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ASYL/667: Leben im Lager (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

Leben im Lager

Von Timmo Scherenberg


Flüchtlinge können sich in Deutschland nicht aussuchen, wo sie nach ihrem Asylantrag leben möchten. Sie werden nach dem sogenannten Easy-System auf die Bundesländer verteilt und dann weiter nach entsprechenden Länderregelungen innerhalb des Bundeslandes. Dieser simple administrative Vorgang hat für die Betroffenen enorme Auswirkungen, denn die Bedingungen, unter denen sie die folgenden Monate und Jahre leben werden, sind je nach Bundesland und auch innerhalb der Bundesländer äußerst unterschiedlich. Wenn man jedoch einmal irgendwohin "zugewiesen" worden ist, ist es so gut wie unmöglich, daran noch etwas zu ändern.

Die Frage, ob eigene Wohnung oder Platz im Lager, Metropolenregion oder tiefste Provinz, Essenspakete, Gutscheine oder Bargeld, enger oder weiter Residenzpflichtbezirk, Kontakt zu Communities oder Alleinsein auf weiter Flur, die Möglichkeit zu arbeiten oder nicht, alles das hängt von der einen kleinen Zuweisungsentscheidung ab, wie sie jeden Tag hundert Mal in Deutschland getroffen wird.


Ein Beispiel aus Hessen

Oberursel, Hochtaunuskreis. Der reichste Landkreis Deutschlands. Hier wohnen diejenigen, die in den Bankentürmen der Frankfurter Innenstadt arbeiten. Am Stadtrand, hinter einem Gewerbegebiet versteckt, liegt das örtliche Flüchtlingslager. Es ist ein trister Ort, von dem ihn umgebenden Wohlstand keine Spur. Etwa 200 Container stehen hier in drei großen Blöcken, zweigeschossig und jeweils mit einem gut einen Meter breiten Flur in der Mitte. Jeder Container misst 5,80 x 2,50 Meter und ist für zwei Personen ausgelegt, für Familien mit Kindern können zwei Container zu einem großen zusammengelegt werden. Für jeden Flur gibt es zwei nach Geschlechtern getrennte Sanitärcontainer und einen "Küchencontainer".

Das bedeutet, dass es ein paar metallene Spülbecken und ein paar stählerne Tische gibt, auf denen einige lose Kochplatten für die Steckdose herumstehen. Backöfen gibt es nicht, Kühlschränke müssen sich die Bewohnerinnen und Bewohner in ihre kleinen Wohncontainer quetschen, Küchenutensilien ebenso. Allgemein zugängliche Gemeinschafts- oder Aufenthaltsräume sind nicht vorhanden. Ein größerer Container kann für Familienfeiern o.ä. angefragt werden. Darüber hinaus gibt es nur noch die Arbeit eines externen Sozialarbeiters, der sich halbtags um die Kinder kümmert.


Aufgewachsen im Containerlager

Es gibt Jugendliche, die ihr ganzes Leben in diesem Lager verbracht haben. Was das für die Entwicklung eines jungen Menschen bedeutet, kann man sich nur schwer vorstellen: Keinerlei Privatsphäre, 24 Stunden am Tag mit Eltern und Geschwistern in einem Raum, die einzige Rückzugsmöglichkeit heißt "draußen". Freunde mit nach Hause bringen ist quasi undenkbar, Kindergeburtstage veranstalten völlig illusorisch. Das führt natürlich auch dazu, dass die Kinder in ihren Schulklassen zusätzlich isoliert werden - ein weiterer Schritt zur Ghettobildung. Gleichzeitig wird von Seiten der Politik über mangelnde Integration lamentiert und diese beispielsweise bei der Bleiberechtsregelung offensiv eingefordert - nachdem die Menschen jahrelang aufs Äußerste ausgegrenzt worden sind. Anträge auf Auszug werden nur in Ausnahmefällen genehmigt, etwa wenn dies aus medizinischen Gründen notwendig ist. Und selbst wenn es eine Familie geschafft hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen und damit theoretisch ausziehen darf, ist dies nicht immer möglich, da es im teuren Hochtaunuskreis schwierig ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden und nicht genügend Sozialwohnungen bereitgestellt werden.


Menschenwürdige Unterbringung ist möglich

Dass es auch anders geht, zeigen viele Beispiele. Das Hessische Landesaufnahmegesetz stellt es den Landkreisen und Kommunen frei, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Das benachbarte Frankfurt oder der nahe gelegene Landkreis Gießen bringen bewusst fast alle Flüchtlinge dezentral, also in Wohnungen, unter. Im Hochtaunuskreis liegt die Quote dezentraler Unterbringung hingegen bei nur 21 %. Aber selbst Gemeinschaftsunterkünfte können ganz anders gestaltet werden. In Grävenwiesbach, auch im Hochtaunuskreis, betreibt die Diakonie ein in den Ort integriertes Reihenhaus mit eigenen Wohneinheiten als Gemeinschaftsunterkunft. Jeweils 2 Familien teilen sich eine Küche und ein Wohnzimmer, die Bewohnerinnen und Bewohner sind gut in den Ort integriert und sind von der Dorfgemeinschaft offen aufgenommen worden.

Während im Zuge rückläufiger Flüchtlingszahlen im Hochtaunuskreis verschiedene andere und auch bessere Unterkünfte geschlossen wurden, hält die zuständige Behörde weiterhin beharrlich an dem Containerlager fest. Es werden sogar Flüchtlinge aus den geschlossenen Unterkünften in das Containerlager umgesiedelt. Dass kürzlich gerade der Hochtaunuskreis vom Land Hessen als "Modellregion Integration" ausgewählt wurde, erscheint vor diesem Hintergrund wie Hohn.

Das geschilderte Beispiel ist nur eines von vielen - ein extremes zwar, doch derlei Umstände sind kein Einzelfall - ganz Deutschland ist mit Lagern unterschiedlicher Couleur übersät. Manchmal in Verantwortung des Landes, manchmal in kommunaler. Es gibt aber auch überall immer lauter werdende Proteste gegen diese staatlich verordnete Isolations- und Desintegrationspolitik. Erste Wirkungen werden sichtbar: So sind bereits einzelne Lager geschlossen worden. In Bayern hat die Debatte über die Lager bereits den Landtag erreicht. An anderen Orten schließen sich Flüchtlinge zusammen und boykottieren die Essenspakete.

Flüchtlinge, die auf der Suche nach Schutz nach Deutschland kommen, sollten offen bei uns aufgenommen werden und über ihr Leben selbst bestimmen können, statt über Jahre in Lagern "verwahrt" zu werden. Über Integration wird dieser Tage viel geredet - Flüchtlingen eine echte Chance auf gesellschaftliche Teilhabe zu geben statt sie zu ghettoisieren, wäre ein guter Anfang. Jedes Jahr im Lager ist ein verlorenes Jahr, jeder Tag ist einer zu viel - sowohl für die Betroffenen, als auch für eine Gesellschaft, die die Menschenwürde als obersten Grundsatz ihrer Verfassung ausgibt.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 12-13
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010