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HERRSCHAFT/1570: "Technikfeindlichkeit" ... die Nemesis kapitalistischer Wachstumslogik (SB)



Bundesforschungsministerin Annette Schavan hat die Warnung ausgesprochen, die ihrer Ansicht nach wachsende Technikfeindlichkeit gefährde den Wohlstand in der Bundesrepublik. Gegenüber dem Nachrichtenmagazin Focus betonte sie die große Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von permanenter Innovation, zudem werde "eine moderne Gesellschaft, die keine Fortschrittsidee mehr hat, (...) selbstgenügsam und langweilig". [1] Damit knüpft die CDU-Politikerin an die von der Industrie angesichts des Widerstands gegen den geplanten Tiefbahnhof Stuttgart 21 und das geplante Endlager Gorleben geschürte Angst um den Wirtschaftstandort Deutschland an.

Indem sie das Problem, das das Industriekapital mit ökologischen Protestbewegungen hat, zur "Technikfeindlichkeit" verkürzt, greift sie zum bewährten Mittel der Ideologisierung, wo es um demokratische Aushandlungsprozesse und deren offensichtliches Scheitern geht. Die angebliche Kurzsichtigkeit der Bürger, zum einen relativen Wohlstand genießen, zum andern die mit derartigen Projekten einhergehenden Belastungen für Lebensqualität und Umwelt nicht in Kauf nehmen zu wollen, rührt an das grundsätzliche Problem kapitalistischer Wachstumslogik. Ohne permanente Produktivitätsteigerung bricht die Kapitalakkumulation ein, machen die Verfechter einer Innovationsdynamik geltend, die neue Produkte weniger zugunsten eines höheren Gebrauchswerts als zur Schaffung neuer Absatzmöglichkeiten und zur Senkung der Lohnkosten in die Welt setzt.

Es gibt daher guten Grund zu sagen, daß die von anderer Seite her als "Wutbürger" dumpfer Irrationalität bezichtigten Gegner milliardenschwerer und umweltzerstörender Großprojekte längst nicht technikfeindlich genug sind. Technikfeindlich nicht im Sinne einer prinzipiellen Ablehnung der wissenschaftlichen Entwicklung der Produktivkräfte, sondern im Sinne der Aufhebung des kapitalistischen Prinzips, Wachstum zur Sicherung der Profitrate zu generieren. Tatsächlich hinkt die Wirtschaftslobbyistin Schavan weit hinter der gesellschaftlichen Debatte um die Zukunft der Industriegesellschaft hinterher, wird doch seit Jahren unter dem Titel Green New Deal ein grüner Reformkapitalismus propagiert, der als vermeintlich alternatives Wachstumsmodell den Wohlstand sichern und die Umwelt schonen soll.

In Anbetracht der quantitativ begrenzten Förderung fossiler Energien und der damit einhergehenden Verteuerung aller von Erdöl und Erdgas abhängigen Produktionsweisen bei nicht in Aussicht stehender Gewährleistung der propagierten Wachstumsziele durch erneuerbare Energien sowie der prinzipiellen Akkumulationskrise des Kapitals setzt sich im Green New Deal fort, was schon ohne Ressourcenmangel, Klimawandel und Finanzkrise am herrschenden Verwertungssystem inakzeptabel ist. Die dem kapitalistischen Weltsystem aufgrund der Ausbeutung billiger Arbeitskraft in Ländern mit niedrigerem Produktivitätsniveau inhärenten sozialen Widersprüche sind durch den Green New Deal ebensowenig zu überwinden wie durch die technophile Fortschrittsideologie der Forschungsministerin. Wie die immer unverhohlener geforderte Militarisierung des Ressourcennachschubs der Bundesrepublik und die ordnungspolitischen Konzepte der NATO belegen, sichert Schavans Entwicklungsmodell allerdings auf noch direkterem Wege die von Tod und Zerstörung, von Ausbeutung und Unterdrückung dominierte Globalisierung der Weltwirtschaft.

Ihr Plädoyer für permanente Innovation unter anderem mittels der Durchsetzung der grünen Gentechnik meint die Sicherung der ökonomischen Vormachtstellung der Industriestaaten gegenüber dem Gros der Länder, die auch in Zukunft als verlängerte Werkbank, als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte der EU und USA fungieren sollen. Indem Schavan darauf verzichtet, den propagierten Wohlstandserhalt auf die reale Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Produkts hin zu überprüfen, erinnert sie ungewollt an den sozial antagonistischen Charakter des Wachstumsprimats im globalen wie europäischen Kontext. Die Verteuerung der Rohstoffbasis des fossilen Kapitalismus geht schon jetzt zu Lasten der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen und wird es in Zukunft noch mehr tun. Technologische Innovation betrifft zudem nicht nur die Produktion neuer Waren, für die es immer weniger Käufer gibt, sondern vor allem Rationalisierungseffekte, die den Lohnanteil am gefertigten Produkt weiter senken.

Die von Schavan angeprangerte "Technikfeindlichkeit" ist daher nicht nur den negativen ökologischen Folgen industrieller Expansion geschuldet, sie repräsentiert im Kern den sozialen Widerstand der Menschen gegen ihre fortgesetzte Entmündigung und Ausgrenzung durch eine auf Kapitalinteressen ausgerichtete Produktivität. Überlegungen zu der Art und Weise, wie die Menschen ihre vielfältigen unvergoltenen Arbeitsleistungen gesellschaftlich organisieren wollen, welchen Stellenwert die Qualität der Arbeit für sie hat, ob es nicht sehr viel rationalere Formen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion als die des auf Abpressen von Mehrwert und Erhöhung der Profitrate abonnierten Kapitalismus gibt, ob es nicht höchste Zeit ist, den Warencharakter von allem und jedem zu überwinden, scheinen einer Ministerin, deren Amt angeblich der Förderung wissenschaftlichen Forschens gewidmet, so fremd zu sein, daß man über die Langeweile und Selbstgenügsamkeit ihres Wissenschafts- und Kulturverständnisses lieber nicht nachdenken möchte.

Fußnote:

[1] http://www.focus.de/politik/deutschland/forschungsministerium-schavan-will-dialog-mit-buergern-suchen_aid_584740.html

26. Dezember 2010