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REDE/026: Merkel - Situation nach dem Auslaufen des Finanzhilfeprogramms für Griechenland, 1.7.2015 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in der vereinbarten Debatte zur Situation nach dem Auslaufen des Finanzhilfeprogramms für Griechenland vor dem Deutschen Bundestag am 1. Juli 2015 in Berlin:


Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!

Ohne Zweifel liegen turbulente Tage hinter uns; vor allem aber liegen schwere Tage hinter den Bürgerinnen und Bürgern Griechenlands, und weitere solche schweren Tage liegen vor ihnen. Sie haben mit einer außergewöhnlich harten Situation zu kämpfen; denn bevor wir über alle weiteren, in hohem Maße auch technischen Fragen von Programmen und Zahlen sprechen, müssen wir an die Menschen in Griechenland denken. Sie sind ein stolzes Volk und haben harte, sehr harte Tage zu bewältigen. Es ist gerade auch deshalb nicht einfach nur so dahingesagt, wenn ich wieder und wieder betone: Die Tür für Gespräche mit der griechischen Regierung war immer offen und bleibt immer offen. Das sind wir den Menschen schuldig, und das sind wir auch Europa schuldig.

Zur Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört aber auch, zu sagen: Wir haben erlebt, dass Griechenland die Verhandlungen für den erfolgreichen Abschluss des zweiten Hilfsprogramms einseitig beendet hat, nachdem es sein Referendum für den kommenden Sonntag angekündigt hat. Wir haben erlebt, dass Griechenland seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, die Zahlungen an den IWF fristgerecht zu leisten. Wir haben erlebt, dass das zweite Hilfsprogramm gestern Abend um 24 Uhr ausgelaufen ist.

Mit dem Auslaufen des zweiten Hilfsprogramms ist den Vorschlägen, die für die Sitzung der Euro-Gruppe am letzten Samstag auf dem Verhandlungstisch lagen und die sich auf das zweite Hilfsprogramm bezogen, die Grundlage entzogen. Um es klar zu sagen: Die Abhaltung eines Referendums ist ein Akt demokratischer Souveränität Griechenlands. Es ist das legitime Recht Griechenlands, das zu tun, wann immer sie es wollen, worüber auch immer sie es wollen und mit welcher Wahlempfehlung der Regierung auch immer. Aber um es genauso klar zu sagen: Es ist ein ebensolcher Akt demokratischer Souveränität der anderen 18 Mitgliedstaaten der Euro-Gruppe, zu der griechischen Entscheidung ihrerseits eine angemessene Haltung zu entwickeln. Es ist ein ebensolches legitimes Recht dieser 18 ebenfalls allesamt demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen, ihre Haltung festzulegen, und das erst recht in einer Währungsunion; denn es sind nicht einfach nur 18 oder 19 Staaten, sondern es sind 19 Staaten mit einer gemeinsamen Währung, die mit ihrer jeweiligen Entscheidung immer auch das Wohl und Wehe der anderen, das Wohl und Wehe des Ganzen beeinflussen.

Gestern Abend ging ein Antrag des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras beim Vorsitzenden der Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, ein mit der Bitte um ein neues Hilfsprogramm. Die Finanzminister der Euro-Gruppe haben darüber beraten. Die Bundesregierung hat sich dazu in folgender Weise verständigt: Wir warten jetzt das Referendum ab. Vor dem Referendum kann über kein neues Hilfsprogramm verhandelt werden. - Das geht im Übrigen auch gar nicht ohne ein Mandat des Deutschen Bundestages, weil wir uns jetzt im Rechtsraum des ESM bewegen.

Wir können das auch in Ruhe abwarten; denn Europa ist stark, viel stärker als vor fünf Jahren zu Beginn der europäischen Staatsschuldenkrise, die in Griechenland ihren Ausgang nahm. Wir sind stärker dank der Reformpolitik der letzten Jahre, die maßgeblich auch auf die Haltung Deutschlands zurückzuführen ist. Heute müssen die anderen 18 Mitgliedstaaten keine ökonomische Katastrophe mehr befürchten, weil Griechenland in Turbulenzen geraten ist. Wir haben Schutzvorkehrungen getroffen, an die im Februar 2010 noch nicht einmal im Ansatz zu denken war. Wir haben eine EFSF, wir haben einen Europäischen Stabilitätsmechanismus, den ESM, wir haben einen Fiskalpakt, und wir haben eine Bankenunion, die nicht nur eine gemeinsame Bankenaufsicht beinhaltet, sondern auch Mechanismen für eine Bankenabwicklung. Europa ist robuster geworden, und deshalb ist die heutige Lage zwar ohne Zweifel eine große Herausforderung für uns; aber eine Qual ist sie vor allem für die Menschen in Griechenland.

Das führt uns zum Kern der aktuellen Herausforderungen. Es geht nicht um 400 Millionen Euro oder 1,5 oder zwei Milliarden Euro, um die vielleicht noch zwischen Institutionen der Euro-Gruppe und Griechenland gerungen wurde; man hört unterschiedliche Summen. Alle diese Summen sind zwar sehr große Beträge, aber sie alle stellten tatsächlich keine unüberwindbare Hürde dar. Nein, darum geht es nicht. Es geht - vom ersten Tag der Griechenland-Krise bis heute - immer um eine grundsätzliche Frage: Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft, und als solche zeichnet sie sich als eine Rechtsgemeinschaft, als Verantwortungsgemeinschaft aus. Das Wesen dieser Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft ist die Fähigkeit zum Kompromiss. Jeder muss sie aufbringen, Griechenland genauso wie Deutschland, wie Frankreich und wie alle anderen. Eingegangen werden kann ein Kompromiss dann, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Sonst gehe ich, sonst geht die Bundesregierung jedenfalls einen Kompromiss nicht ein. Denn ein Kompromiss um jeden Preis wäre nur ein Ergebnis um des Ergebnisses willen, nur weil man mit einem Konflikt nicht leben kann, weil man Angst vor der Austragung des Konflikts hat, zum Beispiel dem eines Mitglieds der Euro-Zone mit den 18 anderen.

Es kann kein Zweifel bestehen: Verlöre Europa die Fähigkeit zum Kompromiss, bei dem die Vorteile die Nachteile überwiegen, dann wäre Europa verloren. Aber genauso sage ich klipp und klar: Ein guter Europäer ist nicht der, der eine Einigung um jeden Preis sucht. Ein guter Europäer ist vielmehr der, der die europäischen Verträge und das jeweilige nationale Recht achtet und auf diese Weise hilft, dass die Stabilität der Euro-Zone keinen Schaden nimmt. Gemäß diesem Verständnis Europas als Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft verfolge ich und verfolgt die Bundesregierung bei allen Entscheidungen und Programmen der Euro-Zone zur Bekämpfung der Schuldenkrise von Beginn an immer ein Ziel, und zwar, eine neue Stabilitätskultur in Europa zu schaffen.

2010 standen wir an einer Weggabelung: Soll die Wirtschafts- und Währungsunion eine Transferunion mit Euro-Bonds und Ähnlichem werden oder eine Stabilitäts- und Wachstumsunion mit Solidarität und Eigenverantwortung, Leistung und Gegenleistung? Wir haben uns für die Stabilitätsunion entschieden, weil es immer um die einzelnen Länder geht, aber auch immer um die Wirtschafts- und Währungsunion als Ganzes. Wir haben uns für eine Stabilitätsunion entschieden, weil es immer auch um unseren Platz in der Welt geht: ökonomisch und sozial, mit unseren Interessen und vor allem mit unseren Werten. Um es einfach zu sagen: Auch Deutschland geht es auf Dauer nur dann gut, wenn es auch Europa gut geht.

Natürlich gingen auch mit einer Transferunion in Europa wahrlich nicht die Lichter aus. Es ließe sich vielleicht sogar eine Zeit lang ganz ordentlich leben. Aber dauerhaft erfolgreich in der Zukunft, in zehn, 20 oder 30 Jahren, wären wir nicht mehr. Wir wollen das aber sein, und wir wollen für unsere Werte in einer globalen Welt einstehen können. Ich will nicht, dass wir irgendwie durch die Krise kommen, möglichst schnell Ruhe bekommen, und gut ist es.

Ich will, dass Europa stärker aus der Krise herauskommt, als es in diese Krise hineingegangen ist, damit wir im Wettbewerb mit China, Indien, Südamerika und anderen stark sind, damit wir unsere Interessen, unsere Art, zu wirtschaften, zu arbeiten, zu leben, und unsere Werte - Freiheit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit - überzeugend vertreten können. Darum geht es und nicht darum, ob eine Differenz von 400 Millionen Euro, 1,5 oder zwei Milliarden Euro überwindbar wäre oder nicht. Darum geht es, wenn wir entscheiden müssen, ob wir Verhandlungen über ein neues Hilfsprogramm für Griechenland auf der Grundlage von Solidarität und Eigenverantwortung und unter Einbeziehung der drei Institutionen, also der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds - nach dem Referendum und nicht vorher - in Erwägung ziehen. Ob es einen Kompromiss geben kann, bei dem die Vorteile die Nachteile überwiegen, das müssen wir zu gegebener Zeit entscheiden. Darum geht es auch, wenn wir die wirtschaftspolitische Koordinierung der Mitgliedstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion stärken müssen und die Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion beheben wollen.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es sind turbulente Tage. Es geht auch tatsächlich um viel. Die Welt schaut auch auf uns. Aber die Zukunft Europas, die steht nicht auf dem Spiel. Die Zukunft Europas stünde auf dem Spiel, wenn wir vergessen würden, wer wir sind und was uns stark macht: eine Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft. Würden wir das vergessen, dann wäre der Euro gescheitert und mit ihm Europa.

Die Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft Europa, die Wertegemeinschaft Europa, sie ist stark, und sie ist robust. Und ich habe es wieder und wieder gesagt: Die Überwindung der europäischen Staatsschuldenkrise braucht Zeit und einen langen Atem. Aber hinterher wird Europa stärker sein als zu Beginn. Dafür bitte ich weiterhin um Ihre Unterstützung.

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Quelle:
Bulletin 90-1 vom 1. Juli 2015
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in der vereinbarten Debatte
zur Situation nach dem Auslaufen des Finanzhilfeprogramms für Griechenland
vor dem Deutschen Bundestag am 1. Juli 2015 in Berlin
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Telefon: 030 18 272-0, Fax: 030 18 10 272-25 55
E-Mail: internetpost@bpa.bund.de
Internet: www.bundesregierung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2015

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