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HERRSCHAFT/1499: Liberaler Freiheitspathos und sozialdarwinistische Praxis (SB)



Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP spiegelt in seiner ambivalenten Mischung aus rechtsnormativen Bekenntnissen und deren praktischer Widerlegung die ganze Bandbreite politischer Unvereinbarkeiten. Insbesondere im Bereich der Inneren Sicherheit treibt der Widerspruch zwischen demokratischem Anspruch und herrschaftstechnischer Notwendigkeit Blüten einer so offenkundig gebrochenen Logik, daß ein Schüler im Gemeinschaftskundeunterricht dafür schlechteste Noten erhalten hätte. Wie schon in der Überschrift zum 4. Kapitel "FREIHEIT UND SICHERHEIT - Durch Bürgerrechte und starken Staat" angelegt bleibt der Anspruch auf freiheitliche Bürgerrechte auf der Strecke der auf dem Marsch in den Sicherheitsstaat, den die FDP bis auf einige kosmetische Zugeständnisse an keiner Stelle aufhalten oder gar umkehren konnte, vollzogenen Schritte.

Zur fortgeschrittenen Ablösung der föderalen Sicherheitsarchitektur durch den mit exekutiven Vollmachten auf Bundesebene zentralisierten "starken Staat" heißt es dort unter anderem:

"Wir halten am Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten fest. Die bestehenden Sicherheitsdateien werden wir unter Einbeziehung der Arbeit des Gemeinsamen Internetzentrums der deutschen Sicherheitsbehörden (GIZ), des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ), des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration (GASIM) und des Kompetenz- und Servicezentrums Telekommunikationsüberwachung unter tatsächlichen und rechtlichen Aspekten evaluieren."

Mit diesen Institutionen sowie den Datenbanken, auf die sie zugreifen können, wurde unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung die Aufhebung des Trennungsgebots de facto vollzogen. Wollte man tatsächlich an diesem demokratischen Grundsatz festhalten, dann ist die Einstellung dieser Agenturen polizeilicher und geheimdienstlicher Zusammenarbeit gefordert. Eine vermutlich durch die Bundesregierung selbst geleistete Evaluation ihrer Arbeit wird hingegen nichts anderes erbringen, als daß man ihre sicherheitspolitische Notwendigkeit und grundrechtliche Verträglichkeit feststellen wird. Die Zentralisierung exekutiver Macht gilt aus gutem, historisch erwiesenen Grund als Einstieg in autokratische und diktatorische Formen staatlicher Herrschaft. Daher handelt es sich beim angeblichen Festhalten am Trennungsgebot nicht minder um ein Lippenbekenntnis, als es der frühere Bundesinnenminister Otto Schily bei Schaffung des GTAZ mit der Behauptung abgelegt hat, man werde es "bei der künftig engen Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten (...) streng beachten".

Im Fall des von der FDP stets heftig bekämpften BKA-Gesetzes zeigt man sich im Koalitionsvertrag gönnerhaft:

"Wir sind uns mit dem Bundesverfassungsgericht einig, dass ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist. Zur besseren rechtsstaatlichen Flankierung der Maßnahmen des BKA im Rahmen der Gefahrenabwehr gegen den internationalen Terrorismus wollen wir Regelungen treffen, die den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung optimieren und das Maß an Grundrechtsschutz durch Verfahren erhöhen. Daher werden wir auf Grundlage der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung das BKA-Gesetz daraufhin überprüfen, ob und inwieweit der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu verbessern ist."

Da die letzte Wahrheit bekanntlich als vorletzte Lüge in Erscheinung tritt, darf man zu Recht um das zugestandene Reservat bürgerlicher Freiheit bangen. Ob der Schutz dieses letzten Refugiums des von fremder Kontrolle unbehelligten Menschen überhaupt zu verbessern ist, was mit der Zurücknahme der exekutiven Befugnisse, die dem BKA seit Januar 2009 zugeschanzt wurden, zweifellos zu leisten wäre, soll noch abschließend zu klären sein. Die FDP hat hier in einem Kernstück ihres liberalen Bekenntnisses ebenso sang- und klanglos die Flagge gestrichen, wie sie im Wahlkampf voller Elan als Verteidigerin der Bürgerrechte aufgetreten ist.

Online-Durchsuchungen werden auch in Zukunft möglich sein, auch wenn die Hürden zur Anwendung des Bundestrojaners etwas erhöht werden. Die Vorratsdatenspeicherung wird nicht zurückgenommen, obwohl es sich um ein Instrument der prinzipiellen Verdächtigung aller Bürger handelt, das die Grundlage für innovative Ermittlungstechniken präventiver Art bildet. Alle die allgemeine Observation - oder, wie im Fall der Gesetzgebung zu sogenannten Terrorcamps, explizite Beschuldigung - unbescholtener Bürger ermöglichenden Maßnahmen sind signifikant für den Paradigmenwechsel vom demokratischen Verfassungs- zum totalen Sicherheitsstaat.

Der geplanten Sperrung von Webseiten mit kinderpornografischem Material wurde zwar vorerst Einhalt geboten, indem derartige Seiten nun gelöscht statt gesperrt werden sollen. Die damit freigesetzte Möglichkeit der umfassenden Zensur von Internetangeboten ist jedoch keineswegs vom Tisch, sondern soll nach einer einjährigen Phase der Evaluation neu bewertet werden. Wie es sich mit der Gewaltenteilung verträgt, daß Zeugen in Ermittlungsverfahren künftig nicht nur vor Richter und Staatsanwalt aussagen sollen, sondern auch von der Polizei vorgeladen werden können, weiß allein die designierte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Deren Verhandlungen mit dem bisherigen Bundesinnnenminister Wolfgang Schäuble über die künftige Politik der Inneren Sicherheit sollen besonders harmonisch und effizient verlaufen sein. Winken Amt und Würden, dann erweisen sich prinzipielle Einwände gegen die herrschende Politik bestenfalls als Verhandlungsmasse und schlimmstenfalls als Makulatur. Vor nicht einmal zwei Jahren fand die künftige Bundesjustizministerin noch klare Worte zur Ermächtigungslogik dieses Innenministers:

"Während die Regierung Schröder, allen voran ihr Innenminister Otto Schily, ihre rigide Politik der inneren Sicherheit immerhin noch mit zwar unzutreffenden, aber doch verfassungsimmanenten Argumenten zu legitimieren suchte, hat die derzeitige Bundesregierung, allen voran ihr Innenminister Wolfgang Schäuble, diese Zurückhaltung aufgegeben und die Verfassung selbst sowie ihren Hüter, das Bundesverfassungsgericht, ins Visier der Politik genommen. Es muss jedenfalls damit gerechnet werden, dass die Politik der inneren Sicherheit der großen Koalition an der mittlerweile ins Maßlose abgeglittenen Überwachung der Bürgerinnen und Bürger weiter festhalten wird. Mit der Furcht vor Terrorismus im Rücken wird der rechts-, besser, der verfassungspolitische Aufstand geprobt - gegen eine ihrer Idee nach freiheitliche Gesellschaftsordnung, wie sie die Eltern des Grundgesetzes in der Tradition John Lockes, Charles de Montesquieus und der europäischen Aufklärung vor Augen hatten. Erkennbar soll sie durch eine leviathanische Ordnung im Sinne Thomas Hobbes` ersetzt werden, in der ein autoritärer, von den freiheitssichernden und machtbeschränkenden Regelungen der Verfassung enthemmter Staat über den Ausnahmezustand entscheidet."
(Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 1/2008)

Wie sehr sich die FDP zur Sachwalterin dieser Ordnung macht, ist insbesondere dem Teil der Koalitionsvereinbarungen zu entnehmen, der dem Staatsschutz gewidmet ist. Darin wird "Extremismen jeder Art" der Kampf angesagt, und zwar unter ausdrücklicher Gleichsetzung von "Links- oder Rechtsextremismus". Die sicherheitspolitische Realisierung totalitarismustheoretischer Ideologie zeigt sich insbesondere darin, daß die "Aufgabenfelder des Fonds für Opfer rechtsextremistischer Gewalt sowie des Bündnisses für Demokratie und Toleranz (...) auf jede Form extremistischer Gewalt ausgeweitet werden" sollen. Da nach gängigen Terrorismusdefinitionen auch Protestformen wie Sitzblockaden oder wilde Streiks als Formen terroristischer Gewalt behandelt werden können, wird hier unverkennbar Aufstellung gegen den aufgrund der sozialfeindlichen Politik der neuen Bundesregierung zu erwartenden gesellschaftlichen Widerstand genommen.

Das neoliberale Credo der FDP steht denn auch Pate bei der Entscheidung, sich auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit keineswegs so sehr auf die Hinterbeine zu stellen, wie es bei der finanziellen Entlastung gutverdienender Erwerbstätiger und Kapitaleigner der Fall war. Wie soll eine Partei, die die Interessen der ökonomischen Gewinner vertritt, den damit von ihr verschärften zentralen gesellschaftlichen Konflikt anders bewältigen als durch den Ausbau repressiver staatlicher Gewalt? Wer immer die FDP als Bürgerrechtspartei gewählt hat, weil ihm Die Linke zu links war, der ist auf ein Freiheitspathos hereingefallen, das als Manifest des Egoismus gar nicht anders kann, als den Staat dazu zu ermächtigen, die sozialdarwinistische Praxis gewaltsam von oben nach unten durchzusetzen.

28. Oktober 2009