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HERRSCHAFT/1701: Die Spaltung der Ukraine ist vor allem ein Sieg der Oligarchen (SB)




73 Jahre nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 steht das antirussische Ressentiment in voller Blüte. Bar jedes auch nur scheinpädagogischen oder symbolpolitischen Versuchs, die Geschichte dieses Vernichtungskrieges dem erklärten Credo einer friedenspolitischen und wertegestützten Außenpolitik zu unterwerfen und in das Bekenntnis "Niemals wieder!" münden zu lassen, wird das im weißrussischen Brest feierlich begangene Gedenken, wenn überhaupt, dann bestenfalls als weiterer Beleg für russische Propaganda erwähnt. Die mit dem Niedergang der Sowjetunion als Friedensdividende ausgelobte Zukunft friedlicher Koexistenz war niemals ernstgemeint und wurde spätestens mit der kriegerischen Neuordnung Europas auf dem westlichen Balkan ganz offen dementiert. Der ideologische Sieg über den Systemgegner reichte nicht aus, er sollte durch die Einspeisung seines Reichtums in die eigene Akkumulation komplettiert werden, so daß die aggressive Osterweiterung der NATO nicht lange auf sich warten ließ.

Das wurde im Kreml nicht gerne gesehen, doch Boris Jelzin war, wie schon seine Rolle bei der Abwicklung der Sowjetunion zeigte, ein zuverlässiger Partner der neuen Oligarchen, denen die Privatisierung auch der sozialen Hinterlassenschaften der Sowjetunion nicht schnell genug gehen konnte. Die neoliberalen Radikalreformen, mit denen die russische Klassengesellschaft rekonstituiert wurde, eröffnete internationalen Akteuren weitgehende Einflußmöglichkeiten und drängte die politische Zentralgewalt im Kreml in die Defensive.

Dies sollte sich mit dem Jelzin-Nachfolger Wladimir Putin zumindest insofern ändern, als dem Griff der neuen Oligarchen nach der Staatsmacht Grenzen gesetzt wurden. Die mit ihm gesicherte staatsmonopolistische Verfügungsgewalt über die Rohstoffrente setzte einen Kompromiß zwischen Staat und Kapital ins Werk, der dem Kreml trotz der erheblichen strukturellen Probleme der russischen Wirtschaft neue strategische Handlungsmöglichkeiten eröffnete. Eben dies wird Putin in den NATO-Staaten bis heute so übelgenommen, daß sich das antirussische Ressentiment vor allem an seiner Person entzündet.

Daß sich die deutschen Funktionseliten in Politik und Medien dabei Freiheit und Demokratie ans Revers heften, ist nicht minder irrational als die auf das Feindbild eines Funktionsträgers geeichte Personifizierung komplexer politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Austeritätsregime der EU geht mit einem Ausbau des autoritären Sicherheitsstaates und einem Abbau an basisdemokratischen Rechten einher, die sich im Ergebnis kaum von den repressiven Methoden der russischen Staatsgewalt unterscheiden. Was mit der hocheffizienten Sozialkontrolle der digitalen Vergesellschaftung nicht befriedet werden kann, wird auch in Westeuropa mit Polizeiknüppel, Reizgas, Schockgranate und Wasserwerfer am Boden gehalten. Werden in Rußland Minderheiten aufgrund ethnischer Herkunft, sexueller Orientierung oder religiöser Bekenntnisse diskriminiert, so befleißigt man sich in Westeuropa sozialrassistischer Ausgrenzungsmethoden, was nicht heißt, daß der konventionelle, gegen Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten gerichtete Rassismus dadurch gegenstandslos geworden wäre.

Angesichts der weithin unwidersprochenen Durchsetzung herrschender Gewaltverhältnisse um so weniger erstaunlich ist das um die Ukraine entbrannte Szenario einer zwischenimperialistischen Konkurrenz, als deren aggressivsten Akteure die EU und die USA in Erscheinung treten. Die dabei entbrannte Debatte um die Frage, wie faschistisch die Regierung in Kiew ist, kann die Regierungen in der EU und den USA allerdings kaum irritieren. Zur Sicherung des eigenen Einflusses auf die Ukraine eine Allianz mit faschistischen Organisationen einzugehen, dokumentiert schlicht die Bereitschaft, politische Ziele mit Rückgriff auf die bewährten Sturmtruppen eines Nationalismus zu verfolgen, dessen Überwindung im gleichen Atemzug als fortschrittliches Ergebnis einer angeblich postnationalen Europäischen Union gefeiert wird. Das wiederum belegt den großen Nutzen der ideologischen Kontingenz postmoderner Politik, können eventuelle Kritiker doch auf diese Weise wirksam von Fragen mit größerer Sprengkraft abgelenkt werden.

So ist die Bedeutsamkeit der sozialen Frage, die die Menschen in der Ukraine nicht minder umtreibt als die Bevölkerungen der EU und Rußlands, weitgehend in den Hintergrund getreten. Der mit dem Europäischen Assoziierungsabkommen erfolgende Angriff auf die Lebensverhältnisse der ukrainischen Bevölkerung bedarf zwar eines zweiten Anlaufs. Die dabei erfolgte Umetikettierung eines antioligarchischen Aufstands in eine Kampagne für die Annäherung des Landes an die EU ist jedoch für sich gesehen bereits ein Erfolg der neuen Machthaber in Kiew wie ihrer Unterstützer in Brüssel, Berlin und Washington. Indem der nunmehr auf den Osten des Landes begrenzte Aufstand auf einen illegitimen, "prorussischen" Separatismus reduziert und der ukrainische Nationalismus zur neuen Freiheit EU-europäischer Hegemonie überhöht wurde, wurde die Notwendigkeit der sozialen Erhebung wirksam negiert.

Die das Land nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend unabhängig von der neuen Sowjetregierung bestimmende anarchistische Geschichte der Ukraine erinnert daran, daß in diesem von äußeren Akteuren stark beeinflußten und zum Teil brutal beherrschten Land nicht nur nationalistische Formen des Autonomiestrebens virulent sind. Ein breiter Aufstand gegen die Macht der Oligarchen wäre das Worst-Case-Szenario für eine EU gewesen, die es schon 2004 bei der sogenannten orangenen Revolution verstand, sozialen Protest in eine Form des Widerstands gegen die Herrschaft Rußland nahestehender Eliten umzumünzen. Indem die zweite bunte Revolution ganz offen unter dem Etikett "Euromaidan" firmierte, trat jedes sozialrevolutionäre Anliegen notwendigerweise in Opposition zu einer EU, die die soziale Frage in den Augen des Euromaidan reformistisch gelöst hat.

Der dabei laut werdende antirussische Tenor hat in der Ukraine eine lange, antibolschewistische Geschichte, die sich mit neuer Paßform in die antikommunistische Agenda der EU fügt und den Angriff auf die russische Hegemonie mit bewährten Feindbildern auflädt. In der Dämonisierung Putins tritt das EU-europäische Hegemonialstreben praktisch als Spiegel eigener Absichten hervor - was dem russischen Präsidenten an sinistren Zielen eigener Expansionspolitik angelastet wird, wurde durch die exponierte Präsenz EU-europäischer und US-amerikanischer Politiker auf dem Maidan längst übererfüllt.

22. Juni 2014