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HERRSCHAFT/1503: Leistung über alles ... Menschsein muß verdient werden (SB)



Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in der ersten Regierungserklärung seit ihrer Wiederwahl angekündigt, das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat - und nicht etwa umgekehrt - verbessern zu wollen. Das wichtigste dabei sei, "Beschäftigungsbremsen zu lösen und Anreize für Arbeit zu schaffen". Das betrifft etwa den einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, den einzuführen Merkel als beschäftigungsfeindliche Maßnahme ablehnt. Statt dessen setzt sie auf die wirksamere und einfachere Gestaltung der "aktiven Arbeitsmarktpolitik" durch die Abschaffung zahlreicher Instrumente und Programme der im Rahmen der Agenda 2010 reformierten Arbeitsverwaltung. Merkel sprach nicht davon, das Zwangsregime Hartz IV abschaffen zu wollen, was nur folgerichtig ist, da das dort gewährte Überlebensniveau die Zielmarke neoliberalen Lohnsenkungspolitik setzt. Die von ihr eingangs zum vorrangigen Ziel erhobene Wachstumsförderung soll, Wirtschaftskrise hin oder her, mit Hilfe der Freisetzung von Kapitalinteressen zu Lasten der Lohnarbeit erfolgen. Man könnte das ganze Projekt auch mit dem Schwingen der Peitsche des Mangels ins Bild setzen, denn es wird immer schwieriger, die Menschen dazu zu bewegen, sich freiwillig ausbeuten zu lassen.

In jedem Fall befinden sich Erwerbslose und Lohnabhängige laut Merkel in der Lage, erst erringen zu müssen, über das sie nach landläufiger Ansicht bereits verfügen: "Jeder Bürger, der Arbeit hat oder sie wieder bekommt, hat die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. (...) Jedem Bürger die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnen: Das will die christlich-liberale Regierung." Ab wann man in der Bundesrepublik selbstbestimmt lebt, scheint eine Frage der am Kontostand bemessenen Leistungsfähigkeit und nicht jener prinzipiellen Freiheit zu sein, von der dieser Tage so viel die Rede ist.

Da Selbstbestimmung in einem ausschließenden Verhältnis zu Herrschaft steht, kann diese Auslegung staatsbürgerlicher Souveränität nur so verstanden werden, daß der gemeine, nicht über Investivvermögen oder außergewöhnliche Fähigkeiten gebietende Mensch sich im Wartestand auf einen Platz unter den sogenannten Leistungsträgern befindet. Deren Herrschaft ist er ausgesetzt und soll ihr, kraft des noch nicht erbrachten Beweises seiner Zugehörigkeit, auch legitimerweise ausgesetzt sein. Sein Verhältnis zum Staat zu verbessern bedeutet in diesem Kontext nichts anderes, als Herrschaft konsensual zu organisieren, also zu akzeptieren, daß der Staat primär Kapitalinteressen vertritt. Selbstbestimmung zur unbedingten Voraussetzung jedes menschlichen Lebens zu erheben und ihre Einschränkung als zentralen gesellschaftlichen Konflikt zu begreifen nimmt dieser Qualifikation kapitalistischer Verfügungsgewalt gegenüber revolutionäre Züge an.

Der ökonomische Determinismus, der die Rede der Kanzlerin von Anfang bis Ende durchzieht, schweißt die Nation zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, in der jeder gemäß staatlicher Zuweisung seinen Teil an der Krisenbewältigung zu übernehmen hat. Was immer an öffentlichen Leistungen zu erbringen ist, was immer an Problemen gelöst werden muß, steht unter dem Primat der Kapitalmacht, die es als einzigen Aktivposten des Gemeinwesens fast bedingungslos zu hofieren gilt. So schwört Merkel gleich zu Beginn der Regierungserklärung das Volk, die reale Gegensätzlichkeit des angeblichen Staatssouveräns absichtsvoll ignorierend, auf das Überstehen harter Zeiten ein:

"Die Wahrheit lautet, in einem einzigen Satz zusammengefasst: Die Probleme werden erst noch größer, bevor es wieder besser werden kann. Das ist die Lage. Ich kann und ich will sie uns nicht ersparen.

Mehr noch: Wir alle müssen verstehen, dass es um weit mehr geht als nur um die Bewältigung der Folgen der Krise in unserer eigenen Volkswirtschaft. Nein, die Karten werden weltweit neu gemischt. Das und nichts anderes ist die Dimension der Krise. Weltweit werden die Karten neu gemischt. Da gibt es eben keine angestammten Marktanteile und Positionen. Wer wird sich den Zugriff auf Rohstoffe und Energiequellen sichern? Wer lockt Investitionen aus anderen Teilen der Welt an? Welches Land wird zum Anziehungspunkt für die klügsten und kreativsten Köpfe?"

In Anbetracht der Dimension dieser Herausforderung ist es schlechterdings unmöglich, Anspruch auf eine egalitäre Verteilung des gesellschaftlichen Produkts zu erheben oder sozialstaatliche Solidarität einzufordern. Der tonangebenden Leistungsideologie gemäß muß sich all das, was bestehen will, als dafür qualifiziert beweisen. Vom Fördern und Fordern, das die rot-grünen Initiatoren der Agenda 2010 zum Prinzip des aktivierenden Sozialstaats, sprich der Disziplinierung des arbeitscheuen Elements, erhoben haben, bleibt angesichts der anwachsenden Verknappung von Lohnarbeit vor allem das Fordern. Wie bereit in der sozialrassistischen Offensive der neokonservativen Vordenker der schwarz-gelben Republik angekündigt gilt künftig noch unverhohlener, sich mit aller Kraft zu Lasten des nächsten zu behaupten oder sang- und klanglos zu vergehen.

Keinesfalls kann man behaupten, daß die Kanzlerin den Bürgern nicht reinen Wein eingeschenkt hätte. Mit der Ansage, die neue Bundesregierung wolle "das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit angesichts neuer Bedrohungen festigen", da diese "uns in der Heimat, auch außerhalb der Grenzen unseres Landes, vor große Herausforderungen" stellten, kündigt sie den deutschen Sonderweg endgültig auf. Vor 20 Jahren befreit für neue Großtaten können nach Verstreichen dieser Karenzzeit endlich die Handschuhe ausgezogen werden, um mit der unvermittelten Schlagkraft der eigenen militärtechnischen Produktivität die Fragen zu beantworten, mit denen die Kanzlerin die Weltwirtschaftskrise als Ausgangspunkt einer neuen globalen Hegemonialordnung beschrieben hat. Dabei spielt die EU, auf eine für die Bundesrepublik besonders vorteilhafte Weise ermächtigt durch den Vertrag von Lissabon, eine entscheidende Rolle. Mit ihm könne die Europäische Union "weltweit ihre Interessen entschiedener verteidigen und vertreten", so die Kanzlerin unter gleichzeitiger Bekräftigung der zentralen Rolle der NATO für diesen Zweck.

Die erste Regierungserklärung der schwarz-gelben Kanzlerin wird in einigen Pressekommentaren als indifferent und vernebelnd kritisiert. Was auch immer die Vertreter dieser Meinung erwartet haben, für alle Menschen, die in diesem Land nicht zur Leistungselite gehören, waren ihre Worte deutlich genug.

Alle Zitate aus www.bundestag.de - Vorläufiges Protokoll der 3. Sitzung vom 10. November 2009

10. November 2009