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ASYL/860: Das Protestcamp am Berliner Oranienplatz ist geräumt (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 16 vom 18. April 2014
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Das Protestcamp am Berliner Oranienplatz ist geräumt
... aber der Flüchtlingsprotest ist noch lange nicht Geschichte

von Stefan Natke



Am frühem Morgen des 8. April kommt ein mit Hämmern, Beilen und Nageleisen bewaffnete Vorhut von ca. acht Flüchtlingen, bis dato Bewohner des Camps, und beginnt die Hütten und Zelte der Flüchtlinge am Oranienplatz in Berlin Kreuzberg einzureißen. Ihnen folgt ein Trupp der Berliner Stadtreinigungsfirma BSR und schafft mit Radladern das Abrissgut weg. Zur gleichen Zeit verbreitet die bürgerliche Presse, dass die Flüchtlinge freiwillig mit dem Abriss ihres Camps begonnen hätten, nachdem sie mit dem Senat eine Einigung erzielt hätten. Sie würden in ein Haus an der Gürtelstraße ziehen, das Camp würde damit obsolet. Der Abriss wird von Presse und Politikern begleitet. Polizei ist weit und breit nicht zu sehen. Sie ist auch nicht notwendig, denn die mit nagelneuem Werkzeug und weißen Arbeitshandschuhen ausgerüsteten afrikanischen Flüchtlinge verrichten die Polizeiarbeit viel besser.

Niemand der Campbewohner wagt es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Einige sind starr vor Erstaunen, andere weinen vor Wut: "Ihr habt Euch kaufen lassen und uns gleich mit verkauft", rufen sie ihren ehemaligen Kampfgefährten zu und: "Ihr macht für sie die Drecksarbeit." - "Wir haben keine Wahl", ist die Antwort. Es ist ein trauriges Bild. Es hat mal wieder geklappt: Die alte Schule des Kolonialismus hat, nach ihrem Credo "Teile und Herrsche" handelnd, abermals gesiegt.

Nach kurzer Zeit ist der Oranienplatz komplett eingezäunt, der Boden bearbeitet und die Freude über die neue Raseneinsaat auf einem Schild fixiert. - Nach dem Motto "Endlich sind sie weg". Aber es sind nicht alle weg. Einige der standhaften Flüchtlingsprotestler, unter ihnen die Sprecherin des Flüchtlingsrates Napuli Paul Langa und einige Unterstützer aus dem Solidaritätskomitee hatten die Situation erkannt und sich auf die Bäume geflüchtet, um dort auszuharren und den Protest fortzuführen.

Nun ist der Moment gekommen, dass die Berliner Polizei auf den Plan tritt und den Zaun umstellt. Sie lässt niemanden zu den Leuten auf den Bäumen heran. Für den Rest des Tages und die folgende Nacht bleibt ihnen jede Versorgung untersagt.

Wie kam es zu dieser Situation?

Im Herbst 2012 liefen mehrere hundert Flüchtlinge aus verschiedenen Lagern, in denen sie nach dem Erreichen der BRD untergebracht wurden, von Würzburg aus in einem mehr als 650 km langen Protestmarsch nach Berlin. Dieser Marsch richtete sich gegen die menschenunwürdige Lagerunterbringung für Geflüchtete und gegen das Verbot der freien Bewegung im Lande. Es ist ihnen nicht gestattet, in der BRD zu arbeiten oder sich selbstständig einen Wohnsitz zu besorgen.

Es war eine politisch motivierte Aktion, die in der Errichtung eines Protestcamps auf dem Berliner Oranienplatz gipfelte, von wo aus dann diverse weitere Aktivitäten gestartet wurden. So wurde bereits nach kurzer Zeit die in der Nähe liegende ehemalige Gerhart-Hauptmann-Schule besetzt, die jetzt vielen Geflüchteten als Unterkunft dient.

Die Flüchtlinge waren in die Hauptstadt der Bundesrepublik gekommen, um ihren Forderungskatalog zu unterbreiten, weil hier die für ihre Misere verantwortliche Regierung ihren Sitz hat. Seit nunmehr eineinhalb Jahren kämpfen sie am Oranienplatz für die Abschaffung der Residenzpflicht, gegen Abschiebung und für ein Bleiberecht, für Arbeitserlaubnis und Bewegungsfreiheit sowie Gleichbehandlung in allen gesellschaftlichen Fragen.

Mit ihrem aktiven Protest gegen die menschenverachtende Flüchtlingspolitik der Bundesregierung haben sie eine breite Solidaritätsbewegung mobilisiert. In einem öffentlich geführten, symbolischen Tribunal wurden 2013 die Verantwortlichen für ihre miserable Situation angeklagt und entlarvt: Die Regierung der BRD, die zulässt, dass im Interesse der Profitmaximierung deutscher Konzerne sich die Lebensgrundlagen der Menschen in Afrika und dem Nahen Osten so verschlechtern, dass die Menschen dort keinen anderen Ausweg mehr sehen als ihre Heimat zu verlassen und unter Einsatz ihres Lebens den Weg in die zentraleuropäischen Metropolen suchen.

Anstatt auf die Forderungen der Flüchtlinge einzugehen, oder sie zumindest anzuhören, haben Politik und Verwaltung immer versucht, die ganze Angelegenheit als einmaliges Ereignis darzustellen: Einige Flüchtlinge seien um die Verbesserung ihrer persönlichen Situation bemüht und dafür gelte es jetzt eine kurzfristige Lösung zu finden. Immer wieder haben aber die Flüchtlinge über ihren Flüchtlingsrat verkünden lassen, es gehe nicht um eine humanitäre Lösung ihrer eigenen momentanen Situation, sondern um eine grundlegende (notwendige) Veränderung in der Politik in Bezug auf jene Flüchtlinge, die das Gebiet der BRD erreichen.

Während die im Bezirk Berlin-Kreuzberg regierenden Grünen zunächst unter Bezirksbürgermeister Schulz und später Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann immer den Anschein der Verhandlungsbereitschaft erweckten, fuhr die CDU im Berliner Senat unter Federführung des Innensenators Henkel von Anfang an die harte Linie und plädierte offen für eine polizeiliche Lösung. Sie orientierte auf eine gewaltsame Auflösung des nach ihrer Meinung illegalen Protestcamps auf dem Oranienplatz.

Das Camp der Flüchtlinge am O-Platz machte Schlagzeilen und wurde europaweit bekannt. Im Laufe der Zeit kamen viele andere hinzu, die nicht mit den ursprünglichen politischen Zielen der Protestbewegung vertraut waren. Ein großer Teil verfolgte primär die unmittelbare Verbesserung der eigenen persönlichen Lage, was nur allzu verständlich ist. Das führte allerdings dazu, dass die klare politische Ausrichtung des Protestcamps zunehmend in Gefahr geriet, zumal von Seiten der Politik materielle Zugeständnisse angeboten wurden, um den Protest zu verwässern.

Letztendlich gelang es der Verhandlungsführerin des Berliner Senats, Dilek Kolat (SPD), die Flüchtlinge in zwei Interessengruppen zu spalten und eine davon in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Nach einigen Wochen der internen Auseinandersetzungen um die Einigungsangebote des Senats, welche keine einzige Antwort auf die politischen Forderungen aus dem Flüchtlingsmarschprogramm enthielt, unterzeichneten einige der Flüchtlinge ein Abkommen mit dem Senat, welches sie zum selbstständigen Abbau des Camps verpflichtete. Im Gegenzug dazu gab es für sie eine feste Unterkunft einschließlich 100 Euro Begrüßungsgeld und die Aussicht auf eine wohlwollende Überprüfung ihrer Asylverfahren.

Die letzte Aktivistin jener, die in auswegloser Lage am Dienstagmorgen der vergangenen Woche auf die Bäume geklettert waren, Napuli Paul Langa, kam am Samstagabend um 23:00 Uhr über eine Leiter herunter, nachdem der O-Platz von Einheiten des SEK umstellt und die Bäume mit Scheinwerfern ausgeleuchtet wurden. Man hatte ihr seitens des Senats schriftlich zugesichert, dass zumindest das Infozelt und das als Zirkuszelt bekannte Versammlungszelt wieder auf dem Platz aufgestellt würden. Fünf Tage und vier Nächte hatte sie auf einer Platane ausgeharrt. Einige der gegen ihren Willen vertriebenen Protestcampbewohner hatten in dieser Zeit auf der anderen Seite des Oranienplatzes einen Sitzhungerstreik begonnen, der zu Redaktionsschluss der UZ noch anhält. Ihre Forderungen sind: Bleiberecht für Alle, keine Räumung der von den Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule und Duldung dieser als Flüchtlingszentrum sowie die Rückkehr ihres Zeltes des Infopoints auf den Oranienplatz.

Am Sonntag, 13.4., starteten die Bewohner der Schule eine Solidaritätsdemonstration zu den Hungerstreikenden am Oranienplatz, die breite Unterstützung bei den Kreuzbergern fand. Von einigen hundert Demonstranten zu Beginn, schwoll diese auf dem Weg zu den Streikenden schnell auf über tausend TeilnehmerInnen an. Der Flüchtlingsprotest auf dem Oranienplatz ist noch lange nicht Geschichte.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 46. Jahrgang, Nr. 16 vom 18. April 2014, Seite 4
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2014