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HERRSCHAFT/1528: Unproduktiv und überflüssig ... das Stigma der Arbeitsgesellschaft (SB)



Ob es ein solcher gesellschaftlicher Fortschritt ist, wenn ein junger Mensch auf die Frage nach seiner beruflichen Zukunft nicht mehr "Hartz IV", sondern "Kanalarbeiter" antwortet, darf bezweifelt werden. Die von der Bundesregierung geplante Neureglementierung junger Hartz IV-Empfängern verschiebt das Gewicht beim Fördern und Fordern noch mehr als bisher auf die Seite des Zwanges. Zweifellos wäre es zu begrüßen, wenn Erwerbslosen unter 25 Jahren innerhalb von sechs Wochen ein Arbeits- oder Fortbildungsangebot gemacht würde. Dieses jedoch damit zu koppeln, es bei Strafe der Leistungskürzung nicht ablehnen zu können, nimmt junge Menschen für eine Zukunft in Pflicht, über die sie weniger denn je befinden können. Was auch immer die jungen Erwachsenen an Qualifikationsmaßnahme oder Job erhalten, es kollidiert mit dem originären Anlaß ihrer Malaise, dem Mangel an verfügbarer bezahlter Arbeit. Die anfängliche Nötigung wird sich fortsetzen, sei es in Ein-Euro-Jobs oder anderen institutionalisierten Formen veritabler Zwangsarbeit, sei es in einem Niedriglohnsektor, in dem die Menschen nach jedem Strohhalm greifen, um zu überleben.

Wenn der Beruf nicht mehr im mindesten zur Berufung wird, sondern als von anderer Seite her aufoktroyierte Pflicht erscheint, dann werden aus Angst und Unterdrückung gestrickte Biografien produziert, die das liberale Credo freiheitlicher Selbstbestimmung zu einem exklusiven Privileg per Geburt oder Vermögen bevorteilter Menschen erklären. Um so weniger kann der sinnstiftende Charakter der Arbeit, dessen negatives Äquivalent der angeblichen Sinnlosigkeit erwerbsarbeitsloser Existenz den Betroffenen zur nicht nur gesamtgesellschaftlichen, sondern auch individualpsychologischen Verdammnis verurteilt, mit einer Glaubwürdigkeit erfüllt werden, die über das Notwendige der verlangten Anpassung hinausgeht. Die Aussicht auf ein durch beruflichen Erfolg erfülltes Leben verwandelt sich schon zu seinem Beginn in ein Disziplinarregime, das den Betroffenen zum Objekt gegen ihn gerichteter Verwertungsinteressen erklärt.

Ein Kapitalismus, dessen Subjekte auch des letzten Scheins eigenständiger Lebensgestaltung entledigt werden, indem sie ganz offiziell nicht über die Art und Weise, wie sie die Reproduktion ihrer Arbeitskraft bestreiten, verfügen dürfen, streift damit die letzten Hüllen seiner unterstellten Menschenfreundlichkeit ab. Wo der Erwerbstätige aufgrund des unumkehrbaren Abbaus für ihre Anbieter rentabler Lohnarbeit zu Tätigkeiten genötigt wird, denen er keine Kreativität, Freude und Selbstachtung abgewinnen kann, weil seine Fähigkeiten kaum zum Einsatz kommen und seine Entwicklungsmöglichkeiten brachliegen, da manifestieren sich schon zu Beginn der beruflichen Laufbahn Widerstände und Abnutzungseffekte, wie sie sich ansonsten erst nach Jahren körperlichen Verschleisses und geistiger Monotonie einstellen.

Die Einspeisung der Bürger in einen zusehends defizitären Arbeitsprozeß, in dem sinkende Lohnkosten eine postindustrielle Klasse von Feldsklaven und Hausdienern schaffen, bringt eine noch repressivere Gesellschaft hervor. Wenn die verlangte Integration immer weniger durch bisher funktionierende Formen der Anerkennung und Zustimmung erbracht wird, werden Verstrebungen des Zwangs und der Not eingezogen, die den unterstellten zivilisatorischen Fortschritt umkehren. Anstatt sich Gedanken über die Verwandlung der kapitalistischen Arbeits- in die humanistische Lebensgesellschaft zu machen, in der die erforderliche Erwerbsarbeit so organisiert wird, daß die dafür nicht benötigten Menschen nicht als überflüssig und unproduktiv diskriminiert werden, bleibt es bei der zivilreligiösen Moral eines Begriffs von Rechtschaffenheit, laut dem der arbeitsfähige Mensch nur dann Lebensrecht besitzt, wenn er es sich entweder als Erwerbstätiger oder Kapitaleigner verdient.

Die Herrschenden wollen sich nicht für ein Produktivitätsdogma rechtfertigen, laut dem in Heller und Pfennig zu belegen ist, was der einzelne zum gesamtgesellschaftlichen Produkt beiträgt, weil ihre Verfügungsgewalt durch die Gültigkeit des Nichtverwertbaren im Kern erschüttert würde. Gerade das macht jedoch den Menschen aus, der über den Horizont seines ökonomischen Nutzens in Erscheinung treten und damit eine Zukunft schaffen könnte, in der das schnöde Ende nicht mit seinem hoffnungsvollen Beginn in eins fiele.

20. April 2010