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WISSENSCHAFT/915: Wissenschaft jenseits des Tellerrandes (forsch - Uni Bonn)


forsch 1/2009 - Februar 2009
Bonner Universitäts-Nachrichten

Wissenschaft jenseits des Tellerrandes
Wer Grenzen überwindet, betritt Neuland

Von Dr. Andreas Archut


Wissenschaftler stoßen bei ihrer Arbeit immer wieder an Grenzen des Wissens und des Machbaren. Aber auch Fächergrenzen spielen im Forschungsalltag eine Rolle - auch wenn es nie populärer war als heute, sie zu durchbrechen. Die Forschungsförderer ermutigen die Wissenschaftler geradezu, sich in neuen Konstellationen zu finden. So ist auch an der Universität Bonn manche Erfolgsgeschichte entstanden, in der Interdisziplinarität und Zusammenarbeit die Hauptrolle spielt.

Seit geraumer Zeit ist der kleine Grenzverkehr zwischen den traditionellen Fachdisziplinen deutlich angewachsen. Ohne ihre fachliche Heimat aufzugeben, erforschen immer mehr Wissenschaftler gemeinsam mit ihren Kollegen, was im Niemandsland zwischen den Disziplinen der Entdeckung harrt.

Ermuntert werden sie dazu von ganz oben: Der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Professor Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, sagte etwa 2004 anlässlich der Jahresversammlung der DFG in der Aula der Bonner Uni: "Viele Bereiche moderner Forschung in fast allen Wissenschaftsbereichen sind durch eine neue Art der Interdisziplinarität gekennzeichnet." Er räumte auch ein, dass sich die Universitäten mit der neuen Form der Zusammenarbeit schwer täten. Die "Verbindung zwischen disziplinärer Vielfalt und der gebotenen Transdisziplinarität der Forschung ist nicht leicht zu organisieren." Es lohne sich aber, in neue Strukturen der Zusammenarbeit zu investieren. Bis heute hallen diese Worte Winnackers an der Bonner Universität wider.

Wie solche Strukturen aussehen können, kann man am Campus Poppelsdorf als Stein gewordene Interdisziplinarität bewundern. Hier strebt der Neubau des ersten Bauabschnitts des LIMES-Biozentrums, eine 30 Millionen Euro-Investition, seiner Vollendung entgegen. LIMES, das steht für "Life and Medical Sciences" und damit für ein innovatives Forschungsgebiet an der Schnittstelle von Biologie, Chemie und Medizin. In das markante Gebäude mit seinen bunten Fassadenelementen wird voraussichtlich im Herbst das Institut für Molekulare Biomedizin einziehen. Der Neubau steht für den kometenhaften Aufstieg einer interdisziplinären Initiative, die vor 10 Jahren bei einem Glas Sekt ihren Anfang nahm. Beim Rektorempfang für neu berufene Professoren kamen der Biologe Professor Dr. Michael Hoch und der Chemiker Professor Dr. Michael Famulok erstmals miteinander ins Gespräch. "Wir waren uns gleich sympathisch und beschlossen, gemeinsame Projekte an den Grenzen unserer Fachgebiete anzugehen." Sie entwickelten das LIMES-Konzept, das die Etablierung gemeinsamer Drittmittel-Initiativen und innovativer Ausbildungsprogramme in den Lebenswissenschaften zum Ziel hatte, und bald darauf schlossen sich Fachkollegen dem Duo an. Die gemeinsam erzielten Ergebnisse waren für medizinische Fragestellungen so relevant, dass bald auch Mediziner ins Boot geholt wurden. 2001 bewilligte die DFG die Forschergruppe 425, kurz darauf das Graduiertenkolleg 804 und dann in den Folgejahren die beiden Sonderforschungsbereiche 645 und 704, die mit Hilfe neu berufener LIMES-Wissenschaftler wie dem Immunologen Professsor Dr. Waldemar Kolanus ins Leben gerufen wurden.

Parallel konzipierten die LIMESWissenschaftler zusammen mit der Medizinischen Fakultät den Exzellenzstudiengang Molekulare Biomedizin, der 2003 die ersten Studierenden aufnahm. Das Interesse an dem neuen Angebot war riesengroß: Um die gerade einmal 30 Studienplätze bemühten sich fast 900 Bewerber, die in einem mehrstufigen Auswahlverfahren mit persönlichen Gesprächen handverlesen wurden. Im Zuge des Bologna-Prozesses sind aus dem ursprünglichen Diplom-Studiengang inzwischen ein Bachelor-Studiengang und ein Master-/Promotionsprogramm hervorgegangen.

2006 hatte LIMES die kritische Masse erreicht, um auch strukturell sichtbar zu werden: "Mit vier Professuren, einem Institut und einem Studiengang haben wir innerhalb der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät die neue Fachgruppe Molekulare Biomedizin gegründet", erzählt Professor Hoch. Nur eine weitere Etappe, wie sich zeigte. Es folgte der Aufbau einer Graduiertenschule und eines vom Land NRW geförderten Doktorandenprogramms. Inzwischen gehören 10 Professoren mit rund 150 Mitarbeitern zu LIMES, darunter über 100 aus Drittmitteln finanzierte Kräfte. Mit dem Neubau sollen sie alle an der Carl-Troll-Straße ein gemeinsames Dach über dem Kopf erhalten. Findet die Entwicklung damit ein Ende? "Nein, dann geht es erst richtig los", lacht Professor Hoch. Die nächsten Ziele haben seine Mitstreiter und er längst ins Auge gefasst. So bietet der Neubau Gelegenheit zu neuen Grenzüberschreitungen: "Wir wollen unsere Kooperationen mit Harvard und asiatischen Top-Universitäten weiter vertiefen und auch stärker mit der Wirtschaft zusammenarbeiten."


Den einen zu chemisch, den anderen zu biologisch

Der DFG-Vertrauensdozent der Universität, Professor Dr. Michael Famulok, hat Chemie studiert und ist als "Postdoc" in die Molekularbiologie gewechselt. "Ansonsten wäre es mir viel schwerer gefallen, in die Lebenswissenschaften einzudringen." Kurze Zweifel kamen ihm einmal, als er sich um seine erste Professur bewarb. "Als biologischer Chemiker läuft man Gefahr, den einen zu 'biologisch' und den anderen zu 'chemisch' zu sein." Heute mache das gerade den Vorteil aus, der Michael Famulok zu einem erfolgreichen Grenzgänger macht. Er spricht fließend "Chemisch" und "Biologisch", nur mit dem Medizinerjargon tut er sich noch schwer. "Die benutzen oft sehr spezielle Vokabeln, aber ich kann immerhin sehr gut nachvollziehen, worum es geht", schmunzelt er. Gerade die Lebenswissenschaften seien besonders offen für eine Befruchtung aus anderen Fachdisziplinen. "Extrem wichtige Beiträge kommen von Physikern und Chemikern", sagt der Leibnizpreisträger. "Die Bereitschaft ist groß, über den Tellerrand hinaus zu schauen. Denn keiner von uns kann alle Bereiche beherrschen, die für die aktuelle Forschung relevant sind." Grenzüberschreitung als Selbstzweck sei damit jedoch nicht gemeint. Wer erfolgreich sein wolle, müsse aus der Zusammenarbeit einen Mehrwert schöpfen. Denn auch, wenn Interdisziplinarität en vogue ist, wird längst nicht jeder fachüberschreitende Antrag gefördert. "Das hängt vor allem von den Antragstellern ab", weiß der Vertrauensdozent. "Letztlich ist entscheidend, ob die Gutachter ihnen zutrauen, ein solches Projekt zum Erfolg zu führen."

Dass interdisziplinäre Forschung heute viel präsenter ist als noch vor einigen Jahren, sei auch ein Ergebnis der Exzellenzinitiative. Fachübergreifende Forschung lasse sich allerdings nicht "von oben" verordnen. "Bottom up"-Ansätze aus der Mitte der Wissenschaftler seien viel aussichtsreicher. Der Dialog über die Fächergrenzen fördert nicht nur neue Lösungen für alte Probleme zu Tage, er eröffnet auch gute Publikationschancen. Denn neue Fächerkombinationen können erstaunliche Erkenntnisse hervorbringen. "Es gibt keinerlei Denkverbote!" sagt Famulok. Aktuelle Beispiele seien die Kooperationen von Neurowissenschaftlern mit Ökonomen, Theologen und Medienforschern, "Spannend stelle ich mir aber auch die Kombination aus Quantenphysik und zellulären Mechanismen vor - da gäbe es sicherlich viel zu entdecken, wenn man erst die Methoden dafür hätte. Die kann aber kein Fach allein entwickeln."


Sind Geisteswissenschaftler typische Einzelkämpfer?

Geisteswissenschaftler galten lange als typische Einzelkämpfer, die im stillen Kämmerlein Aufsatz an Aufsatz und Monographie an Monographie reihen. Diese Grundhaltung hat dazu geführt, dass in Bonn die geisteswissenschaftliche Verbundforschung zu kurz kam. Von den 11 derzeitigen Sonderforschungsbereichen der Universität ist nur einer den "Textwissenschaften" zuzurechnen. "Es stimmt schon: Die klassische Einzelforschung war immer das Aushängerschild, ja die 'Essenz' der Geisteswissenschaften", räumt Asienwissenschaftler Professor Dr. Stephan Conermann ein. "Auf die exzellenten Einzelleistungen unserer Kollegen wollen wir auch in Zukunft nicht verzichten, aber auch für die Philosophische Fakultät wird die koordinierte Forschung immer wichtiger, wenn nicht gar überlebenswichtig." Conermann wurde kürzlich zum ersten Prodekan für Forschung und Internationales in der fast 200-jährigen Geschichte der Fakultät berufen.

Der Islamwissenschaftler kennt den Nutzen einer intensiveren Zusammenarbeit aus eigener Anschauung. Neun kleine Seminare haben sich im Zuge der Neustrukturierung der Fakultät zum Institut für Orient- und Asienwissenschaften (IOA) zusammengeschlossen. "Die beteiligten Fächer verstehen sich als Bestandteil eines übergeordneten Institutes und arbeiten intensiv zusammen. Dabei entstehen neue, gemeinsame Themen, auf denen dann größere Anträge aufgebaut gebaut werden können", erzählt Conermann. So sind die ehemals "Kleinen Fächer" in kurzer Zeit zu einem selbstbewussten Fach "Asienwissenschaften" zusammengewachsen - auf Augenhöhe mit den anderen großen Disziplinen der Fakultät.

Quer zu den Instituten sind die Zentren der Fakultät organisiert, die unterschiedlichste Forscherperspektiven unter einem gemeinsamen Nenner vereinen. Die neuen Strukturen eröffnen viele neue Formen der Zusammenarbeit. Mit dem neuen Prodekanat gebe es nun erstmals auch einen zentralen institutionellen Ansprechpartner, der hilft, Barrieren einzureißen und Kommunikationsprobleme zu überwinden. "Als Prodekan bin ich Ermutiger und Vermittler zugleich", sagt Conermann. Er hilft seinen Kollegen auch, zukünftige Forschungspartner außerhalb der eigenen Fakultät zu finden. "Es gibt bereits einige konkrete Ansätze für eine Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften und der Medizin, etwa auf dem Gebiet der Bioethik, aber auch zu anderen Textwissenschaften, vor allem den Theologien und den Rechtswissenschaften."

Einen ersten Erfolg seiner Fakultät kann Conermann auch schon vorweisen: Kürzlich gelang die Einwerbung eines koordinierten Projekts im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Ein wichtiges Signal auf dem Weg zum nächsten großen Ziel - die Neuauflage der Exzellenzinitiative im Jahr 2010. Professor Conermann sagt: "Eine unserer Hauptaufgaben ist es, einen Projektantrag unter eigener Federführung zu erarbeiten." Als Basis für einen aussichtsreichen Antrag im Rahmen der Exzellenzinitiative müsste die Fakultät bereits im Vorfeld die Förderung von drei bis vier koordinierten Projekten erreichen. Bis dahin liegt noch viel Motivations- und Vermittlungsarbeit vor dem neuen Prodekan.


weitere Infos unter: www.limes-bonn.de


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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Nr. 1, Februar 2009,
Seite 8-9
Herausgeber:
Rektorat und Senat der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Abt. 8.2 - Presse und Kommunikation
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Tel.: 0228/73 76 47, Fax: 0228/73-74 51
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forsch erscheint viermal pro Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2009