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ASYL/645: Abschiebung von Roma - Eine Geschichte des Hasses (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Eine Geschichte des Hasses

Hinter den drohenden Abschiebungen von Roma aus Deutschland
öffnet sich ein geschichtliches Panorama des Antiziganismus.

Von Markus End


Die drohende Abschiebung von etwa 10.000 aus dem Kosovo geflohenen Roma öffnet exemplarisch den Blick auf die ganze Tragweite des modernen Antiziganismus und viele Facetten dieser weitreichenden Vorurteils- und Diskriminierungsstruktur. Davon ausgehend soll hier auf einen zentralen Aspekt, nämlich den soziologischen Hintergrund der langen Geschichte des Antiziganismus, eingegangen werden.

Die meisten kosovarischen Roma lebten vor dem NATO-Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 in separaten Stadtvierteln in eigenen Häusern, verfügten teilweise über einigen Wohlstand, einen verhältnismäßig hohen Bildungsgrad und gingen Berufen aller Bereiche nach. Sie entsprachen somit nicht dem gängigen Stereotyp vom "umherziehenden", "armen", "ungebildeten" und "arbeitsscheuen" "Zigeuner". Nachdem die UÇK mit Hilfe der NATO den Kosovo erobert hatte, nahm sie eine "ethnische Säuberung" vor, bei der neben anderen Minderheiten auch um die 100.000 Roma vertrieben wurden. Der UÇK war es also - wie allen AntiziganistInnen - egal, ob dies verbreitete Vorurteil, das zur Rechtfertigung des Unrechts herangezogen wurde, zutraf oder nicht. [1] Die Roma wurden in der überwiegenden Mehrzahl aus dem Land getrieben oder mussten fortan in von der UNO geschützten Flüchtlingslagern leben. Ein Großteil der Roma floh nach Serbien und Mazedonien, Zehntausende suchten in Westeuropa Asyl. Die dort Ankommenden entsprachen bereits stärker dem Stereotyp: Heimat- und obdachlos gemacht und vertrieben, bedienten sie auf den ersten Blick das Vorurteil des "umherziehenden und heimatlosen Zigeuners". Mittellos gemacht schienen sie das Vorurteil vom "armen Zigeuner" zu bestätigen, auf öffentliche Hilfe angewiesen wurden sie in den Augen einer antiziganistisch eingestellten Mehrheitsgesellschaft zu "Schmarotzern". An diesem Vorgang lässt sich sehr gut aufzeigen, wie der Antiziganismus sich "seine Zigeuner" nicht nur in der Vorurteilskonstruktion, sondern auch in der Realität selbst schaffen kann und schafft.


Roma drohen im Kosovo antiziganistische Übergriffe

Dabei ist wichtig festzuhalten, dass das Vorurteil der Realität vorausging. In Deutschland, beispielsweise in Köln, wurde die Stimmung gegen die Roma, die aus dem Kosovo geflohen waren, seit 2002 von regelmäßigen Hetzkampagnen gegen "Klau-Kids" oder "Bettel-Banden" angeheizt, wobei nie vergessen wurde, auf die Zugehörigkeit zu einer "mobilen ethnischen Minderheit" hinzuweisen. Nun sollen bis zu 10.000 Roma in den Kosovo abgeschoben werden, obwohl alle maßgeblichen internationalen Organisationen, die vor Ort sind, sagen, dass Roma dort antiziganistische Übergriffe sowie Ausschluss von Arbeitsmarkt, Gesundheitsversorgung und Bildungssystem erwarten. Eine mögliche historische Verantwortung der BRD - in Anbetracht der Tatsache, dass auch im Kosovo Roma von verschiedenen faschistischen Gruppen, zwischen 1943 und 1944 aber auch direkt von der SS, verfolgt und in Konzentrationslagern interniert worden waren [2] - wird weiterhin in der Öffentlichkeit ignoriert. Dies könnte als eine spezifische Form der Schuldabwehr interpretiert werden. Der nun unabhängige Staat Kosovo ist aus den Strukturen jener Organisation entstanden, die vor gut zehn Jahren die Vertreibungen betrieb oder zumindest billigte und förderte. Warum nun ein Meinungsumschwung bezüglich Roma stattgefunden haben sollte, hat noch niemand schlüssig darlegen können.

Alle diese Hintergründe sind relevant, um die politische Dimension der Abschiebungen von aus dem Kosovo geflohenen Roma aus der BRD zu erfassen.

Ungeklärt bleibt aber die Frage, wie die UÇK überhaupt erst auf die Idee kam, die Roma aus dem Kosovo zu vertreiben. Wie überhaupt die deutschen Medien auf die Idee kamen, die ankommenden Flüchtlinge für eine bedrohliche "stehlende" und "bettelnde" "Flut" aus dem Osten zu halten, für "heimatlose" "Schmarotzer", wie es im schlimmsten Fall heißt. Wie überhaupt schon die NationalsozialistInnen dazu kamen, Menschen als "Zigeuner" zu verfolgen und zu vernichten?


Konstruktion antiziganistischer Vorurteile:
"Nichtsesshaftigkeit" bedroht nationale Identität

Dafür ist eine Vorurteilsstruktur verantwortlich, die seit über 500 Jahren das "Wissen" der Mehrheitsgesellschaft über vermeintliche "Zigeuner" konstruiert und strukturiert. Die Stabilität und Langlebigkeit dieser Vorurteilsstruktur hängt damit zusammen, dass sie eng mit der Entwicklung sozialer Strukturen verknüpft ist, die auch heute noch die Gesellschaften prägen. Die Ursachen des Antiziganismus liegen also in den sozialen Verhältnissen der Mehrheitsgesellschaften begründet und nicht in den vermeintlichen "Eigenschaften" von "Zigeunern" oder auch nur in der gegenwärtigen sozialen Situation mancher Roma. Das Beispiel Kosovo hat gezeigt, dass die Realität für die AntiziganistInnen zweitrangig ist, dass sie sogar imstande sind, Menschen so zuzurichten, dass sie irgendwann dem Stereotyp entsprechen. [3]

Die Bedrohungsvorstellung durch die angebliche Nichtsesshaftigkeit der "Zigeuner" beispielsweise steht in engem Zusammenhang mit der Durchsetzung der Territorial- und später der Nationalstaaten in Europa. Dabei wurden feste Grenzen und eine eindeutige nationale Identität sehr wichtig. Diese Entwicklung war jedoch schon immer ambivalent und uneindeutig. In manchen Staaten finden sich mehrere "Nationen", manche "Nationen" waren lange Zeit auf mehrere Staaten aufgeteilt. Das Konzept selbst ist in sich widersprüchlich: Einerseits soll erst der Staat die Staatsbürgerschaft verleihen, andererseits sollen die Nationen aber bereits Tausende Jahre vorher existiert haben. "Blutrecht" und "Bodenrecht" werden miteinander vermischt. Diese Ambivalenzen werden nun in der Vorstellung der Mehrheitsgesellschaft unter anderem den "Zigeunern" zugeschrieben.

Ein Beispiel dafür ist das Stereotyp der "Spionage", die von "Zigeunern" angeblich immer wieder betrieben wird. Bereits auf dem Reichstag des Heiligen Römischen Reichs von 1498 in Freiburg wurde den "ziegeunern" unterstellt, dass sie "erfarer, usspeer und verkundschafter der christen lant" [4] seien. Ein Vorwurf, den Tobias Portschy, der im nationalsozialistisch besetzten Burgenland die Deportationen der Roma organisierte, 450 Jahre später in seiner Schrift zur "Zigeunerfrage" wieder aufgreift. Die Figur des "Spions" hat also eine lange Tradition. Sie steht genau für die unterstellte Infragestellung der nationalen Ordnung bzw. im 15. Jahrhundert noch der religiös geprägten staatlichen Ordnung. Während "treue Staatsbürger" oder "Untertanen" zu Ihrem "Land" halten, verrät der "Spion" das Land, in dem er lebt an ein anderes, in dem er nicht lebt. Folglich gehört er weder so richtig in das eine Land, noch so richtig in das andere Land, vielmehr ist er eine ambivalente Figur, die verfolgt werden muss.

Die "Zigeuner" repräsentieren dabei also einen angeblich vormodernen Gegenpol zu dieser territorial- und nationalstaatlichen Homogenisierung. In der Vorstellungswelt des Antiziganismus ignorieren sie die staatlichen Grenzen und lassen sich nicht in die angeblich fest verwurzelten nationalen Identitäten einteilen. Werden sie verfolgt und beseitigt, wird auf diese Art und Weise symbolisch die "nationale Ordnung der Welt" wieder hergestellt. Das heißt im Klartext, dass sich eine nationale Identität in Abgrenzung zu "den Zigeunern" herstellen lässt. Andererseits macht es all jenen, die sich nicht so eindeutig mit der Nation identifizieren, klar, dass sie potentiell mit Verfolgung zu rechnen haben, weil sie sich "zigeunerisch" verhalten. So wird der Vorwurf des "vaterlandslosen Gesellen" zu einer offenen Drohung.


Zugeschriebener "Müßiggang" als Gefahr für den "Volkskörper"

Auf eine ähnliche Art und Weise entstehen die Stereotype der "zigeunerischen Faulheit" und der "Zigeunerkriminalität". Diese Vorstellungen stehen in engem Zusammenhang mit der Durchsetzung der Arbeitsgesellschaft in Europa seit dem sechzehnten Jahrhundert. "Fleiß" und später "Produktivität" werden zu zentralen Tugenden der europäischen Gesellschaften. "Zigeuner" werden in den antiziganistischen Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft wiederum zum scheinbar vormodernen Gegenpol stilisiert. Ihnen wird genau das vorgeworfen, nicht zu arbeiten und trotzdem zu leben, indem sie sich wie "Parasiten" am Leib der "Wirtsgesellschaft" - oder mit nationalsozialistischen Termini ausgedrückt am "Volkskörper" - nähren.

Auch diese Stereotype sind Jahrhunderte alt: ein "Mandat wider die Zigeuner" von 1590 hält bereits fest, dass sie ein "diebisch Volck" seien, dem sich andere "müssiggänger" anschließen würden und die "die unterthanen, sonderlich uffm Lande, höchlich beschweren". [5] Heutzutage ist die Vorstellung von "Bettel-Roma", wie es das Boulevard-Blatt "B.Z." in Berlin ausgedrückt hat und vom "Holt die Wäsche rein, die Zigeuner kommen", wie es auf dem Lande heißt, so weit durchgesetzt, dass von "kulturellem Gedächtnis" [6] gesprochen werden könnte. In Ungarn etwa wird die angebliche "Zigeunerkriminalität" von weiten Teilen der Rechten als eines der größten Probleme des Landes angesehen.

Auch hier tauchen beide oben erwähnten Funktionen wieder auf: Zum Ersten benötigt der Stolz auf die eigene "ehrliche Arbeit", auf den "Fleiß" zur Abgrenzung die Vorstellung von der "zigeunerischen Faulheit", die von der eigenen "ehrlichen Arbeit" lebt. Wenn diese - wie in Krisenzeiten - nicht dazu führt, dass die Volkswirtschaft rund läuft, werden folglich unter anderem "die Zigeuner" dafür verantwortlich gemacht. Zum Zweiten werden auch hier Drohungen an all jene ausgesprochen, die sich vermeintlich "zigeunerisch" verhalten. In vielen Diskursen werden Begriffe wie "Asoziale", "Bettler" und eben "Zigeuner" beinahe synonym verwendet, wie sich das ja auch schon im oben zitierten Text aus dem 16. Jahrhundert andeutet, in dem festgestellt wird, dass sich den "Zigeunern" andere "müssiggänger" anschließen würden. [7]


Vorurteilsstruktur in die Kritik an den Abschiebungen einbeziehen

Eine ähnliche Analyse lässt sich für viele andere zentrale Stereotype des Antiziganismus vornehmen: So verwenden beispielsweise patriarchale Vorstellungen einer tugendhaften Weiblichkeit, die sich dem Mann unterzuordnen hat, als Gegenbild die Vorstellung der triebgesteuerten hochsexualisierten "Zigeunerin" à la Carmen, die die Männer um den Verstand bringt und so ihre Vorherrschaft bedroht. [8]

Wenn diese Hintergründe der Vorurteilsstruktur des modernen Antiziganismus unbeachtet bleiben, kann es leicht passieren, dass eine Kritik an Abschiebungen von Roma in den Kosovo zu kurz greift. Indem sie nur kritisiert was ist, aber nicht wie und unter welchen Bedingungen es geworden ist und reproduziert wird. Die soziale Situation der geflohenen Roma, die gegenwärtige Situation in der BRD und die Stimmung in der Bevölkerung und in den Medien, die Verweigerung der Verantwortungsübernahme für nationalsozialistische Verfolgung durch die Innenministerkonferenz, die drohende Verfolgung und soziale Exklusion im Kosovo, alle diese Aspekte müssen als geprägt durch die Vorurteilsstruktur, die Geschichte und die Praxis des modernen Antiziganismus begriffen und analysiert werden.


Markus End hat Politikwissenschaft, VWL und Geschichte studiert. Er promoviert am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin zu Semantiken des Antiziganismus. Mit Kathrin Herold und Yvonne Robel hat er den Sammelband "Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments" herausgegeben (Unrast-Verlag, Münster 2009).


Anmerkungen

[1] Vgl. den Text von Dirk Auer in diesem Heft

[2] Vgl. Fings, Karola/ Lissner, Cordula/ Sparing, Frank 1992: "... einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst." Die Verfolgung der Roma im faschistisch besetzten Jugoslawien 1941 - 1945. Köln, S. 43.

[3] "Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich. [...] Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht zugelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben, dem prospektiven Opfer." Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. 1969: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main, S. 196.

[4] Zitiert nach Wippermann, Wolfgang 1997: "Wie die Zigeuner". Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich. Berlin, S. 50.

[5] Zitiert nach ebd., S. 55.

[6] Siehe u. a. Assmann, Jan 1992: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München.

[7] Diese Analysen basieren im weitesten Sinne auf zwei zentralen Texten: Maciejewski, Franz 1996: Elemente des Antiziganismus, in: Giere, Jacqueline (Hg.): Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners: Zur Genese eines Vorurteils. Frankfurt am Main, S. 9-28 und Hund, Wulf D. 1996: Das Zigeuner-Gen. Rassistische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders. (Hg.): Zigeuner: Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion. Duisburg, S. 11-35.

[8] Vgl. Eulberg, Rafaela 2009: Doing Gender and Doing Gypsy: Zum Verhältnis der Konstruktion von Geschlecht und Ethnie. In: End, Markus; Herold, Kathrin und Robel, Yvonne (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster, S. 41-66.


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010, Seite 12-15
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2010