit auf den erreichten Stand gesellschaftlicher Produktivkräfte anwendet, noch weniger mit den isolierten Lebensverhältnissen der flexibilisierten Arbeitsgesellschaft.

Wo die Marktkonkurrenz alle sozialen Verhältnisse zugunsten der optimalen Verfügbarkeit der Arbeitskraft zerschlägt und die Entfremdung der Menschen von den Produkten ihres Tuns als quasi naturnotwendiges Prinzip der Arbeitsteilung und Geldwirtschaft propagiert, um die soziale Misere schließlich jedem einzelnen als Ergebnis persönlichen Versagens und ungenügender Unterwerfung schuldhaft in Rechnung zu stellen, da bedarf es starker Feindbilder, um den aufkommenden Unwillen beherrschbar und nutzbar zu machen. Sarrazins am Nationaleinkommen orientierte Variante des Kampfes der Kulturen findet ihren sozialfeindlichen Niederschlag in der Bekräftigung des Erfolgsmodells Deutschland durch die Regierungspartei SPD. Wo einst von Ausbeutung und Unterdrückung betroffene Bevölkerungen zur Klassensolidarität gegen das sie beherrschende Besitzbürgertum und dementsprechend autoritär agierende Staatsbürokratien aufgerufen wurden, werden heute Wirtschaftwachstum und Wettbewerbsfähigkeit gegen andere Bevölkerungen in der EU wie darüber hinaus propagiert.

In der Folge werden die europäischen Grenzen gegen unerwünschte Armutsflüchtlinge dicht gemacht, innerhalb der EU werden weniger leistungsfähige Volkswirtschaften unter die Kuratel maßgeblich von der BRD durchgesetzter Spardiktate gestellt, die Bundeswehr wird zum Vollstreckungsorgan deutscher Investitions- und Rohstoffinteressen aufgebaut und imperialistische Kriege werden in ein kulturalistisches Gut-Böse-Schema gepreßt, das die weitere Ermächtigung des staatlichen Gewaltakteurs legitimiert. All das erfreut sich in der SPD zwar nicht ungeteilter, aber weitreichender Zustimmung. Die Verkennung derjenigen Teile der Bevölkerung, die sich wie PEGIDA über die vermeintlichen Lügen der Funktionseliten in Politik und Medien beschweren, liegt weniger darin, daß sie den absichtsvollen Charakter ihrer Beherrschbarkeit erahnen. Sie liegt darin, die materiellen und rechtlichen Grundlagen einer auf Privatbesitz und Lohnarbeit basierenden Gesellschaft nicht in Frage zu stellen. Sie wollen nicht wissen, daß die herrschende, auf Staat, Volk und Territorium errichtete Ordnung die unabdingliche Voraussetzung dafür ist, große Teile der Bevölkerung als "Humankapital" in den Verwertungsprozeß einzuspeisen und diejenigen, die sich nicht genügend nach der Decke der ihnen aufoktroyierten Bringschuld strecken, durch den Entzug essentieller Lebensvoraussetzungen abzustrafen.

So wenig die Masse der PEGIDA-Anhänger ihren Führern bloß hinterherläuft, wie es die in der SPD diskutierte Differenzierung zwischen Anstiftern und Mitläufern nahelegt, so wenig kann sich die Bundesregierung aus der Verantwortung für die offenkundige Konjunktur rechtspopulistischer Bewegungen stehlen. Wie anschlußfähig das Feindbild der PEGIDA zur herrschenden Bezichtigungslogik ist, zeigt allein die auf die Zuständigkeit des Islam verkürzte Debatte um den Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo. In den Agenturen des politischen Krisenmanagements herrscht profundes Interesse am projektiven Übertrag eigener Aggression auf eine monotheistische Religion, die, in der moralischen Tradition des Juden- und Christentums stehend, große Affinität für derartige Manöver aufweist, wie an der Verabsolutierung des Gegensatzes, der zwischen den Verteidigern universaler westlicher Werte und religiös motivierten Terroristen aufgemacht wird.

Würde der sozialen Frage, die die Menschen in aller Welt auf die Barrikaden treibt und anfällig für Sündenböcke aller Art macht, auf den Grund der ihnen genommenen Freiheit gegangen, ihren Lebensunterhalt selbstbestimmt zu organisieren, anstatt die Ware Arbeitskraft verkaufen zu müssen, würde dem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch nationalistischer und rechtsradikaler Ideologien ein wesentliches Element seiner Mobilisierung entzogen. Eine Sozialdemokratie hingegen, die die wettbewerbsorientierte Steigerung des nationalen Produkts und das Zwangsregime Hartz IV zur zwingenden Voraussetzung sozialpolitischer Errungenschaften erhebt, frönt einem sozialdarwinistischen Leistungsprimat, das auch zum kleinen Einmaleins rechtspopulistische Demagogen gehört. Dieser Logik gemäß bedarf es, um überhaupt sozialstaatlich umverteilen zu können, der stetigen Steigerung der Produktivität der Arbeit ebensosehr wie einer überlegenen Nationalstrategie in der globalen Standortkonkurrenz. Was der neoliberalen Marktdoktrin billig ist, ist dem marktwirtschaftlichen Staatsverständnis der SPD recht, so die Grundlinie einer Konformität, die ideologisch im Antikommunismus und in der Ablehnung internationaler Solidarität enden muß.

So sehr der Wunsch, Kontrolle über die eigenen Verhältnisse zu erlangen und sich dabei nicht dem Risiko auszusetzen, vom Strom der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden, den Ruf nach klarer moralischer Orientierung, autoritärer Staatlichkeit und festgefügter Sozialhierarchie laut werden läßt, so sehr kann die Frage danach, wer eigentlich das größte Interesse an der Beherrschbarkeit des Menschen hat, die Emanzipation von jeglicher Unterwerfung beflügeln. Wer in der Regierung eines kapitalistischen und zudem hegemonial erfolgreichen Staates wie der BRD sitzt, kann diese Frage nur bei Strafe des eigenen Niedergangs stellen. Symbolpolitische Gesten, ideologische Winkelzüge und kalkulierte Auftritte können kein Ersatz für den politischen Streit sein, der vor den Untiefen und Abgründen gesellschaftlicher Verfaßtheit nicht zurückschreckt. Eine vor allem den Islam, aber auch kommunistische Parteien und anarchistische Gruppen treffende Feindbildproduktion hilft darüber hinweg, wirklich wichtige, weil grundstürzende Fragen nicht zu stellen.

26. Januar 2015


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