Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1586: Unberechenbare Utopie ... revolutionärer Funkenschlag in Ägypten (SB)



Die Armee räumt den Tahrir-Platz auch gegen den Widerstand dort verbliebener Demonstranten. Der postrevolutionäre Alltag hält Einzug in Ägypten und droht, die Absehbarkeit herrschaftsichernder Logik in die Tat umzusetzen. Wer auf dem Platz der Befreiung, der als Herz der gegen das Regime Mubarak gerichteten Revolution gilt, bis heute ausgeharrt hat, tat dies, weil die Euphorie nach dem Fall einer 30 Jahre währenden Despotie eine allzuschnelle Antwort auf Fragen anbot, die erst zu stellen wären. Nun verlangen die Demonstranten die Auflösung des Parlaments und die Aufhebung des Ausnahmezustands. Vor allem diese Ermächtigung der Exekutive im Zusammenhang mit einer Militärregierung bietet alle Voraussetzungen zur Fortschreibung autoritärer Herrschaftsverhältnisse, die gegen den sozialen Widerstand zu sichern seit jeher die Hauptaufgabe der ägyptischen Streitkräfte ist. Das gilt insbesondere, seit der staatssozialistische Klassenkompromiß der Ära Gamal Abdel Nassers in den 1970er und 1980er Jahren allmählich durch die neoliberale Wirtschaftsdoktrin abgelöst wurde.

Der Sturz Mubaraks war zwar langfristig absehbar, doch zeigten sich die meisten Experten vom brisanten Verlauf des Geschehens der letzten drei Wochen überrascht. Wie bereits in Tunesien verlief auch die Revolution in Ägypten in hohem Maße selbstorganisiert. Sie verfügte über keine revolutionäre Avantgarde, zumindest keine, deren Absicht seit längerem bekannt gewesen wäre, und erfolgte in allen größeren ägyptischen Städten mit einer Synchronizität, die den genuin basisdemokratischen Charakter der Erhebung unterstreicht. Ihren sozialen Ausdruck fand sie in flankierenden Streiks der Arbeiterschaft, der Solidaritätsdemonstrationen anderer Berufsstände und den Protesten der Landbevölkerung gegen die elenden Lebensbedingungen der Bauern.

Der Versuch, die Revolution durch das Präfix "Twitter-" oder "Facebook-" mit selbstevident zu verharmlosen, schlug ebenso fehl wie sie als Bedrohung aufgrund der Freisetzung islamistischer Kräfte zu stigmatisieren. Die sozialen Netzwerke spielten zweifellos eine große Rolle bei der Mobilisierung, waren aber nicht deren Grund oder auch nur Auslöser, wie daran beteiligte Blogger bezeugen. Die Etikettierung eines demokratischen Befreiungsschlags mit dem Label zweier globaler Privatunternehmen nährt einen auf die Innovationsdynamik von Schlüsselindustrien fixierten Gesellschaftsentwurf, in dem der emanzipatorische Impetus nur als Ausdruck seiner technischen Bemittelung und konsumistischen Praxis Gültigkeit besitzt. Entscheidend für die Erhebung der Bevölkerung Ägyptens sind jedoch die materiellen Voraussetzungen der kapitalistischen Vergesellschaftung, der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen demokratischen Ansprüchen und ihrer autokratischen Aufhebung, zwischen der Macht der Oligarchie und der Ohnmacht der Massen.

Wenn in künftigen Werbespots Szenen von Tahrir-Platz mit Slogans wie "Powered by Facebook" oder "This Revolution was brought to you by Twitter" markiert werden, dann sagt das nur etwas darüber aus, woran die Vervollständigung revolutionärer Praxis, die Aufhebung der Herrschaft des Kapitals, scheitert. Entscheidend für eine Solidarität, die auch unter lebensbedrohlichen Umständen Verläßlichkeit beweist, ist eine Subjektivität des Widerstands, die zu der Austauschbarkeit industriell vorformatierter Konsumentscheidungen ein ausschließendes Verhältnis hat. Auch die Unterstellung islamistischer Umtriebe sagt nichts darüber aus, was die Menschen in Ägypten motiviert hat, auf Demonstrationen den Verlust ihres Lebens zu riskieren, um eine Unbeugsamkeit zu entfalten, die alleine in der Lage war, die hochgerüstete Herrschaft zu demontieren. Bei diesem Gesinnungsverdacht handelt es sich um eine kulturalistische, der Ideologieproduktion des Terrorkriegs geschuldete Waffe, die die Diversität und Eigenständigkeit sozialer Praxis in mehrheitlich islamischen Staaten in die Engführung eines Vorwurfs zwingt, der den durch ihn prozessierten Imperialismus nicht verbergen kann. So hat die ägyptische Muslimbruderschaft den Vereinnahmungsversuch des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khamenei, der die Entwicklung in Ägypten als Folgewirkung der von seinem Vorgänger Ayatollah Khomeini okkupierten iranischen Revolution 1979 und als "islamische Erweckung" darstellte, mit der Erklärung zurückgewiesen, daß in ihrem Land keine islamische Revolution stattfinde, sondern eine der gesamten ägyptischen Bevölkerung inklusive der Muslime und Christen aller Konfessionen.

Um so mehr konfrontiert die Heterogenität und Unberechenbarkeit der Entwicklung in Tunesien und Ägypten die Regierungen der NATO-Staaten mit einer ihr Konzept der Herrschaftsicherung gefährdenden Herausforderung. Menschen in großer Zahl entziehen sich der durch die Parameter bevölkerungspolitischer Planung und Spaltbarkeit sozialdarwinistischer Zurichtung bedingten Verfügbarkeit ihrer Existenz. Die sozialtechnokratisch hochentwickelten Regierungstechniken westlicher Industriegesellschaften treffen auf ein ihnen unbekanntes Subjekt, daß sich dem systematisch produzierten Zwang materiellen Mangels und politischer Ohnmacht enthebt, ohne daß dies auf eine konkrete Ideologie oder Doktrin zurückzuführen wäre. Auf diese Unbestimmbarkeit des Widerstands Zugriff zu erlangen ist das vordringliche Streben des verwissenschaftlichten Krisenmanagements, gilt es doch, künftige Überraschungen dieser Art durch präventive Regulation in beherrschbare Bahnen zu lenken.

Jene ägyptischen Regierungsgegner, die sich mehr als einen bloßen Regierungswechsel vom Sturz Mubaraks versprochen haben und die ihren basisdemokratischer Elan nicht durch parlamentarische Vermittlungsprozesse bremsen lassen wollen, stehen nun vor dem Problem, die revolutionäre Subjektivität nicht durch den symbolpolitischen Konter in ein Instrument neuer Herrschaft umschlagen zu lassen. Die Gefahr, daß die maßgeblich von den USA beeinflußten Streitkräfte eben dies versuchen, ist groß und wird durch den privilegierten Status ihrer Offiziere noch verstärkt. Die in aller Unbescheidenheit die ganze Bäckerei und nicht nur den einmal verteilten Kuchen fordernden Demonstranten sind desto mehr auf die Solidarität emanzipatorischer und revolutionärer Bewegungen in der EU angewiesen, die ihrerseits allen Grund dazu haben, Lehren aus der zumindest temporären Unbeherrschbarkeit der Entwicklung in Tunesien und Ägypten und darüber hinaus zu ziehen.

13. Februar 2011