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ASYL/1074: Abschiebungen reißen Familien auseinander (Pro Asyl)


Pressemitteilung von PRO ASYL und Sächsischer Flüchtlingsrat e.V. vom 20. Juni 2016

Brutale Abschiebungen in Sachsen: Familie und Gesundheit zählen nichts

Ausländerbehörden, Justiz und Landesregierung scheint eines zu verbinden: der Wille zur Abschiebung um fast jeden Preis


Kaum irgendwo wird derzeit so brutal abgeschoben wie in Sachsen. Fälle aus April und Mai belegen: Die Behörden nehmen Familientrennungen dabei in Kauf. Ernsthafte gesundheitliche Probleme von Abzuschiebenden werden ignoriert und die Betroffenen im Vorfeld ausgetrickst. Sächsische Gerichte sekundieren der Landesregierung und billigen im Nachhinein Verstöße gegen Artikel 6 des Grundgesetzes (Schutz der Familie) sowie die UN-Kinderrechtskonvention.

Fall 1: Abschiebung trotz schwerer Erkrankung reißt Familie auseinander

Knapp zwei Wochen nach der Trennung seiner Familie fasst Sami Bekir den Umgang von sächsischen Behörden und der Justiz mit seiner Familie zusammen: "Erst habe ich der Ausländerbehörde vertraut. Dort versprachen sie mir, mir einen Pass für Staatenlose auszustellen und sie machten Azbije (Bekirs Lebensgefährtin und Mutter gemeinsamer Kinder) Hoffnungen, ihre Erkrankungen untersuchen zu lassen und zu berücksichtigen. Stattdessen wurde Azbije mit den drei Jüngsten nach Mazedonien abgeschoben. Dann vertraute ich auf das Verwaltungsgericht und dass es unseren Fall prüfen würde. Diese Hoffnung platzte aber schon nach 24 Stunden." Heute weiß Sami Bekir, dass die Versprechungen der Ausländerbehörde ein Trick waren. Die Abschiebung wurde hinter den Kulissen mindestens seit dem 2. Februar 2016 vorbereitet. Umso plötzlicher traf sie die Familie in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai. Um zwei Uhr morgens stehen etwa 20 Beamt*innen vor der Wohnungstür der Familie von Sami Bekir und Azbije Kamberovik. Sie kündigen an, Frau Kamberovik nun abzuschieben, die Mutter nimmt die drei jüngsten Kinder mit, um 11.50 Uhr landen die vier in Mazedonien.

Um einen effizienten Ablauf zu gewähren, schrecken sächsische Polizeibehörden auch nicht vor der Gefährdung von Menschenleben zurück. Bekir hatte die mit der Abschiebung befassten Polizeibeamt*innen gebeten, wegen einer Herzkrankheit seiner Frau und der Belastung in der Stresssituation noch vor dem Flug eine ärztliche Untersuchung für sie zu veranlassen. Dies wurde zugesagt, allerdings: Frau Kamberovik hat in den letzten Stunden in Deutschland keinen Arzt mehr zu Gesicht bekommen, nicht einmal für eine letzte Untersuchung zur Flugfähigkeit. Eine Kommunikationspanne? Wohl kaum.

Verwaltungsgericht nimmt seine Kontrollfunktion nicht wahr Nach deutschem Recht können schwerwiegende Erkrankungen ein Hindernis für den Vollzug einer Abschiebung sein. Jedenfalls muss dies geprüft werden. Was die abschiebende Behörde unterlassen hat, will auch das von Samir Bekir angerufene Verwaltungsgericht (VG) Dresden nicht zur Kenntnis nehmen bzw. einfordern. Einen entsprechenden Antrag lehnte das VG Dresden innerhalb von 24 Stunden nach Eingang ab. Der samt Begründung 100 Seiten starke Antrag kann in diesem Zeitraum wohl kaum ernsthaft geprüft worden sein. Es wirkt zynisch, wenn in der Begründung der ablehnenden Entscheidung argumentiert wird, dass die Erkrankungen von Frau Kamberovik keine Reiseunfähigkeit zur Folge gehabt hätten. Schließlich beweise die vollzogene Abschiebung dies. Das bloße Überleben des Fluges wird zum Maßstab. Damit stützt das Gericht die Haltung der Behörden, die einen Herzinfarkt der Mutter in Kauf genommen hätten.

Bekirs Staatenlosigkeit, ein wesentlicher Grund für die langjährige Fluchtgeschichte der Familie, wird ignoriert. Die Familie könne ja in Mazedonien gemeinsam leben. Dort allerdings wurde die Familie 1999 Opfer eines Brandanschlags auf ihr Haus, zwei der Kinder erlitten schwerste Verbrennungen. Die Familie flieht zunächst nach Bosnien. Es folgten Flucht, Abschiebungen und Familientrennungen - alles Konsequenzen des Unwillens Bosniens wie Mazedoniens, sich der Familie anzunehmen und ihr einen legalen Daueraufenthalt zu verschaffen. Beide Staaten begründeten dies in der Vergangenheit immer wieder mit der Staatenlosigkeit Bekirs. 2009 entschloss sich die Familie, nach Deutschland zu fliehen und stellte einen Asylantrag. Dem ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge folgte die Einlegung von Rechtsmitteln sowie ein Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (&ssect; 25V AufenthG). Auch letzterer wurde von den Behörden abgelehnt und befindet sich seit nunmehr 5 Jahren im Widerspruchsverfahren am VG Dresden. Ohne eine Entscheidung wurde die Familie nach 7 Jahren Aufenthalt wieder brut al durch eine Abschiebung auseinandergerissen.

Das VG Dresden wollte sich erneut weder mit den konkreten Umständen der Abschiebung noch den gesundheitsbedingten Abschiebungshindernissen befassen, die Odyssee der staatenlosen Familie blieb ohnehin außen vor. Der grundgesetzlich verankerte Schutz der Familie bleibt ebenso auf der Strecke wie der Schutz der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit.

Abschiebungen bei Nacht und Nebel ohne Ankündigung des konkreten Termins nehmen auch außerhalb Sachsens zu. Die jüngsten Asylpakete legen diese Praxis den Behörden nah. In Sachsen scheinen jedoch häufiger Abschiebungen vollzogen zu werden, bei denen Familien getrennt werden.

Fall 2: Abschiebung trennt Minderjährigen von Mutter und Bruder

Ein weiterer Fall ereignete sich bereits im April in Grimma. Am 5. April 2016 wird Frau D. gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn in den "sicheren" Drittstaat Polen abgeschoben. Als am Nachmittag der jüngste Sohn nach Hause kommt, sind Mutter und 16-jähriger Bruder bereits verschwunden. Nicht nur im Hinblick auf die Familientrennung ähnelt sich das Muster. D. war in psychotherapeutischer Behandlung, ihr Facharzt hat ausdrücklich von einer Abschiebung abgeraten. Diese medizinisch fundierte Empfehlung wurde hier schlicht ignoriert. Obwohl der Polizei der Aufenthaltsort des Sohnes am Morgen des 5. Juni nicht bekannt war und so eine Inobhutnahme des zurückgelassenen 13-jährigen Sohnes durch das Jugendamt nicht gewährleistet werden konnte, vollzog sie die Abschiebung von Frau D. und ihrem älteren Sohn. Das Jugendamt konnte nur noch eine Vermisstenanzeige aufgeben. Es entsteht der Eindruck: In Sachsen verstehen sich Ausländerbehörden und Polizei im trauten Einvernehmen mit der Landesregierung lediglich als Eines: Vollzugsgehilfen.

Der Sächsische Flüchtlingsrat kritisiert die verschärften Abschiebungspraktiken: "Innenminister Ulbig scheint momentan nur ein Ziel zu verfolgen: hohe Abschiebezahlen verkünden zu können, um sich so gegenüber AfD und Pegida als handlungsfähiger Politiker zu profilieren", so Patrick Irmer. Neben den genannten Gruppen hat allerdings der Rechtsstaat in Sachsen inzwischen zwei weitere Gegner: Regierung und einen Teil der Gerichte.

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 20. Juni 2016
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Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2016

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