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ASYL/677: Endlich angekommen? (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

Endlich angekommen?

Dublin-Überstellungen nach Griechenland auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand

Von Marei Pelzer


Die Familie von Issam M. (*) stammt aus Eritrea. Weil ihr politische Verfolgung drohte, musste sie in den Sudan fliehen. Issam wuchs als Flüchtlingskind ohne jede Chance auf Rückkehr in die Heimat seiner Eltern, ohne wirklichen Schutz und ohne Perspektive in einem Flüchtlingslager auf. Der erwachsen gewordene Issam verließ das Lager und machte sich auf den langen Weg nach Europa. Seine Flucht führte ihn über die Türkei durch Griechenland und schließlich nach Deutschland. Karlsruhe ist nun der Ort, an dem über sein weiteres Schicksal entschieden wird.


Hüter der Verfassung - Hüter des Asylrechts?

Am 9. Dezember 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die Abschiebung von Issam nach Griechenland vorläufig ausgesetzt. Der Entscheidung waren in den Wochen zuvor bereits sechs ähnliche Beschlüsse vorangegangen. Eine endgültige Grundsatzentscheidung soll im Laufe des Jahres 2010 gefällt werden. Notwendig war der Gang nach Karlsruhe geworden, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Issams Asylantrag mit der Begründung abgelehnt hatte, Griechenland sei zuständig. Am eigenen Leib hatte Issam bereits erfahren, was es heißt, in Griechenland als Asylsuchender zu leben. Er hatte dort versucht, Asyl zu erhalten. Doch sein Antrag wurde einfach abgelehnt mit der Aufforderung, das Land innerhalb eines Monats zu verlassen.

Eine wirkliche Prüfung seiner Fluchtgeschichte hat allerdings nie stattgefunden. Müsste Issam zurück nach Griechenland, wäre es so gut wie ausgeschlossen, dass er jemals als Flüchtling anerkannt würde. Damit wäre er aber auch nicht vor einer Abschiebung nach Eritrea oder einen anderen Staat außerhalb der EU sicher. Mit Flüchtlingsschutz, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention vorschreibt, hat das griechische System nichts zu tun.

Die Flüchtlinge landen in der Obdachlosigkeit, selbst Kinder. Sie werden den Gefahren, die ein Leben auf der Straße mit sich bringt, preisgegeben. Issam müsste das Leben eines Rechtlosen führen - dabei steht ihm nach dem Europäischen Asylrecht ein Status als Flüchtling zu und auch ein Mindestmaß an sozialer Unterstützung.


Innenbehörde bleibt hart

Die Situation von Issam ist kein Einzelfall. Im Jahr 2009 hat Deutschland in 2.288 Fällen ein Ersuchen an Griechenland gerichtet, den Flüchtling »zu übernehmen «. Das Bundesinnenministerium sah sich durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts nicht veranlasst, Abschiebungen nach Griechenland bis zur endgültigen Karlsruher Entscheidung zu stoppen. Im Gegenteil: Die Abschiebungen nahmen sogar noch zu.

Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wurde von Oktober bis Ende 2009 in 721 Fällen ein Übernahmeersuchen an Griechenland gestellt. Das Bundesinnenministerium rief die Länder offiziell dazu auf, trotz der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts weiterhin Dublin-Überstellungen nach Griechenland vorzunehmen. 200 Überstellungen wurden 2009 vollzogen.

Immerhin wird bei besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen, die zum Beispiel traumatisiert, minderjährig oder schwanger sind, nach einer Anweisung des Innenministers im Einzelfall von einer Überstellung nach Griechenland abgesehen.

Als alleinstehender junger Mann hat Issam jedoch nach diesen Kriterien keine Chance, vor der Abschiebung nach Griechenland bewahrt zu werden. Ihm und vielen anderen bleibt nur noch der Rechtsweg. In Hunderten Fällen mussten 2009 Flüchtlinge vors Gericht ziehen, um die drohende Abschiebung nach Griechenland zumindest vorläufig zu verhindern. Durch funktionierende Beratungsstrukturen für Flüchtlinge und das Engagement der Rechtsanwälte konnte vielen Betroffenen geholfen werden.


Entrechtung mit System

Dabei werden die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge im Dublin-Verfahren um ihr Recht kämpfen, immer härter. So können seit 2007 Asylsuchende von Gesetzes wegen keinen Eilantrag mehr gegen eine drohende Überstellung in den zuständigen Dublin-Staat stellen. Die Folge ist, dass die Betroffenen zum Beispiel nach Griechenland überstellt werden, obwohl gerichtlich noch gar nicht entschieden ist, ob Deutschland das Asylverfahren nicht doch durchführen muss. Rein theoretisch müssten die Betroffenen von dort aus ihre Klagen auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland weitertreiben. Klar ist, dass das nicht funktionieren kann. Wie soll ein Flüchtling ohne festen Wohnsitz Kontakt zum Rechtsanwalt halten können? Wer in Griechenland gestrandet ist, hat wahrlich andere Sorgen.

Mit immer neuen Tricks versucht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge es den Betroffenen unmöglich zu machen, sich gegen drohende Abschiebungen zu wehren. Ein neuer Einfall des Amtes: Eine Anhörung des Asylsuchenden wird nicht mehr durchgeführt, wenn aufgrund bestimmter Umstände klar ist, dass eine Überstellung in einen anderen EU-Staat erfolgen soll. Damit nimmt man Flüchtlingen das Recht, ihre Sicht der Dinge darzustellen. So kommen humanitäre Gründe, die für einen Verbleib in Deutschland sprechen könnten, erst gar nicht mehr zur Sprache.


Nacht-und-Nebelabschiebungen

Die Abschiebungen in den zuständigen EU-Staat sind für die Betroffenen ein äußerst belastendes Ereignis. Ohne Vorwarnung werden sie oft frühmorgens aus den Betten geholt und zur Abschiebung abgeholt. Dass es nach Griechenland geht, erfahren sie erst in diesem Moment. Ein Eilantrag vor Gericht ist in einer solchen Situation kaum noch möglich. Was ist der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes unter diesen Umständen noch wert? Das Verwaltungsgericht Hannover hat deswegen im Dezember 2009 entschieden, dass eine solch späte Zustellung von Bescheiden durch das Bundesamt verfassungswidrig ist (VG Hannover, Beschluss vom 10. Dezember 2009, Az.: 13 B 6047/09). Ob das Bundesamt seine Praxis umstellen wird, muss sich erst noch erweisen.


Aussicht

Das Dublinsystem steht für ein Abdrängen der Verantwortung für Flüchtlinge an die Randstaaten der EU, in denen überproportional mehr Flüchtlinge ankommen als in anderen EU-Staaten. Da zählt es auch nicht, wenn ein Staat wie Griechenland vor dem finanziellen Bankrott steht und schon aus diesen Gründen nicht absehbar ist, wie sich künftig die Situation von Flüchtlingen dort verbessern soll.

Falls das Bundesverfassungsgericht den Überstellungen nach Griechenland keinen Riegel vorschiebt, bleibt immer noch der Weg zu den europäischen Gerichten: Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg und der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg werden dann in Zukunft zu entscheiden haben, ob es mit dem europäischen Flüchtlingsrecht und den Menschenrechten vereinbar ist, Asylsuchende in ein Land wie Griechenland zu überstellen.

(*) Name zum Schutz der Betroffenen verändert


*


Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 36-37
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2010