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ASYL/1392: Einrichtung einer Zentralen Abschiebebehörde ab 01.07.2019 ist Irrweg der Landesregierung (Flüchtlingsrat Niedersachsen)


Flüchtlingsrat Niedersachsen - 26. Juni 2019

Einrichtung einer Zentralen Abschiebebehörde ab 01.07.2019 ist Irrweg der Landesregierung

- Flüchtlingsrat fordert Schaffung von Bleibeperspektiven statt Fokus auf Abschiebungen.
- Zentralisierung führt zu immer härteren Abschiebepraktiken.
- Abschiebepolitik betrifft Menschen, die schon lange ihren Lebensmittelpunkt in Niedersachsen haben.


Unter weitgehender Nichtbeteiligung des Parlaments und ohne Beteiligung der Träger der Freien Wohlfahrtspflege sowie der Migrant_innen- und Menschenrechtsorganisationen treibt das niedersächsische Innenministerium unter Innenminister Boris Pistorius mit der Entwicklung eines Feinkonzepts zum Projekt "Weitere Zentralisierung des Rückführungsvollzuges" (Stand: 23. Mai 2019) den Abschiebungsvollzug voran. Lediglich die Kommunalen Spitzenverbände wurden angehört, obwohl langfristig eine massive Umgestaltung der Verwaltungsstruktur mit schwerwiegenden Auswirkungen für die Betroffenen geplant ist. Bereits zum 01. Juli 2019 soll die erste Stufe der Umsetzung des Konzepts starten.

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisiert die Einrichtung einer Zentralen Abschiebebehörde durch die Landesregierung scharf. Innenminister Boris Pistorius und die niedersächsische Landesregierung lassen sich von rechts vor sich hertreiben: Statt eine menschenwürdige Aufnahme zu garantieren und Bleiberechtsperspektiven für Flüchtlinge zu schaffen, verbeißt sich die Landesregierung in einem fehleranfälligen und bürokratischen Projekt, um möglichst viele Menschen aus dem Land zu drängen.

Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen:

"Die Zentrale Abschiebebehörde wird gerade Abschiebungen von Menschen vorantreiben, die seit vielen Jahren in Niedersachsen leben, hier arbeiten und deren Kinder hier zur Schule gehen. Für diese Menschen benötigen wir aber Bleiberechtsperspektiven statt Abschiebungen. Statt Millionen Euro in eine Abschiebebehörde zu investieren, sollte die Landesregierung die Mittel für die Integration und Teilhabe für alle Menschen verwenden, die längst ihren Lebensmittelpunkt in Niedersachsen gefunden haben".

Der Flüchtlingsrat fordert die Landesregierung auf, alles daran zu setzen, dass diese Menschen Aufenthaltstitel erhalten können, statt sie aus dem Land zu drängen. So würde die - angeblich zu hohe, faktisch aber überschaubare - Zahl der Geduldeten in Niedersachsen schnell sinken. Es ist beispielsweise skandalös, dass das Innenministerium die Veröffentlichung der bereits im Herbst 2018 angekündigten Erlasse zu Bleiberechtsregelungen (§§ 25a,b AufenthG) aufgrund angeblich fehlender Arbeitskapazitäten im Ministerium seit rund acht Monaten verschleppt, aber gleichzeitig sehr viele Ressourcen in die Ausarbeitung eines kleinteiligen Abschiebungskonzepts steckt. Dabei besteht nach Auffassung von Fachleuten angesichts der Zahl der Ausreisepflichtigen in Deutschland überhaupt kein Handlungsbedarf.

Statt mit einem seriösen Konzept Perspektiven für die vielen Menschen zu schaffen, denen die Behörden aufgrund immer komplizierter werdender Gesetze einen Aufenthaltstitel vorenthalten, soll eine anonyme Behörde zukünftig standardisiert und aus großer Entfernung Abschiebungen durchführen, ohne diese Menschen jemals persönlich gesehen zu haben.

Kai Weber:

"Abschiebungen werden damit noch brutaler und menschenunwürdiger, als sie es ohnehin schon sind. Auch der Fokus auf Abschiebungen auf Grundlage der europäischen Dublin-Verordnung ist ein Irrweg der niedersächsischen Landesregierung. Aus guten Gründen stoppen Gerichte immer wieder Abschiebungen in Länder wie Griechenland, Italien oder Bulgarien - eben weil es für die Menschen dort vielfach keine menschenwürdige Unterbringung und Versorgung gibt. Die Bedingungen für Schutzsuchende in diesen Staaten lassen Zweifel daran aufkommen, ob die Europäische Menschenrechtskonvention in diesen Staaten bei der Aufnahme von Geflüchteten überhaupt eingehalten wird. Auch widersetzen sich Italien unter Salvini, aber auch die Visegrad-Staaten, politisch dem Dublin-System und schaffen ein gesellschaftliches Klima der Ausgrenzung von Schutzsuchenden."


Hintergrund:

Die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) soll langfristig massiv aufgestockt werden, von 600 Beschäftigte auf 800. Anschließend wird sie nach Auffassung des Flüchtlingsrats Niedersachsen die Klassifikation einer "Aufnahmebehörde" nicht mehr verdienen: Neben den beiden Bereichen "Verwaltung (V)" und "Flüchtlingsangelegenheiten (F)" sollen zwei weitere Bereiche gebildet und der Behördenleitung unterstellt werden: Der Bereich "Zentrale Ausländerbehörde (ZAB)" und der Bereich "Identitätsklärung und Rückführungsvollzug (IR)".

Akribisch listet das Innenministerium in seinem "Feinkonzept" (Anlage 1 und 2) Möglichkeiten und Mittel für eine "Erhöhung der Effizienz im Rückführungsprozess und damit eine Erhöhung der Zahl der Rückführungen" auf. In der ersten Umsetzungsphase stehen dem Konzept zufolge vor allem die Dublin-Fälle im Fokus: Wer aus oder über einen Dublin-Vertragsstaat nach Deutschland eingereist ist, soll möglichst gar nicht mehr aus den Erstaufnahmeeinrichtungen auf die Kommunen verteilt werden, sondern direkt abgeschoben werden.

In Niedersachsen lebten zum Stand 28.02.2018 insgesamt 5.532 Personen seit mehr als vier Jahren mit einer Duldung ohne festes Aufenthaltsrecht in Niedersachsen, darunter 2.072 Personen bereits länger als zehn Jahre (sh. Landtags-Drucksache 18/886). Unter diesen Personen befinden sich auch viele Kinder und Jugendliche.


Anlage 1: Feinkonzept zum Projekt "Weitere Zentralisierung des Rückführungsvollzuges" (Stand: 23. Mai 2019)
https://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2019/06/Entwurf-Endfassung-Feinkonzept-ZAB-1.pdf

Anlage 2: Das Konzept der Landesregierung im Einzelnen
https://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2019/06/2019-06-26-PI-Kritik-an-Abschiebebeh%C3%B6rde_Anlage-2.pdf

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Quelle:
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Röpkestr. 12, 30173 Hannover
Telefon: 0511/98 24 60 30, Fax: 0511/98 24 60 31
Mo-Fr: 10.00 bis 12.30, Di+Do: 14.00 bis 16.00
E-Mail: nds@nds-fluerat.org
Internet: www.nds-fluerat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2019

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