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HERRSCHAFT/1438: Auflösung Guantánamos führt vom Regen in die Traufe (SB)



Das Gefangenenlager im US-Stützpunkt Guantánamo Bay hat die Legalisierung absoluter Verfügung bis hin zu Folter und physischer Vernichtung bis zum Exzeß vor Augen geführt. Als extremstes Symbol unumschränkter Willkür verankerte es den Standard staatlicherseits praktizierter Grausamkeit auf so hohem Niveau, daß seine Auflösung, die US-Präsident Obama bis Januar 2010 angekündigt hat, als eine Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit mißverstanden werden kann. Wie sich jedoch mit Blick auf die Debatte um die Aufnahme von Gefangenen in europäischen Ländern zeigt, wird die Brachialgewalt des Folterregimes nicht etwa zurückgefahren oder gar abgeschafft, sondern vielmehr ausgeblendet und um eine neue Etappe administrativen Zugriffs ergänzt.

Wollte man Guantánamo tatsächlich abschaffen, müßte man alle Gefangenen sofort freilassen und großzügig entschädigen, soweit angesichts der ihnen zugefügten Untaten überhaupt von einer Kompensation die Rede sein kann. Man müßte zudem sämtliche Geheimgefängnisse in aller Welt auflösen, die Zusammenarbeit mit ausländischen Folterregimes einstellen und die maßgeblich Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Weiter hätte man sämtliche Gesetze, Verordnungen und Anweisungen, die diese Praxis gefördert oder ermöglicht haben, zurückzunehmen und durch ausdrückliche Verbote derartiger Handlungsweisen zu ersetzen. Wenngleich das illusorisch anmuten mag, wäre es doch nur ein Anfang, das Verhängnis der neuen Weltordnung vor seiner Vollendung aufzuhalten.

Es wäre der US-Regierung ein leichtes, die zur Freilassung vorgesehenen Gefangenen von Guantánamo in den USA aufzunehmen, sofern ihre Rückkehr ins jeweilige Heimatland nicht möglich ist. Tatsächlich sind die Zahlen, um die derzeit mit den Verbündeten in Europa gefeilscht wird, so gering, daß es dabei offensichtlich um etwas anderes geht. Nun sind die Europäer gefordert, sich aktiv am Regime legalisierter Verfügung über "gefährliche Personen" zu beteiligen und die dafür erforderlichen Rechtsvoraussetzungen zu schaffen.

Daß sich die europäischen Regierungen und Politiker derzeit mit taktisch verteilten Rollen drehen und winden, liegt nicht einem Unbehagen, so offensichtlich ins Boot der Amerikaner gezogen zu werden, oder gar dabei empfundenen Skrupeln. Vielmehr will man die Phase unverbrauchter Obama-Manie bestmöglich nutzen, um die Sicherheitsarchitektur weiter auszubauen und zu verankern. Bedenken einzelner EU-Staaten, die aufgenommenen Häftlinge könnten sich womöglich frei im Schengen-Raum bewegen, munitionieren die Forderung nach einem europaweiten Überwachungssystem, das solche Personen überall lokalisieren kann. Flankiert wird dieser Ansatz von Vorschlägen, wie man die Freizügigkeit im Einzelfall weitgehender als bislang möglich beschränken kann.

Mit Feuereifer beteiligt man sich quer durch alle parteipolitischen Lager an der Debatte um Schuld und Unschuld, Gefahr und Harmlosigkeit der potentiellen Aufnahmekandidaten und macht sich Sorgen darüber, daß das Pentagon einige von den 60 zur Debatte stehenden Häftlingen noch für überwachungsbedürftig hält. Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy wird zum Helden der Humanität hochstilisiert, weil er sich spontan und großzügig zur Aufnahme eines einzigen Algeriers bereiterklärt hat. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble besetzt den Gegenpol des Bremsers, indem er scheinheilig vorhält, die deutschen Mühlen könnten mangels fehlender Akten noch gar nicht anfangen zu mahlen.

Gefangene, die unter "Terrorverdacht" stehen, wolle man natürlich keine, aber die würden ja von den Amerikanern ohnehin nicht freigelassen, hakt man die Mehrzahl der Häftlinge in Guantánamo mit einem Federstrich ab. Unschuldige müssen es schon sein, damit sie keine Gefahr für die Sicherheit der hiesigen Bevölkerung darstellen. Wer könne das besser beurteilen als die Amerikaner, die unter den etwa 245 verbliebenen Häftlingen 50 bis 60 ausgemacht haben wollen, denen man einen Freigabestempel zum Versand nach Europa verpassen möchte. Im Namen humanitärer Gründe, die natürlich mit Verantwortung einhergehen müßten, kanzelt man kleinkarierte Vorbehalte ab, Barack Obama freudig unter die Arme zu greifen, damit er das Ärgernis Guantánamo endlich aus der Welt schaffen kann.

Bis zur Unkenntlichkeit verschwimmt dabei der Umstand, daß sämtliche Häftlinge in Guantánamo als sogenannte feindliche Kombattanten verschleppt, gefoltert und jenseits aller bislang geltenden Rechte gefangengehalten wurden. Wer sich rechtsstaatlichen Standards verpflichtet fühlt, muß sie daher allesamt als unschuldig betrachten und kann sich unmöglich guten Gewissens an der Debatte beteiligen, welche Gefangenen tatsächlich unschuldig sind und ob man diese Unschuldigen nicht doch in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken oder dauerhaft unter Beobachtung stellen müsse - man könne ja nie wissen. Dabei bahnt sich nichts weniger als ein weiterer Vorstoß administrativer Verdachtsmomente gegen alle Bürger an, die das Rechtsverständnis der Unschuld immer enger und die Notwendigkeit von Überwachung und Einschränkung immer weiter fassen.

8. April 2009