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HERRSCHAFT/1633: Revolution versus Transformation - Parlamentswahlen in Ägypten (SB)



Eine Woche vor Beginn der Parlamentswahlen in Ägypten hat die Demokratiebewegung des Landes noch einmal mit aller Macht versucht, den Ausverkauf der Revolution durch den Militärrat (SCAF) zu verhindern. Das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitsbehörden gegen die Protestbewegung zeigt, daß die Fortschreibung der herrschenden Verhältnisse längst beschlossene Sache ist. So wird der SCAF trotz der brutalen Repression gegen die Demokratiebewegung, der massenhaften Aburteilung ihrer Aktivistinnen und Aktivisten vor Militärtribunalen, der Ermordung von mindestens 38 Demonstrantinnen und Demonstranten, von denen 22 mit Kopfschuß regelrecht hingerichtet wurden, von Regierungen der USA und EU nach wie vor unterstützt. Wenn diese Kritik am Vorgehen der Sicherheitsbehörden üben, dann stets unter der Prämisse, beide Seiten zu Gewaltlosigkeit aufzufordern, als sei das Schießen mit scharfer Munition, der rücksichtslose Einsatz gepanzerter Fahrzeuge gegen Passanten oder der Einsatz von Gasgranaten, deren Inhalt weit toxischer zu sein scheint als der des üblichen Tränengases, mit dem Werfen von Steinen auf eine Stufe zu setzen. Mittelbar beteiligt an dieser Gewalt sind die US-Regierung, die das ägyptische Militär mit 1,3 Milliarden Dollar im Jahr alimentiert, und britische wie US-amerikanische Unternehmen, die den Sicherheitskräften angeblich nichttödliche Waffen liefern.

Während viele Aktivistinnen und Aktivisten der Demokratiebewegung längst erkannt haben, daß die Parlamentswahlen in der anberaumten Form die Legitimität des SCAF und der von ihm eingesetzten Regierung erhöhen, drängen die Regierungen der USA und EU auf die unbedingte Durchführung der am 28. November beginnenden Parlamentswahlen. Diese benachteiligen die Protestbewegung aufgrund ihres geringen Organisationsgrads und des großen Einflusses, den etablierte Institutionen auf die Bedingungen des parlamentarischen Prozesses nehmen, von vornherein. Begünstigt wird die Formierung einer neuen Form autokratischer Herrschaft von geringer demokratischer Legitimität durch die dominante Rolle, die der Militärrat im verfassungsgebenden Prozeß spielt, und die Vorrechte, die er sich dabei zuschanzen will. [1]

Um so mehr verstehen die Regierungen der USA und EU die Parlamentswahlen als integralen Bestandteil eines Transformationsprozesses, an dessen Ende der Nahe und Mittleren Osten unter ihrer unumkehrbaren Hegemonie stehen soll. Was der US-Regierung unter Präsident George W. Bush allein mit der kriegerischen Neuordnung der Region nicht gelungen ist, soll im arabischen Frühling über die Durchführung eines demokratischen Prozesses unter mehr oder weniger offener Einflußnahme politischer, militärischer und zivilgesellschaftlicher Agenturen des Westens zum Erfolg geführt werden. Das Insistieren des SCAF, dessen führende Vertreter Hussein Tantawi und Sami Anan vor zwei Wochen mit dem Chef des US Central Command, General James N. Mattis, in Kairo zusammengetroffen sind, auf die Durchführung der Wahlen trotz der massiven Unterdrückung des demokratischen Protestes belegt, welch große Bedeutung er dem Erwirtschaften einer zumindest symbolischen Legitimität ihrer Führung zumißt. Das Angebot Mohamed El Baradeis, sich als Ministerpräsident einer Regierung der nationalen Einheit zur Verfügung zu stellen, ist unter diesen Umständen nicht anders zu bewerten denn als Unterstützung dieses Transformationsprozesses.

Diesem steht die Vollendung einer Revolution entgegen, die am 11. Februar mit dem Sturz des damaligen Präsidenten Hosni Mubarak lediglich einen Teilerfolg errungen hat. Die demokratische Eröffnung der Machtfrage wurde durch das Militär und die Funktionseliten der Ministerialbürokratie erfolgreich verhindert, beherrschen doch heute noch Parteigänger Mubaraks die wesentlichen politischen und administrativen Institutionen. Eine nicht von der herrschenden Ordnung kontrollierte Entwicklung wäre Gefahr gelaufen, sich zu einer sozialrevolutionären Erhebung der ägyptischen Arbeiterschaft und Landbevölkerung auszuwachsen. Schließlich gingen dem Sturz Mubaraks zahlreiche Arbeitskämpfe voraus, in denen sich die Verelendung der erwerbsabhängigen Menschen in einer zusehends neoliberal zugerichteten Volkswirtschaft artikulierten.

Von einer jahrzehntelang despotisch unterdrückten Bevölkerung kann nicht erwartet werden, daß sie die Spontaneität des revolutionären Aufbruchs unverzögert in eine tragfähige politische Programmatik verwandelt. Die Tatsache, daß die ägyptische Demokratiebewegung die Stärke hat, trotz der Gefahr, der sich ihre Aktivistinnen und Aktivisten aussetzen, an ihrem Kampf festzuhalten, belegt, daß die Machtfrage weiterhin offen ist. Das wird in den Hauptstädten Nordamerikas und Europas auch deshalb als Bedrohung verstanden, weil die ägyptische Revolution Vorbildcharakter für soziale Proteste in aller Welt und dabei namentlich die US-amerikanische Occupy-Bewegung hat. [2] Je länger diese Konfrontation dauert, je weniger sich die Aktivistinnen und Aktivisten auf dem Tahrir-Platz und in anderen Städten des Landes mit den üblichen Suggestionen und Manipulationen befrieden und von ihrem Vorhaben abbringen lassen, desto mehr wird ihr Kampf zum exemplarischen Beispiel dafür genommen, ob und wie ausgebeutete und unterdrückte Menschen in der Lage sind, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen.

Derweil verhalten sich große Teile der radikalen Linken in Deutschland indifferent bis ignorant gegenüber den um ihr Leben kämpfenden Menschen in Ägypten. Eine der weltpolitisch wirksamsten sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte wird mit einer Gleichgültigkeit bedacht, die das ganze Ausmaß des Zerstörungswerkes dokumentiert, das die notorische Diffamierung des Antiimperialismus als endgültig überkommene Ideologie an der Kampffähigkeit der Restlinken angerichtet hat. Wenn die ägyptische Bevölkerung gegen ihre elenden Lebens- und Produktionsbedingungen aufbegehrt, dann zeigt sich spätestens an den ablehnenden Reaktionen in westlichen Hauptstädten oder der offenen Mißbilligung des ägyptischen Aufbruchs durch die israelische Regierung, daß ihr Kampf mindestens im zweiten Rang machtpolitische Interessen tangiert, die die diktatorische Unterdrückung und ökonomische Ausplünderung ganzer Bevölkerungen bewußt in die strategische Ratio eigener Bestandssicherung einkalkulieren. In dieser Auseinandersetzung herrschaftskritisch Stellung zu beziehen betrifft die Politik der Bundesregierung gegenüber arabischen Regierungen, den USA und Israel wie einer NATO, die versucht, die Aufstände arabischer Bevölkerungen für ihre geostrategischen Ziele zu vereinnahmen und in ihr Gegenteil zu verwandeln. Unter dem Vorwand der Ideologiekritik die Augen vor den Folgen imperialistischer Hegemonie zu verschließen heißt jeden Anspruch auf die revolutionäre Überwindung herrschender Verhältnisse aufzugeben.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1631.html

[2] http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=S880UldxB1o#

27. November 2011