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ASYL/717: Abschiebehaft in Schleswig-Holstein - Jugendschutz statt Freiheitsentzug (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 55/56 - Sommer 2011
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Jugendschutz statt Freiheitsentzug
Abschiebungshaft in Schleswig-Holstein

von Andrea Dallek


Jährlich erscheint der Jahresbericht des Landesbeirates für den Vollzug der Abschiebungshaft in Schleswig-Holstein. Neben Daten und Fakten zur Haft werden auch Forderungen nach Verbesserungen der Haftbedingungen genannt.


Dem Jahresbericht 2010 des Landesbeirates für den Vollzug der Abschiebungshaft in Schleswig-Holstein sind sehr deutliche Aussagen zu entnehmen: Aufgrund der hohen Zahl der auf Antrag der Bundespolizei Inhaftierten tritt der Landesbeirat dafür ein, dass zumindest für Personen, die in einem der Vertragsstaaten der Abkommen von Schengen und Dublin aufenthaltsberechtigt sind, die Rückführung aus Deutschland in den jeweiligen Staat ohne Abschiebungshaft ermöglicht wird.

Weiterhin sollten Personen, die zwar unberechtigterweise nach Deutschland eingereist sind, aber in einem öffentlichen Verkehrsmittel im grenznahen Raum erkennbar bei der Ausreise aus Deutschland angetroffen werden, nicht an ihrer Ausreise gehindert werden. Bei Festnahmen nach der Einreise aus einem Nachbarland im grenznahen Bereich innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sollte die unmittelbare Rückführung in das jeweilige Nachbarland mehr als bisher ermöglicht werden.

Die Forderung, Personen nicht in Haft zu nehmen, die sich gerade bei der freiwilligen Ausreise befinden, erscheint befremdlich. Doch die Praxis zeigt, dass diese Forderung wohl erforderlich ist. Hier ein Beispiel aus Schleswig-Holstein:

"Ein in einem skandinavischen Land lebender Flüchtling aus Afrika mit Arbeitserlaubnis und Arbeitsplatz will über Deutschland nach Belgien reisen, um dort an der Beerdigung einer engen Verwandten teilzunehmen. Bei seiner illegalen Durchreise durch Deutschland wird er von der Bundespolizei aufgegriffen und auf deren Antrag in der Rendsburger Abschiebehafteinrichtung (AHE) in Abschiebungshaft genommen. Während einer länger andauernden Haft beteuert er immer wieder, er müsse an seinen Aufenthaltsort in Skandinavien zurückkehren, weil er sonst Gefahr liefe, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.

In dem genannten Beispiel erweist sich die angeordnete Abschiebungshaft nicht nur aus rechtlichen Gründen als unzulässig, sondern auch aus pragmatischer Sicht als völlig sinnlos: Welchem Zweck wird damit gedient, dass mit öffentlichen Mitteln ein Mensch zwangsweise festgesetzt wird, wenn er freiwillig an den Ausgangsort seiner Reise zurückkehren will, um dort seinen Arbeitsplatz wieder einzunehmen?" (Quelle: Jahresbericht 2010 des Landesbeirates für den Vollzug der Abschiebungshaft in Schleswig-Holstein)


Daten und Fakten der Abschiebungshaft Rendsburg 2010

In 2010 wurden insgesamt 309 Häftlinge in der Rendsburger AHE inhaftiert. Davon wurden:

• 232 Personen auf Antrag der Bundespolizei in Schleswig-Holstein,

• 76 Personen auf Veranlassung von Ausländerbehörden und anderen Behörden und

• eine Person auf Veranlassung der Polizei im Rahmen der sog. Polizeilichen Wegweisung in Abschiebungshaft inhaftiert.

Die durchschnittliche Verweildauer der Inhaftierten in Rendsburg lag im Jahr 2010 bei 29,73 Tagen. Die längsten Haftzeiten in 2010 mit 107, 110, 118 und gar 271 Tagen sprengen jeden Rahmen des Hinnehmbaren.

Im Jahr 2010 sind 57 Personen (ca. 19 % aller Inhaftierten) aus der Abschiebungshaft entlassen worden, weil sich ihre Abschiebung als nicht durchführbar erwiesen hat. Hier hat eine gründliche Prüfung der Durchführbarkeit der Abschiebung offensichtlich nicht stattgefunden.

Insgesamt wurden im Jahr 2010 aus der Abschiebungshafteinrichtung Rendsburg

• 180 Personen in ein europäisches Drittland abgeschoben (58,25 %),

• 66 Personen ins Herkunftsland abgeschoben (21,36 %),

• 57 Personen entlassen (18,45 %) und

• 6 Personen in andere Justizvollzugsanstalten verlegt (1,94 %).

Erneut ist die weitaus größte Zahl der Inhaftierten (ca. 59 %) in ein EU-Land und nicht in ihr Heimatland zurückgeschoben worden.

Aus dem Irak kamen 57 der Inhaftierten, 45 aus Afghanistan, 22 aus Albanien, 17 aus Algerien, 14 jeweils aus dem Kosovo, Somalia oder der Türkei.

Das Land Schleswig-Holstein inhaftiert außer in der Abschiebungshafteinrichtung in Rendsburg auch Personen im Land Brandenburg in der Abschiebungshafteinrichtung Eisenhüttenstadt.

Hier wurden im Jahr 2010 insgesamt 7 Personen inhaftiert (5 Frauen und 2 Männer).


Jugendliche in Haft

Entgegen der Regelungen der Rückführungsrichtlinie wurden auch im Jahr 2010 jugendliche unbegleitete Flüchtlinge in Rendsburg in Abschiebungshaft genommen, ohne juristischen Beistand oder die räumliche Trennung von erwachsenen Häftlingen zu ermöglichen.

Im Jahr 2010 wurden in Rendsburg insgesamt neun Jugendliche inhaftiert. Alle Jugendlichen wurden auf Veranlassung der Bundespolizei in Abschiebungshaft genommen.

Drei der Jugendlichen kamen aus Afghanistan sowie jeweils ein Jugendlicher aus folgenden Ländern: von der Elfenbeinküste, aus Somalia, aus dem Iran, aus Palästina, aus dem Irak und aus Algerien.

Acht Jugendliche wurden in ein europäisches Drittland abgeschoben (Norwegen, Italien, Belgien, Niederlande, Österreich, Irland), ein Jugendlicher wurde aus der Abschiebungshaft nach Einlegen einer Haftbeschwerde entlassen und nach § 42 SGB VIII Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz in einer Jugendhilfeeinrichtung in Schleswig-Holstein untergebracht.

Die Jugendlichen waren im Durchschnitt 30,88 Tage in Abschiebungshaft. Der Jugendliche mit der längsten Haftdauer war 60 Tage in Abschiebungshaft, bevor er nach Italien abgeschoben wurde.


Fazit

Der Bericht der Jahresbericht 2010 des Landesbeirates liefert weitere Fakten für die Unterstützung der auf der 11. Tagung gegen Abschiebungshaft im März 2011 in Heide formulierten Forderungen nach Umsetzung der Rückführungsrichtlinie:

Die Abschiebungshaft von schutzbedürftigen Personen muss beendet werden!

Das Wohl des Kindes muss Vorrang haben vor der Einweisung in die Haft!

Eine kostenlose Rechtsberatung und -vertretung für das komplette Rückführungsverfahren muss gestellt werden.

Dass Abschiebungshaft keinen Gefängnischarakter haben darf, sieht sowohl die Richtlinie als auch die Forderung des Antifolterkommites des Europarates vor.

Jugendschutz lässt sich nicht in Einklang bringen mit Abschiebungshaft. Darum gehören Jugendliche prinzipiell nicht in Abschiebungshaft.

Abschiebungshaft bedeutet immer einen Freiheitsentzug, also die gravierendste Form des staatlichen Eingriffes in die Freiheitsrechte. Es ist nicht hinzunehmen, dass die Haft in Fällen angeordnet wird, in denen die Abschiebung nicht vollzogen werden kann. Die Gerichte in Schleswig-Holstein müssen wieder vermehrt prüfen, ob andere (mildere) Mittel wie die Begleitung von Personen, die sich schon auf der Ausreise befinden, nicht genutzt werden können.

Auch der Landesbeirat stellt Mängel bei den Haftanordnungen der Amtsgerichte fest: "Schon die grundsätzliche Frage, ob die Abschiebungshaft überhaupt erforderlich ist, wird häufig nicht gründlich geprüft."


Andrea Dallek ist Mitarbeiterin des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.

Der Bericht des Landesbeirates 2010 ist zu finden unter:
www.frsh.de/fileadmin/pdf/Abschiebungshaft/bericht_2010_beiratSH_A-Haft.pdf


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 55/56 - Sommer 2011, Seite I-IV
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität
in Schleswig-Holstein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2011