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HERRSCHAFT/1675: Die Freiheit, die Friedrich, Gauck und Merkel meinen (SB)




Der Fall der innereuropäischen Grenzen wird heute noch als zentrale Errungenschaft der europäischen Einigung dargestellt. Den meisten Menschen ist das Recht, den öffentlichen Raum unbehindert von staatlichen wie privaten Formen der Bewegungseinschränkung nutzen zu können, Symbol wie Wirklichkeit persönlicher Freiheit. Behördliche Auflagen, die Menschen dazu zwingen, sich nur in einem gewissen Bezirk frei bewegen zu können, wenn sie sich beim Überschreiten eng bemessener Grenzen nicht strafbar machen wollen, betreffen im konventionellen Verständnis von Rechtstaatlichkeit nur verurteilte Straftäter, die als Freigänger unterwegs sind oder unter bestimmten Bewährungsauflagen stehen.

Dieses Freiheitsverständnis ist überholt, denn immer mehr Menschen rennen gegen unsichtbare Mauern, wenn sie dieses Land durchqueren wollen. Während Flüchtlinge und Asylbewerber offiziell verhängten Formen der Residenzpflicht unterliegen, darf auch der Hartz-IV-Empfänger längst nicht mehr bedenkenlos seinen Wohnort verlassen, wenn er sein materielles Überleben nicht gefährden will. Für die erwerbslosen Empfänger staatlicher Leistungen gilt eine Beschränkung von 21 Tagen, in denen sie sich von ihrem Wohnort entfernen dürfen, und das nur auf Antrag. Ansonsten laufen sie Gefahr, daß ihre Leistungen gekürzt oder gestrichen werden. Wie Susan Bonath in der Reisebeilage der jungen Welt (6. März 2013) berichtet, überprüfen die Jobcenter nicht nur die Anwesenheit ihrer angeblichen Kunden, sondern versuchen auch über deren Finanzverkehr herauszufinden, ob sie unabgesprochen verreisen, was dementsprechend sanktioniert werden kann.

Selbst Aufstocker sind verpflichtet, eventuelle Reisetätigkeiten zu beantragen, und bewilligt wird nicht alles, was die Leistungsempfänger wollen. Naheliegenderweise besteht bei Fahrten zu politischen Veranstaltungen, auf denen gegen das Sanktionsregime der Arbeitsagentur mobil gemacht wird, nicht gerade große Aussicht auf einen positiven Bescheid des Jobcenters. Kurz gesagt, die Freiheit, die Friedrich, Gauck und Merkel meinen, wenn sie die Errungenschaften der Wiedervereinigung feiern, gilt nicht für jeden gleich und für manche schon gar nicht.

Zu letzteren zählen beispielsweise Roma aus Südosteuropa. Sie sind derzeit Anlaß einer nationalchauvinistischen Kampagne gegen angebliche Wirtschaftsflüchtlinge, als deren Wortführer Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich fungiert. Seine Drohung, die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens in das Schengen-Abkommen zu verhindern, ist auf Menschen gemünzt, die, von drastischer Armut, aber auch massiver Diskriminierung in ihren Heimatländern getrieben, in anderen Regionen der EU bessere Lebensmöglichkeiten suchen.

Aber bitte nicht in Deutschland, tönt der anschwellende Chor eines vom Sarrazynismus durchdrungenen Bürgertums, das sich in seinem Glauben, die ökonomischen Erfolge der Bundesrepublik allein aus eigener Arbeit erwirtschaftet zu haben, unter keinen Umständen irre machen lassen will. Roma sollen draußen vor der Tür bleiben, da hilft ihnen auch nicht der Verweis darauf, nach den europäischen Juden die größte Opfergruppe der genozidalen Bevölkerungspolitik des NS-Regimes gewesen zu sein. Geschichte wird allein unter der Voraussetzung gemacht, es mit den drei Affen zu halten, denen, wenn sie das Gewesene partout nicht ignorieren wollen, einfach ein paar Elektroden in den Kopf gesteckt werden, was übersetzt auf das menschliche Publikum heißt, von massenmedialer Feindbildproduktion blind, taub und stumm geschaltet zu werden.

Ob Roma davor flüchten, daß ihnen in Ungarn faschistische Banden auflauern und die Budapester Regierung das deutsche Exportmodell des Förderns und Forderns zu einer Form des Arbeitsdienstes entwickelt, die alle Attribute rassistischer Menschenverachtung erfüllt, ob sie als Opfer der mit deutscher Hilfe vollzogenen Zerschlagung Jugoslawiens in dessen Nachfolgestaaten ausgegrenzt und entrechtet werden oder ob sie in Rumänien und Bulgarien schlicht unter existenzbedrohender Armut leiden - was haben "wir" damit zu tun? Selbstverständlich erfolgte die Osterweiterung der EU nur in menschenfreundlichster Absicht und nicht etwa zur Ausdehnung eines Verwertungsinteresses, das mit der Aneignung von Grund und Boden, von Staats- und Privatunternehmen, von Rohstoffen und Billigstarbeit in den ehemaligen RGW-Staaten so gut fährt, daß Rumänien und Bulgarien der EU sogar zu Ausnahmekonditionen beitreten konnten.

Mir san mir, sagt der Bayer und hält alle Nachweise dessen, daß die Wirtschaft der Bundesrepublik in erheblichem Ausmaß von der Einführung des Euro wie der Osterweiterung profitiert hat, für bloße Feindpropaganda, die zu hören bekanntlich verboten ist. Nun damit konfrontiert zu werden, daß die Trümmer nach dem Scheitern des Realsozialismus von den eigenen Funktionseliten wie westeuropäischen Investoren ausgeplünderter Volkswirtschaften auch an die eigene Goldküste gespült werden, darf nichts anderes zur Folge zu haben, als die Küstenwache zu rufen und gegen die krisengeschüttelten Wogen der Not in Stellung zu bringen. Wenn sich die zu den vier kapitalistischen Grundfreiheiten zählende Freizügigkeit im Personenverkehr einmal nicht zugunsten der Kostensenkungsinteressen des Kapitals auswirkt, das die Lohnforderungen der eigenen Belegschaften mit Werkvertragskräften aus Osteuropa unterläuft und die Reproduktionskosten etwa in der Altenpflege mit migrantischen Niedriglohnkräften drückt, um nur zwei Beispiele für die Ausbeutung des innereuropäischen Produktivitätsgefälles zu eigenen Gunsten zu nennen, dann wird sie eben eingeschränkt.

Die neue Ordnung der europäischen Integration ist alles andere als egalitär. Sie ist ein Musterbeispiel für den sozialen Antagonismus zwischen Zentrum und Peripherie. Auf das Sparregime, das südeuropäische EU-Bürger zum vorzeitigen Ableben mangels verfügbarer medizinischer Leistungen und ihre Regierungen zum Verhökern des Tafelsilbers an westeuropäische Schnäppchenjäger nötigt, folgt das Einziehen sozial selektiver Grenzen, die, obwohl sie offiziell gar keine sind, für bestimmte Menschen unüberwindbar sein sollen. Mit Smart Borders an den Außengrenzen der EU wird vorgemacht, daß es für alles technische Lösungen gibt, die das Verhungern und Ertrinken in die Unsichtbarkeit ferner Wüsten und Meere verlagern.

So teilen auch die Nationalgrenzen innerhalb der angeblich postnationalen EU die Welt in Zentren der Reichtumsproduktion, wo besagte Freiheit vollständig in Anspruch genommen werden kann, und dürftig alimentierte Notstandsgebiete, die zu verlassen immer problematischer wird, ein. Doch auch bei der auf ganz natürliche Weise von oben nach unten vollständig gewährten Reisefreiheit müssen bisweilen Einschränkungen in Kauf genommen werden, so im Falle der Troika-Beamten, die bei Reisen nach Griechenland inzwischen zum Zwecke ihres Schutzes vor Angriffen empörter Opfer ihres Sparregimes mit falschen Identitäten ausgestattet werden. Wenn einmal jeder Mensch auf den ihm nach Herkunft, Leistungsfähigkeit und Eigentum zustehenden Platz verwiesen wurde, dann wird sich zeigen, daß EU-Europa keineswegs davor gefeit ist, jene vernichtende Feindseligkeit hervorzubringen, die zu eliminieren angeblich Sinn und Zweck seiner Gründung ist.

9. März 2013