Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


ASYL/1033: Obergrenzen - Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 75/76 - Winter 2015/2016
Magazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte

Zur Debatte um "Obergrenzen" beim Recht auf Asyl in Deutschland

von Hendrik Cremer, 30. November 2015 (*)


In der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte mehren sich Stimmen, die eine Obergrenze beim Recht auf Asyl in Deutschland verlangen und damit die in Deutschland Schutz suchenden Menschen auf eine feste Zahl pro Jahr begrenzen wollen. Dies wäre mit Grund- und Menschenrechten, internationalem Flüchtlingsrecht wie auch dem Recht der Europäischen Union nicht vereinbar.


Bereits die praktischen Konsequenzen der Durchsetzung einer Obergrenze werden von ihren Befürwortern nicht thematisiert: An den Außengrenzen Deutschlands müssten mehrere tausend Kilometer lange Zäune oder Mauern errichtet werden. Die Grenzen müssten zusätzlich durch den Einsatz von staatlicher Gewalt - das nötige Polizeiaufgebot wäre angesichts der Länge von Deutschlands Außengrenzen gigantisch - gesichert werden. Die Erfahrung zeigt indes, dass sich Menschen auf der Flucht auch durch solche Maßnahmen nicht abhalten lassen: Frauen, Männer und Kinder würden bei dem Versuch, rigoros gesicherte Landesgrenzen zu überwinden, verletzt werden oder gar sterben.

Im Folgenden wird dargestellt, warum eine Obergrenze mit den Grund- und Menschenrechten, dem internationalem Flüchtlingsrecht wie auch dem Recht der Europäischen Union nicht vereinbar ist.


1. Verfassungsrechtliche Grenzen nach Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz

Zwar ist es möglich, das Grundgesetz (GG) unter bestimmten Voraussetzungen zu ändern (Art. 79 GG). Auch Grundrechte wurden in der Vergangenheit mit der erforderlichen Mehrheit im Bundestag und Bundesrat geändert; so etwa die erhebliche Einschränkung des Asylrechts 1993. Dem verfassungsändernden Gesetzgeber sind bei der Gestaltung und Veränderung von Grundrechten aber Grenzen gesetzt. Nach der so genannten Ewigkeitsgarantie gemäß Art. 79 Abs. 3 GG ist die Einschränkung des Grundrechtsschutzes unzulässig, wenn dadurch Grundsätze der Verfassung berührt werden, die in den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes niedergelegt sind. Zu diesen Grundsätzen gehört das Gebot der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wie auch das in Art. 1 Abs. 2 GG kodifizierte Bekenntnis zu "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit". Auch grundlegende Elemente des Rechts- und Sozialstaatsprinzips, die in Art. 20 Abs. 1 und 3 GG zum Ausdruck kommen, sind zu achten. Hierzu gehört das Verbot von Willkür wie auch das rechtstaatliche Gebot eines effektiven individuellen Rechtsschutzes gegen die öffentliche Gewalt.

In Art. 16a Abs. 1 GG heißt es: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Ob es verfassungsrechtlich zulässig wäre, den persönlichen Schutzbereich dieses Grundrechts einzuschränken, so dass die Betroffenen nach Erreichen der jährlichen Obergrenze vom Recht auf Anerkennung als "politisch Verfolgte" gemäß Art. 16a Abs. 1 GG ausgeschlossen würden, ist angesichts der aus Art. 79 Abs. 3 GG resultierenden Garantien mehr als fraglich. Regelungen, die Individualrechte numerisch durch die Festlegung auf eine Höchstzahl von Schutzberechtigten pro Jahr begrenzen, sind mit dem Gleichheitsgebot als fundamentalen Grundsatz des Grund- und Menschenrechtsschutzes ganz offensichtlich nicht zu vereinbaren und daher auch nicht mit dem Willkürverbot in Einklang zu bringen. Zudem würden rigorose Obergrenzen beim deutschen Asylrecht konsequenter Weise auch dazu führen, dass es keine effektiven Rechtsmittel gegen Zurückweisungen an der Grenze und die damit einhergehende Verweigerung des Zugangs zu einem Asylverfahren geben würde, die nach Erreichen der jährlichen Obergrenze erfolgen würden. Das Gebot effektiver Rechtschutzmöglichkeiten gehört indes auch zu den nach Art. 79 Abs. 3 GG geschützten grundlegenden Elementen des Rechtsstaatsprinzips.


2. Flüchtlings- und menschenrechtliche Verpflichtungen Deutschlands

Die Festsetzung von Obergrenzen, die darauf abzielt, Schutz suchenden Menschen durch Zurückweisungen an der Grenze den Zugang zu einem Asylverfahren zu verweigern, sobald die festgesetzte Zahl pro Jahr erreicht wurde, würde darüber hinaus nicht nur den materiellen Gehalt der Asylgewährleistung nach dem Grundgesetz gravierend verändern. Die Betroffenen würden vielmehr ohne jede Prüfung ihres Schutzbegehrens an der Grenze zurückgewiesen. Damit würde auch nicht geprüft, ob sie nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder weiteren menschenrechtlichen Bestimmungen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Schutz erhalten müssten.

Bei einem solchen Handeln Deutschlands wäre überdies nicht gewährleistet, dass die Nachbarstaaten Deutschlands die Schutz suchenden Menschen aufnehmen und ihnen den Zugang zu einem Asylverfahren garantieren würden. Vielmehr bestünde die Gefahr, dass die betroffenen Menschen zwischen den Mitgliedstaaten der EU hin- und hergeschoben werden.

Der Gesetzgeber hat sich durch die Ratifikation von menschenrechtlichen und flüchtlingsrechtlichen Verträgen wie die Europäische Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention und die UN-Kinderrechtskonvention gebunden. Die Regelung der Einreise wie auch der Beendigung des Aufenthaltes von Nicht-Staatsangehörigen gehört zwar nach allgemeinem Völkerrecht grundsätzlich zu demjenigen Bereich, der den Staaten kraft ihrer Souveränität zur freien Regelung zusteht. Allerdings ist der Umfang dieser staatlichen Souveränität durch die Menschenrechte und internationales Flüchtlingsrecht als Bestandteil des modernen Völkerrechts erheblich eingeschränkt, sofern Menschen in Deutschland Schutz vor existenziellen Gefahren für Leib und Leben suchen.

Die Erfahrungen nationalsozialistischer Verfolgung führten nämlich nicht nur zur Aufnahme des Grundrechts auf Asyl ins deutsche Grundgesetz vom 23. Mai 1949. Auch die Weltgemeinschaft antwortete auf die Akte der Barbarei, auf den Genozid an den Juden, Genozid an den Sinti und Roma und das Leiden der Flüchtlinge: Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in der auch das Recht auf Asyl Erwähnung gefunden hat.

Die Gewährleistung der Menschenrechte und damit der Schutz jedes einzelnen Individuums durch völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten entwickelten sich in der Folgezeit zu einem der zentralen Aspekte des modernen Völkerrechts. Sowohl auf internationaler wie auch auf regionaler Ebene wurden zahlreiche Menschenrechtsverträge geschaffen, die darauf abzielen, jeden Menschen im Hoheitsbereich aller Vertragsparteien zu schützen, in Europa etwa die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950.

Die hohe Anzahl europäischer Flüchtlinge infolge von Flucht, Vertreibung und Zwangsarbeit über das Ende des 2. Weltkrieges im Jahr 1945 hinaus, führten am 14. Dezember 1950 auch zur Einsetzung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHRC) durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen und zu den Grundlagen des internationalen Flüchtlingsrechtsrechts, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Die Europäische Union, die mittlerweile über weitreichende Kompetenzen im Bereich der Asylgesetzgebung verfügt, gewährleistet das Recht auf Asyl im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in Art. 18 EU-Grundrechte Charta.

Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention

Nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention werden die Staaten zur Zufluchtgewährung vor dem Zugriff eines Verfolgerstaates verpflichtet. Die Staaten müssen demnach dafür Sorge tragen, dass kein Mensch an der Grenze zurückgewiesen oder abgeschoben wird, so dass er gezwungen wäre, sich in einem Staat aufzuhalten, in dem er aus rassistischen Gründen, aufgrund seiner Religion, seiner Staatszugehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Einstellung von Verfolgung bedroht ist.

Auch eine Zurückweisung oder Abschiebung von Schutzsuchenden in Drittstaaten verstößt gegen das Gebot der Nicht-Zurückweisung (Refoulement-Verbot) aus Art. 33 GFK, soweit nicht gewährleistet ist, dass der Drittstaat die Schutzsuchenden nicht weiter in den Verfolgerstaat abschiebt ("Kettenabschiebung"). Das Recht, unter Achtung von Art. 33 GFK nicht zurückgewiesen und als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden, kann nicht dadurch eingeschränkt werden, dass die Vertragsstaaten jeweils nach nationalem Recht Obergrenzen einführen. Eine solche Möglichkeit räumt die Genfer Flüchtlingskonvention den Staaten nicht ein. Durch sie würde die Konvention in ihrer fundamentalen Bedeutung für den internationalen Flüchtlingsschutz ausgehöhlt.

Die Genfer Flüchtlingskonvention sieht zwar die Möglichkeit vor, die Konvention zu kündigen. Würde sich Deutschland auf diese Weise seinen Verpflichtungen entziehen wollen, würde dies einen irreparablen Schaden für das System des internationalen Flüchtlingsschutzes bedeuten. Faktisch ist Deutschland dieser Weg als Mitgliedstaat der EU auch versperrt, da die Gewährleistungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu den Grundlagen der Europäischen Union und damit auch der Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik gehören.

Europäische Menschenrechtskonvention

Das Verbot einer Zurückweisung an der Grenze oder einer Abschiebung ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ferner aus Art. 3 EMRK, wenn die betroffene Person dadurch dem Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Folter ausgesetzt wird.

Die Bestimmungen der EMRK garantieren jedem Menschen, der Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen sucht, das Recht auf Zugang zu einem Verfahren, in dem sein Antrag auf Schutz individuell geprüft wird. Personen, denen bei Zurückweisung oder Abschiebung Menschenrechtsverletzungen wie unmenschliche Behandlung oder Folter drohen, haben ein Recht auf Schutz. Zudem müssen den Betroffenen im Falle einer Ablehnung ihres Schutzantrages gemäß Art. 13 EMRK effektive Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung stehen (Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf).

Auch eine Zurückweisung oder Abschiebung von Schutzsuchenden in Drittstaaten steht dem Gebot der Nicht-Zurückweisung des Art. 3 EMRK entgegen, soweit nicht gewährleistet ist, dass der Drittstaat die Schutzsuchenden nicht weiter in den Verfolgerstaat abschiebt ("Kettenabschiebung"). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist es mit der EMRK und der EU-Grundrechte Charta nicht vereinbar, wenn die EU-Mitgliedstaaten unter Anwendung der Dublin-Verordnung Menschen in andere Mitgliedstaaten überstellen, ohne dass Rechtsschutzmöglichkeiten mit aufschiebender Wirkung hiergegen bestehen. Die EU-Mitgliedstaaten dürfen in ihrem nationalen Recht also auch nicht von der unwiderleglichen Vermutung der Sicherheit anderer EU-Mitgliedstaaten ausgehen und effektive Rechtschutzmöglichkeiten gegen Überstellungen in einen anderen Mitgliedstaat ausschließen.

Ein Abweichen der Vertragsstaaten von den Verpflichtungen aus der EMRK ist nur im Notstandsfall (Art. 15 EMRK), insbesondere im Falle eines Krieges, bedingt möglich. Abgesehen davon, dass die Voraussetzungen eines Notstandfalls nicht vorliegen, sind die aus Art. 3 EMRK resultierenden Verbote der Folter sowie der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung notstandsfest; sie gelten also absolut (Art. 15 Abs. 2 EMRK).

Eine nachträgliche Einschränkung einzelner Konventionsrechte durch den Vertragsstaat ist völkerrechtlich unzulässig. Die Europäische Menschenrechtskonvention sieht zwar die Möglichkeit der Kündigung des gesamten Vertrages vor. Als Mitgliedstaat der EU ist ein solcher Schritt aber tatsächlich keine Option, da die Gewährleistungen der Konvention zu den Grundlagen der Europäischen Union gehören und der EU-Grundrechte-Charta zugrunde liegen. Darüber hinaus bildet die Anerkennung der EMRK auch die Grundlage für die Mitgliedschaft Deutschlands im Europarat als die zentrale Organisation für Menschenrechte in Europa.

UN-Kinderrechtskonvention

Im Übrigen sind Zurückweisungen von unbegleiteten Minderjährigen, also Minderjährige, die auf sich allein gestellt ohne elterliche Begleitung in Deutschland Schutz suchen, nicht mit der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) vereinbar. Sie verstoßen gegen Art. 20 KRK, der für Kinder, die sich außerhalb ihrer familiären Umgebung befinden, ein Recht auf den "besonderen Schutz und Beistand des Staates" begründet.


3. Kontingente, Resettlement-Programme und andere legale Zugangswege

In der derzeitigen Diskussion wird die Forderung nach einer Obergrenze bisweilen mit der Forderung nach "Kontingenten" für Flüchtlinge verknüpft oder auch gleichgesetzt.

Selbstverständlich kann sich Deutschland zur Aufnahme einer bestimmten Zahl von Flüchtlingen (einem Kontingent) aus einer Krisen- und Verfolgungsregion verpflichten, wie es dies beispielsweise in den vergangenen Jahren in Bezug auf syrische Flüchtlinge getan hat. Deutschland kann zum Beispiel, auch in Absprache mit den europäischen Partnern, im Rahmen von Resettlement-Programmen oder durch die Vergabe humanitärer Visa dafür Sorge tragen, dass ein bestimmtes Kontingent von Flüchtlingen auf sicherem Weg nach Deutschland kommt. Dies ist grund- und menschenrechtlich uneingeschränkt möglich und dient der Prävention von Menschenrechtsverletzungen, weil sich die betreffenden Menschen nicht den Gefahren auf der Flucht aussetzen müssen. Der individuelle Anspruch auf Zugang zu einem Asylverfahren für diejenigen, die außerhalb solcher Aufnahmeverfahren nach Deutschland kommen, muss jedoch gewahrt bleiben.


(*) Dr. Hendrik Cremer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte


© 2015 Deutsches Institut für Menschenrechte. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsches Institut für Menschenrechte
Zimmerstr. 26-27, 10969 Berlin
Telefon (030) 25 93 59-0
E-Mail info@institut-fuer-menschenrechte.de
www.institut-fuer-menschenrechte.de

*

Quelle:
Der Schlepper Nr. 75/76 - Winter 2015/2016, Seite 20-23
Magazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Sophienblatt 82-86, 24143 Kiel
Telefon: 0431/735 000; Fax: 0431/736 077
E-Mail: office@frsh.de
Internet: www.frsh.de
Der Schlepper im Internet: www.frsh.de/schlepper/


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang