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HERRSCHAFT/1677: Ermächtigungsgesetz 1933 - Antikommunistische Kontinuitätslinien (SB)




Der lange Schatten des Ermächtigungsgesetzes, mit Hilfe dessen die Nazis am 23. März 1933 die Weimarer Reichsverfassung im Mäntelchen legalistischer Korrektheit außer Kraft setzten, gibt auch 80 Jahre später noch Anlaß zur publizistischen Exkulpation in der BRD wieder zu Amt und Würden gelangter Abgeordneter des damaligen Reichstags. In der vom Deutschen Bundestag herausgegebenen Zeitschrift Das Parlament [1] macht sich der Journalist Heinz Verfürth Gedanken über das Vermögen von Abgeordneten, die Konsequenzen ihrer Entscheidungsbefugnis auch tatsächlich zu überblicken. Daß die Parlamentarier über "milliardenschwere Rettungspakete für Banken und Staaten, militärische Auslandseinsätze der Bundeswehr mit unübersehbaren Implikationen, aufwändige Sozialprogramme ohne Folgeneinschätzung (...) nicht selten unter ungeheurem Zeitdruck" zu befinden hätten, grenze "an menschliche Überforderung". So sehr das in Anbetracht hochkomplexer Gesetzesvorlagen im Einzelfall zutreffen mag, so wenig stimmt es im Grundsatz des Vermögens eigens zum Zweck demokratischer Willensbildung gewählter Parlamentarier, derartigen Anforderungen inhaltlich wie politisch gerecht zu werden.

So erhalten Bundestagsabgeordnete nicht nur eine finanziell und personell umfassende Ausstattung, um sich vor Entscheidungen dieser Art sachkundig zu machen. Es handelt sich zumeist um passionierte Politiker, die zu vielen Themen bereits Positionen erarbeitet haben, die ihr Abstimmungsverhalten weitgehend festlegen. Nimmt man etwa die Positionierung der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke zu Fiskalpakt, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und Hartz IV, so zeigt sich, daß das Problem parlamentarischer Unbestimmtheit weniger eines der unzureichenden Informiertheit oder der Inkompetenz, politische Entwicklungen zu antizipieren, als das eines der Verläßlichkeit und Verbindlichkeit ist, einmal als sozial fortschrittlich und moralisch integer erkannten Prinzipien treu zu bleiben. Nicht umsonst bewähren sich demokratische Grundsätze besonders dann, wenn viele Gründe persönlicher Vorteilsnahme wie gesellschaftlicher Anerkennung gegen ihre Beibehaltung sprechen. Im Konsens herrschaftsförmiger Interessen zu handeln, tut niemandem weh außer den Opfern der damit verfolgten Ziele, denen das Etikett "Politikverdrossenheit" aufgeklebt wird, wenn sie immer wieder erleben müssen, daß sich ihre Wählerstimmen nur sehr bedingt in politische Entscheidungen ummünzen lassen.

So sind Abgeordnete Zwängen der Parteiräson, in die Verfassungsorgane einwirkender Interessen Dritter und ihrer persönlichen Karriereplanung unterworfen, die sich auf eine Art und Weise auf ihre Entscheidungen auswirken, die weniger mit Überforderung als Opportunismus zu tun hat. Ganz deutlich wird dies bei Abstimmungen, in denen eine vermeintliche Staatsräson geltend gemacht wird, die im Kern nichts anderes bezweckt, als die imperialistische Stoßrichtung politischer Manöver mit dem Vollzugsdiktat angeblich unabdinglicher Sachzwänge durchzusetzen.

Doch Heinz Verfürth geht es nicht um die von ihm beklagte Tabuisierung seiner Diagnose von der Überforderung der Parlamentarier. Er bereitet mit dieser Einleitung vielmehr die Ehrenrettung des ersten Präsident der Bundesrepublik, Theodor Heuss, vor, hat dieser doch dem Ermächtigungsgesetz der Nazis als Mitglied der liberalen Deutschen Staatspartei zugestimmt. Verfürth hält Heuss zugute, sich als Bundespräsident frühzeitig und mutig mit dem Eingeständnis einer "Kollektivscham" zu einer kritischen Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit durchgerungen zu haben, was belege, "dass er sich an seinem Gewissen abgearbeitet hat. Die Spannung auszutragen, daraus die Konsequenzen zu ziehen: Darin war die Präsidentschaft von Heuss ein 'Glücksfall' für die junge Bundesrepublik." Er habe sich damit "wesentlich von Konrad Adenauer, dem anderen Protagonisten der Gründerjahre, der mit seinem zupackenden Pragmatismus die Vergangenheit eher auf sich beruhen ließ und so auch manchen Tätern zur Integration in die neue Gesellschaftsordnung verhalf", unterschieden, hält der Journalist Heuss zugute und attestierte ihm mit einem Wort des Publizisten Hermann Rudolph, "'das Beispiel einer gelungenen politischen Existenz'" gegeben zu haben.

So wird unter Verweis auf das größere Übel versucht, das kleinere Übel in ein positives Guthaben zu verwandeln. Heuss wird quasi zum Gegenentwurf eines Bundeskanzlers erklärt, dem die Überantwortung der gerade erst erfolgten Massenvernichtung und Kriegsaggression an das Vergessen nicht schnell genug gehen konnte und der nicht nur für die Durchdringung seines Regierungsapparates mit NS-Tätern verantwortlich zeichnete, sondern, zurückhaltend formuliert, die entschlossene Aufklärung und Verfolgung NS-krimineller Spuren und Hinweise nicht gerade zu seiner persönlichen Angelegenheit gemacht hat. So wird mit leichter Hand relativiert, daß Heuss nur 16 Jahre vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten dem Versuch Adolf Hitlers, auf scheinlegalem Wege die Verfassung außer Kraft zu setzen, indem der Exekutive die Gesetzgebungskompetenz übertragen wurde, stattgab. "Wir verstehen, dass die gegenwärtige Reichsregierung weitgehende Vollmachten verlangt, um ungestört arbeiten zu können", hieß es unter anderem in der Erklärung seiner fünfköpfigen Fraktion, mit der sie ihre Zustimmung zur Vorlage des Gesetzes "zur Behebung der Not von Volk und Reich" begründete.

Zuvor hatte sie bereits eine Änderung der Geschäftsordnung des Reichtags gutgeheißen, die erforderlich geworden war, weil ohne die bereits inhaftierten Abgeordneten der KPD nicht das zur Verabschiedung erforderliche Quorum von Parlamentariern erreicht worden wäre. Das war nicht nur eine Formalie, sondern damit wurde die politische Verfolgung von Abgeordneten des Reichstages durch die anderen Fraktionen bis auf die der SPD gutgeheißen.

Theodor Heuss war alles andere als inhaltlich überfordert, als er die Grundlagen seiner eigenen parlamentarischen Existenz beseitigte. Daß Hitler für Krieg und Unterdrückung, für politische und antisemitische Verfolgung stand, konnte aufgrund seiner Schriften und Reden wie der alltäglichen Praxis der Schlägertrupps von SA und SS gar nicht ignoriert werden. Nicht umsonst zogen zahlreiche oppositionelle und jüdische Bürger zu dieser Zeit die Konsequenz aus dem düsteren Vorschein, der die Zukunft Deutschlands blutrot illuminierte, und verließen das Land fluchtartig. Was die apologetische Aufwertung des ersten Bundespräsidenten aus heutiger Sicht jedoch besonders prekär macht, ist die längst wieder Oberwasser gewinnende Herrschaftslogik, daß krisenhafte Zeiten einer besonders handlungsfähigen Exekutive bedürfen. Ob es um besagte Entscheidungen des Bundestags zu Kriegseinsätzen oder das Krisenmanagement in der Eurozone geht, immer wieder wird in Politik und Medien über ein zu langwieriges Prozedere des Parlaments und angeblich kontraproduktive Positionen der linken Opposition geklagt.

Anstatt sich um das aufgrund personeller und antibolschewistischer Kontinuitätslinien zum NS-Staat beschädigte Ansehen der frühen BRD zu sorgen, wäre es zugunsten des Schutzes demokratischer Werte weit produktiver, sich der die diktatorische Konsequenz bereits vorzeichnenden Argumente und Maßnahmen zu erinnern, mit denen die Weimarer Republik in eine Präsidialdiktatur verwandelt worden war. Die durch das Regieren mit Notverordnungen und Ermächtigungsgesetzen, die es in der Weimarer Republik auch schon zuvor gegeben hatte, damals in Anspruch genommene Logik des Ausnahmezustands hat nicht umsonst unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts Urständ gefeiert, wie sich auch ihr damaliger Herold, der Staatsrechtler Carl Schmitt, heute wieder großer Beliebtheit unter den Technokraten der Macht erfreut. Der legale Verfassungsbruch durch die Verfassungsorgane wurde mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 auch in das Grundgesetz eingeschrieben, und das nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, an dem die soziale Überwindung kapitalistischer Herrschaft zum Greifen nah erschien. An der ersten Formulierung dieses Grundgesetzes waren im Parlamentarischen Rat nicht nur Theodor Heuss, sondern auch andere ehemalige Abgeordnete des Zentrums und der Bayrischen Volkspartei beteiligt, gerade so, als hätten diese nicht den letzten Akt zur Durchsetzung der NS-Diktatur gutgeheißen.

Eine besonders direkte Kontinuitätslinie zog der ehemalige BVP-Abgeordnete Ritter von Lex, dessen Tätigkeit in einem Reichsinnenministerium, das die blutige Repression im NS-Staat mitorganisierte und zuletzt unter der Verfügungsgewalt Heinrich Himmlers stand, kein Stolperstein für seine weitere Verwendung als Staatssekretär im Bundesinnenministerium unter Bundeskanzler Adenauer war. Wie Heinz Karl in der DKP-Zeitung UZ [2] erinnert, bediente er sich als Prozeßvertreter der Bundesregierung im Verbotsverfahren gegen die KPD vor dem Bundesverfassungsgericht am 5. Juli 1955 einer in den biologistischen Referenzen moderner Sozialingenieure bis heute anklingenden Sprache der Vernichtung. Die KPD sei "ein gefährlicher Infektionsherd im Körper unseres Volkes, der Giftstoffe in die Blutbahn des staatlichen und gesellschaftlichen Organismus der Bundesrepublik sendet".

Wie sehr sich das Zentrum, aus dem die sogenannte Volkspartei CDU hervorging, über die antibolschewistische Doktrin der Nazis definierte und sich diesen als Prätorianer des Bündnisses aus Staat und Kapital andiente, geht aus einer Erklärung der Zentrumsfraktion in der Kölner Stadtverordnetenversammlung vom 30. März 1933 hervor:

"Die vom Herrn Reichspräsidenten berufene, durch den erfolgreichen Verlauf der nationalen Revolution bestätigte Regierung darf nicht gefährdet werden, da sonst die Folgen unabsehbar sind. Sie muß unter Würdigung der gegebenen Verhältnisse auf möglichst breite Basis sich stützen können. Wir begrüßen die Vernichtung des Kommunismus und die Bekämpfung des Marxismus, die in dem heutigen Umfange in der Nachkriegszeit bisher nicht möglich war, da der sozialistische Einbruch in das deutsche Volk ab 1918 der katholischen Minderheit nur zur Abwehr schlimmerer Dinge, nicht aber zur Gestaltung des Staates ausschließlich nach unserer Auffassung Raum ließ." [3]

So diente das Ermächtigungsgesetz des Jahres 1933 nicht nur einem Angriff auf die bürgerliche Demokratie, es war, wie auch die besonders harte Verfolgung von Kommunisten im NS-Staat belegt, im Kern gegen die soziale Opposition von links gerichtet. In seiner Rede am 23. März in der Kroll-Oper, wohin man nach dem Reichstagsbrand ausgewichen war, um das Ermächtigungsgesetz zu verabschieden, ließ Hitler keinen Zweifel daran, daß seine weitreichenden Ziele nur mit Hilfe eines nach seinem Gutdünken waltenden privatkapitalistischen Unternehmertums erreicht werden konnten: "Grundsätzlich wird die Regierung die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen des deutschen Volkes nicht über den Umweg einer staatlich zu organisierenden Wirtschaftsbürokratie betreiben, sondern durch stärkste Förderung der privaten Initiative unter Anerkennung des Privateigentums." Der Glauben mancher NSDAP-Mitglieder, die nationale Revolution sei auch gegen die Interessen des Kapitals gerichtet, hatte sich, wie Heinz Karl [4] belegt, schon zuvor durch explizit arbeiterfeindliche Anordnungen als irreführend erwiesen.

Konrad Adenauer, dem aufgrund einiger Differenzen mit den Nazis während seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister der Ruf anhaftet, in Opposition zum NS-Regime gestanden zu haben, genoß die Protektion des Kölner Bankiers Kurt von Schröder, der wiederum als maßgeblicher Strippenzieher zwischen dem deutschen Kapital und der NSDAP fungierte. Erhalten ist ein Schreiben des führenden Zentrumpolitikers vom 2. August 1932 an Schröder, in dem Adenauer ihm mitteilt, daß das Zentrum bereit sei, das Zustandekommen einer Regierung aus Nationalsozialisten und Deutschnationalen unter Hitler als Reichskanzler zu tolerieren. Der von ihm als erster Bundeskanzler der BRD betriebene Antikommunismus war mithin nicht nur der Blockkonfrontation der Nachkriegszeit geschuldet. Er war die Konstante bürgerlicher Herrschaft spätestens seit der Novemberrevolution und bleibt sie in Abwehr eines sozialen Aufstands, der aus der sich europa- und weltweit verschärfenden Lage aller lohnabhängigen und verelendeten Menschen erwachsen könnte. Es liegt daher nahe, daß auch die Berliner Parlamentarier sehr genau wissen, wofür und wogegen sie stimmen, wenn Fragen von Krieg und Frieden oder der Regulation von Klassenwidersprüchen auf der Agenda des Bundestages stehen.


Fußnoten:

[1] http://www.das-parlament.de/2013/12/temp/43480586.html

[2] http://www.unsere-zeit.de/

[3] junge Welt, 22.03.2002

[4] http://www.zlv.lu/spip/spip.php?article8851

31. März 2013