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ASYL/960: Gegen die Inszenierung des Notstands (Saarländischer Flüchtlingsrat e.V.)


Saarländischer Flüchtlingsrat e.V.
www.asyl-saar.de
Pressemitteilung vom 4. August 2015

Gegen die Inszenierung des Notstands
"Fluten, Wellen, Ströme" - Flüchtlinge sind keine Naturkatastrophe

Neues Positionspapier des SFR


In einem aktuellen Positionspapier übt der Saarländische Flüchtlingsrat (SFR) deutliche Kritik an der laufenden Asyldebatte. Bedrohungsszenarien wie "Flüchtlingsstrom schwillt an..." oder "ungebremster Zustrom von Flüchtlingen" oder gar die Rede vom "übergesetzlichen Notstand" erinnerten an die rassistischen Szenarien der 1990er Jahre wie "Asylantenflut" oder "das Boot ist voll".

"Im biologistischen Bild der Naturkatastrophe (Fluten, Wellen, Ströme) wird Flüchtlingen das Menschsein abgesprochen.", erklärte Roland Röder für den SFR und weiter: "Diese Bilder erklären Flüchtlinge zu 'existenziellen Problemen', die unsere Gesellschaft managen oder schlimmer noch sich vom Hals schaffen muss." Das spiele rechtspopulistischen Parteien oder Bewegungen wie PEGIDA direkt in die Hände.

"Auch das Unwort vom Asylmissbrauch ist eine wiederkehrende Stereotype im deutschen Einwanderungsdiskurs.", ergänzte Peter Nobert ebenfalls für den SFR. "Von der Sache her gibt es überhaupt keinen Asylmissbrauch, sondern lediglich eine Ablehnung des Asylantrags durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)." Wer von Asylmissbrauch spreche, ziele auf Ablehnung der Flüchtlinge in der Bevölkerung.

"Heute gibt es neben politischer Verfolgung viele weitere Gründe, warum Menschen flüchten müssen.", so Peter Nobert weiter. Der Saarländische Flüchtlingsrat sortiere nicht nach Gründen. Aus menschenrechtlicher Sicht sei es unerheblich, warum Menschen flüchten würden - aber wer flüchten müsse, habe einen Anspruch auf Schutz. Nach wie vor gebe es in unserer Gesellschaft oft ein Desinteresse gegenüber den Lebensbedingungen des globalen Südens. Doch niemand könne so tun, als habe er damit nichts zu tun.

"Vieles, was aktuell im Saarland in Sachen Flüchtlingspolitik passiert, passiert Hals über Kopf. Die Landesregierung reagiert auf eine Situation, auf die sie sich nicht vorbereitet hat.", kritisierte Roland Röder. So hänge im Saarland die hohe Zahl an Flüchtlingen im Flüchtlingslager Lebach damit zusammen, dass dieses über viele Jahre zu einer Daueraufenthaltsstätte zweckentfremdet worden sei. Eine Verteilung von Flüchtlingen in die Kommunen finde erst wieder seit Kurzem statt und es räche sich jetzt, dass in den Jahren davor die Aufnahme in den Kommunen überhaupt nicht vorbereitet worden sei.

"Darüber hinaus ist bei einem Leerstand von rund 20.000 Wohnungen in den Kommunen noch Luft nach oben.", so Roland Röder abschließend. Kurzfristige Übergangslösungen wie Zelte oder Lebensmittelpakete seien kein Problem, solange sie nicht zu Dauerzuständen würden.

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Von Fluten, Wellen und Strömen - Flüchtlinge sind keine Naturkatastrophe - es gibt keinen Asylmissbrauch


Am 15. Juli titelte die Saarbrücker Zeitung: "Notruf aus der Landesregierung - Appell von vier Ministern: 'Wir brauchen dringend Wohnraum für Flüchtlinge'". Und sechs Tage später hieß es sogar auf der Titelseite: "Minister warnt vor Zeltstädten im Saarland - Bouillon: 'Flüchtlingsstrom schwillt an...'". Die Kernaussagen dieses Artikels sind: "Bouillon schlägt Alarm (.) Nächstes Jahr könnten auch hierzulande Zeltstädte entstehen (.) ungebremster Zustrom von Flüchtlingen." Am 30. Juli legte Bouillon noch einmal nach und warnte: "Ohne Wohnraum steuern wir auf eine Katastrophe zu" und schwadronierte über einen "übergesetzlichen Notstand".

Diese Artikel und viele weitere mehr, auch bundesweit, suggerieren angesichts steigender Flüchtlingszahlen vor allem eins: Probleme, Krise und Notstand. So als wäre die Gesellschaft schicksalhaft einer auf sie zukommenden katastrophalen Situation ausgeliefert. Die Funktion dieser Aussagen ist zuerst einmal Stimmungsmache. Bedrohungsszenarien wie "Flüchtlingsstrom schwillt an..." oder "ungebremster Zustrom von Flüchtlingen" erinnern an die rassistischen Szenarien der 1990er Jahre wie "Asylantenflut" oder "das Boot ist voll". Im biologistischen Bild der Naturkatastrophe (Fluten, Wellen, Ströme) wird Flüchtlingen das Menschsein abgesprochen. Sie werden zu "existenziellen Problemen" erklärt, die unsere Gesellschaft managen oder schlimmer noch sich vom Hals schaffen muss. Das spielt rechtspopulistischen Parteien oder Bewegungen wie PEGIDA direkt in die Hände.

Das Gleiche gilt für die im deutschen Einwanderungsdiskurs immer wiederkehrende Stereotype vom "Asylmissbrauch". Als Ende Mai in Saarbrücken die Jahrestagung der Landkreise stattfand, titelte die Saarbrücker Zeitung: "Landräte beklagen Asylmissbrauch". Und Annegret Kramp-Karrenbauer sekundierte, man müsse konsequenter abschieben. Menschen, die aus bestimmten Ländern wie dem Kosovo oder Serbien hierher flüchten, wird generell Betrug unterstellt. Mal abgesehen davon, dass es von der Sache her keinen "Asylmissbrauch", sondern lediglich eine Ablehnung des Asylantrags durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gibt, zielt auch dieser Kampfbegriff auf Stimmungsmache und Ablehnung der Flüchtlinge in der Bevölkerung. Im Grunde schließt sich hier der Kreis zu einer Diskussion, deren Zauberworte Migrationssteuerung und Einwanderungsgesetz heißen. Wer nach kapitalistischen Verwertungskriterien gebraucht wird, sprich: nützlich ist, darf bleiben. Gegen den großen Rest wird die Mauer hochgezogen. Für den ist dann Frontex und die Bundespolizei zuständig.


Schweden, Dänemark, Norwegen, Malta und weitere Länder bei der Aufnahme von Flüchtlingen vor Deutschland - wer flüchten muss, hat Anspruch auf Schutz

Es stimmt zwar, dass die Aufnahmezahlen in Deutschland höher als vor fünf Jahren sind, aber nach wie vor lächerlich niedrig im internationalen Vergleich. 2014 gab es in Deutschland rund 173.000 Asylerstanträge. Das ist bezogen auf die Einwohnerzahl Platz 8 in Europa. Ein kleines Land wie der Libanon mit 4,5 Millionen Einwohnern hat im gleichen Zeitraum mehrere Hunderttausend Menschen zusätzlich aufgenommen. In Europa liegen Länder wie Schweden, Dänemark oder Malta im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl bei der Erstaufnahme von Flüchtlingen deutlich vor Deutschland. Und überhaupt: Mehr als 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht und die wenigsten von ihnen suchen den Weg nach Europa. Der "klassische Grund" wie er im Grundgesetz vorgesehen ist ("politisch Verfolgte genießen Asylrecht") wurde von der Wirklichkeit längst überholt. Neben politischer Verfolgung sind weitere Gründe hinzu gekommen, die unmittelbar mit der krisenhaften Entwicklung der Welt und der Zerstörung von Lebensgrundlagen zusammenhängen. Als Flüchtlingsrat sortieren wir nicht nach Gründen. Aus menschenrechtlicher Sicht ist es unerheblich, warum Menschen flüchten - aber wer flüchten muss, hat einen Anspruch auf Schutz.


Hausgemachte Schwierigkeiten - Lager Lebach als Daueraufenthaltsstätte zweckentfremdet - Integration lange Zeit Fremdwort

Vieles, was im Saarland in Sachen Flüchtlingspolitik gerade passiert, passiert Hals über Kopf. Die Landesregierung reagiert auf eine Situation, auf die sie sich nicht vorbereitet hat. Anders gesagt: Die Probleme sind hausgemacht, auch bundesweit. In der Zeit, als weniger Flüchtlinge nach Deutschland kamen, wurden aus Kostengründen Aufnahmekapazitäten runter gefahren. Im Saarland wiederum hängt die hohe Zahl an Flüchtlingen im Lager Lebach damit zusammen, dass die Landesaufnahmestelle seit vielen Jahren als Daueraufenthaltsstätte für Flüchtlinge zweckentfremdet wird. Eine Verteilung von Flüchtlingen in die Kommunen findet erst wieder seit 2013 statt und es rächt sich jetzt, was viele Jahre lang versäumt wurde: Ohne Zeitdruck Erfahrungen in den Kommunen zu sammeln. Wie sieht es aus? Wo fehlen Wohnungen? Wo fehlen Beratungs- und Betreuungsangebote? usw. Jetzt muss alles schnell und gleichzeitig passieren. Und von wegen "Integration": Das war doch bis vor Kurzem noch ein Fremdwort in der Flüchtlingspolitik. Nur wer als Asylsuchender anerkannt war, hatte Anspruch auf Integration, alle anderen nicht. Dass mittlerweile eine Menge an Verbesserungsvorschlägen in der Diskussion sind und sich sogar die Landesregierung um "Willkommenskultur" bemüht, ist zuerst einmal den selbstorganisierten Kämpfen von Flüchtlingen und der Arbeit von Flüchtlingsorganisationen zu verdanken.


Kommunen: Solidarität bei leeren Kassen - es gibt keinen Notstand - Ausstieg aus der Abschottungslogik - die Kosten der Freiheit tragen die Flüchtlinge und viele Länder des Südens - die Erde ist für alle da

Viele saarländische Kommunen sind hoch verschuldet und es fehlt Geld für wichtige Infrastrukturprojekte. Das ist ein unmittelbares Ergebnis einer seit Jahrzehnten bundes- bzw. europaweit betriebenen neoliberalen Politik. Doch die chronische Unterfinanzierung der Kommunen ist vollkommen unabhängig von der Frage, wie viele Flüchtlinge in den Kommunen aufgenommen werden. Hier muss man also aufpassen, dass man keine falschen Zusammenhänge herstellt. Das eine ist, diese prekäre Entwicklung zu thematisieren und zu kritisieren, das andere, sie in der aktuellen Situation nicht gegen diejenigen zu drehen, die ihre Länder wegen Krieg und Not verlassen mussten. Auch deswegen sagen wir: Es gibt keinen Notstand, keine Gemeinde steht mit dem Rücken zur Wand. Die Kosten der Freiheit tragen zuerst einmal die Flüchtlinge selbst und viele Länder des Südens.

Wo die Aufnahme gewollt ist, wird sie gelingen. Die Voraussetzungen dafür sind so günstig wie nie. Überall in saarländischen Gemeinden wächst die Solidarität mit Flüchtlingen. Menschen aus Vereinen, Kirchen und kommunalen Einrichtungen treffen sich an Runden Tischen und überlegen zusammen, was gebraucht wird und was getan werden muss, damit Flüchtlinge in den Gemeinden wirklich willkommen sind. Die Bereitschaft zur Solidarität ist groß. Viele Menschen wollen sich engagieren, sie möchten helfen und sie machen es in der Regel umsonst. Und das ist nicht nur im Saarland so. Ganz ohne Geld läuft es aber nicht. Da steht der Staat in der Pflicht. Wer 130 Millionen für einen G7-Gipfel in Elmau/Bayern ausgibt, sollte auch eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik finanzieren können. Da sind wir ganz bei Magnus Jung (SPD) und seinem Satz: "Menschenrechte nicht nach Kassenlage." Als Flüchtlingsrat wollen wir mit dazu beitragen, dass die Politik der Abschottung, der polizeilich-militärischen Abwehr, der Lagerunterbringung und der Abschiebungen beendet wird. Das beinhaltet auch das oft existierende Desinteresse gegenüber den Lebensbedingungen des globalen Südens zu beenden. Niemand kann so tun, als hätte er damit nichts zu tun. Es ist halt leichter von "Asylmissbrauch" zu schwafeln, als gesellschaftspolitische Verantwortung zu übernehmen. Das Grenzen ziehende und nach Verwertungskriterien sortierende EU-Regime ist tödlich. Die Zeit ist reif aus dieser Logik auszusteigen. Es geht um Menschenrechte und das Recht eines jeden Menschen, sich in dieser Welt frei zu bewegen. Schließlich ist die Erde doch für alle da. Oder?

4. August 2015

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Quelle:
Pressemitteilung und Positionspapier vom 4. August 2015
Saarländischer Flüchtlingsrat e.V.
Kaiser Friedrich Ring 46, 66740 Saarlouis
Tel.: 06831 - 4877938, Fax: 06831 - 4877939
E-Mail: fluechtlingsrat@asyl-saar.de
Internet: www.asyl-saar.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2015

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