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LATEINAMERIKA/1690: Venezuela 2017 - Comeback oder Waterloo des Chavismus? (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Perspektive FES | Venezuela

Venezuela 2017
Comeback oder Waterloo des Chavismus?

von Michael Langer
Juni 2017


• Venezuela wird durch heftige Proteste gegen die Regierung von Präsident Nicolás Maduro erschüttert. Eine Verfassunggebende Versammlung soll den »bolivarischen Sozialismus« auffrischen sowie rechtsstaatliche Grundsätze und politische Spielregeln verändern. Durch Entscheidungen vom Nationalen Wahlrat und vom Höchsten Gerichtshof wurde das von der Opposition dominierte Parlament seiner Kompetenzen beraubt.

• Die Konfliktparteien zeigen sich wenig gesprächsbereit. Die oppositionelle MUD will den öffentlichen Druck bis zum Wahltermin der Verfassungsversammlung (30. Juli 2017) weiter verstärken. Die Propaganda der Regierungspartei PSUV folgt eng der vorgegebenen Strategie, aber es melden sich immer mehr kritische Chavist_innen zu Wort, die einen Verfassungsbruch seitens der Regierung beklagen.

• Ein dysfunktionales Wirtschaftssystem leidet unter den Auswirkungen der Rentenökonomie: das Sozialprodukt schrumpft seit über drei Jahren. Gespaltene Wechselkurse und kontrollierte Preise provozieren Spekulation, Versorgungsengpässe und eine galoppierende Inflation. Die wirtschaftliche Misere ist längst schon zur sozialen Krise geworden.

• Die ohnehin schwierige Sicherheitslage wird durch gewalttätige Aktivist_innen und massive Repression von Demonstrant_innen zusätzlich beeinträchtigt. Jeder Vermittlungsvorschlag muss die Mitverantwortung und zukünftige Einbindung der nationalen Streitkräfte berücksichtigen. Entscheidend dafür wird letztendlich nicht die Dosis an Sozialismus sein, sondern die Fähigkeit, sich aus der Rentenökonomie und seinen Abhängigkeiten zu befreien.

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Wer die Situation Venezuelas als Zustand von Anomie und Chaos beschreibt, stößt derzeit auf wenig Widerspruch. Zu unterschiedlich ist die Interpretation gesellschaftlicher Normen, zu gering die soziale Integration und zu kontrovers die politische Auseinandersetzung. Wirtschaftlicher Niedergang, eine prekäre soziale Lage und der Zerfall demokratischer Institutionen bilden den Rahmen für eine Staatskrise mit ungewissem Ausgang. Seit April 2017 schon halten die Proteste gegen die Entmachtung des Parlaments, gegen Präsident Nicolás Maduro und sein Projekt einer Verfassungsgebenden Versammlung an. Die Opposition, vereint im Bündnis der »Mesa de la Unidad Democrática«/MUD, fordert Neuwahlen und organisiert den Widerstand gegen das umstrittene Vorhaben. Die Regierung der sozialistischen Einheitspartei PSUV antwortet mit autoritär exerzierter Staatsgewalt und ideologisch aufgeblähter Propaganda in den staatlichen Medien. Am 30. Juli 2017 sollen die Mitglieder dieser Versammlung gewählt werden - ein Datum, das bei vielen Beobachtern und Akteuren des Konflikts als entscheidender Stichtag für Venezuelas Zukunft gilt.

Das rohstoffreiche Venezuela und sein demokratisches System stehen vor den Trümmern eines politischen Experiments, das vor 19 Jahren mit ambitionierten Plänen für mehr Partizipation und soziale Gerechtigkeit gestartet war. 100 Jahre sollte die Verfassung der Bolivarischen Republik währen, so hatte es 1999 der damalige Präsident Hugo Chávez verkündet, als ein Referendum 72 Prozent Zustimmung ergab. Doch ähnlich groß ist 2017 die Ablehnung gegen eine Versammlung, die eben diese Verfassung verändern soll. Dass der - nach seinem politischen Ziehvater benannte - Chavismus ausgerechnet eine Verfassungsversammlung als Notbremse gegen den eigenen Bedeutungsverlust ansieht, kann als Ironie des Schicksals gelten. Diese soll - mit absoluten politisch-administrativen wie gesetzgeberischen Vollmachten ausgestattet - das Mittel zur Vollendung des sog. »bolivarischen Sozialismus« sein, obwohl seine Protagonisten bereits jetzt mit den Nebenwirkungen der Rezeptur überfordert sind.

Schon die schwere Niederlage der PSUV bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 verdeutlichte den Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Eine galoppierende Inflation und die Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln oder Medikamenten haben viele Venezolaner_innen tief frustriert. Der Versuch der oppositionellen Parlamentsmehrheit, Maduro über ein Plebiszit zu stürzen, scheiterte ebenso wie der nachfolgende Dialog mit internationalen Mediator_innen; und so enden die täglichen Proteste häufig in Straßenblockaden und Gewaltexzessen. Beide Seiten beklagen einen »Staatsstreich auf Raten«, die Aufrufe zur Deeskalation oder Kompromissbereitschaft finden kaum Unterstützung.

1. Wirtschaftliche und soziale Misere einer Rentenökonomie

Die Krise nur dem Eigennutzstreben politischer Eliten oder klientelistischen Programmen zuzuschreiben, ist zu einfach. Vielmehr ist sie Ausdruck einer erstaunlichen wirtschaftspolitischen Ignoranz verschiedener Regierungen. Als 1958 der Diktator Marcos Pérez Jiménez gestürzt wurde, war die Hoffnung groß, der gigantische Reichtum möge dem Land einen Entwicklungsschub zum Wohlfahrtsstaat geben. Im sog. »Punto Fijo«-Abkommen wurden eine repräsentative Demokratie mit freien Wahlen vereinbart. Aber die wechselseitig regierenden Parteien, die sozialdemokratische AD und die christdemokratische COPEI, folgten einer simplen Annahme: Die größten Erdölreserven der Welt würden ein eigenständiges Wachstum bewirken, zusätzliche Sozialprogramme könnten mit Deviseneinnahmen finanziert werden. Diese Abhängigkeit ließ eine klassische Rentenökonomie heranwachsen. Korruption, Günstlingswirtschaft, fehlgeschlagene Prestigeprojekte und die Vernachlässigung des Agrarsektors waren das Ergebnis. Gleichzeitig bildeten sich große Armenviertel an den Stadträndern aufgrund von Immigration und Landflucht. Jeder Einbruch der Weltmarktpreise hatte dramatische Folgen für den Staatshaushalt, für die Versorgung der Bevölkerung und für die politische Stabilität. 1989 führten Preisverfall und Sparmaßnahmen in der zweiten Regierung von Carlos Andrés Pérez (AD), zu Aufständen und Plünderungen, dem sog. »Caracazo«, mit hunderten Todesopfern.

Hugo Chavez erkannte früh, dass es galt, die unterprivilegierten Bevölkerungsschichten stärker zu beteiligen. Nach einem gescheiterten Putschversuch 1992 war er 1998 mit dem Versprechen einer »bolivarischen Revolution« bei den Präsidentschaftswahlen erfolgreich. Bei Amtsantritt verkündete er, eine neue Verfassung sollte die Grundlage für eine sozial gerechte Entwicklung bilden. Das Übel der Rentenökonomie war zwar erkannt, aber in der Praxis nicht durch eine Diversifizierung der Wirtschaft behoben. Im Gegenteil, die sog. »bolivarischen Missionen«, konnten nur wegen des historisch hohen Ölpreises zu einem umfassenden System staatlicher Subventionen ausgebaut werden. Als Chavez im März 2013 verstarb, stand das mit so hohen Ansprüchen gestartete Projekt eines »bolivarischen Sozialismus« vor dem Scheitern. Erdöl machte 95 Prozent der Exporteinnahmen aus, teure Importe ersetzten die eigene Produktion von Lebensmitteln. Sein Nachfolger Maduro konnte die Wahlen nur knapp gegen den Kandidaten der MUD, Henrique Capriles (Partei »Primera Justicia«/PJ) gewinnen. Auch Maduro beteuert, die Rentenökonomie überwinden zu wollen, aber nach 18 Jahren Chavismus sind die Machtstrukturen und Abhängigkeiten in der PSUV, in den staatlichen Institutionen, bis hin in den Militärapparat verfestigt. Deshalb wird in den staatlichen Medien verkündet, eine internationale Verschwörung sei schuld an der Misere.

Die heimische Wirtschaft droht längst in einen Zustand der Agonie zu verfallen, in vier Jahren ist das Sozialprodukt um fast ein Drittel geschrumpft. Gespaltene Wechselkurse und absurd verzerrte Preisrelationen bilden den Nährboden für Schwarzmarkt, Spekulation und Inflation. Das einstige Vorzeigeunternehmen, die staatliche Erdölgesellschaft PdVSA, muss sich hoch verschulden, um überhaupt produzieren zu können. Im Mai 2017 verkaufte die Zentralbank PdVSA-Anleihen mit fast 70 Prozent Discount an Finanzinvestoren (Goldman & Sachs), um überhaupt an Devisen zu kommen. Sollte jedoch ein Schulden-Default eintreten, würde er die Verteilung von Lebensmitteln, die sog. »bolsas CLAP«, direkt betreffen und damit die politische Klientel in den Armenvierteln. Importiert zum staatlich fixierten Wechselkurs von lediglich zehn BsF/$, werden diese Pakete an registrierte Bedürftige verkauft. Aber Schmuggler und Spekulanten erlösen leicht das Vielfache, wird doch der Dollar am Schwarzmarkt bereits mit 7000-8000 BsF (13.6.2017) bewertet. So gesellt sich zur traditionellen Oberschicht an Großgrundbesitzern und Händlern eine neue Gruppe, die sogar von der verfehlten Wirtschaftspolitik profitiert.

Die Halbierung der Armutsquote von 54 Prozent (2003), erreicht in den Boomjahren der Chávez-Ära, wird dagegen durch Inflation und Güterknappheit zunichte gemacht. Die Pensionen der Rentner sind auf ein Minimum geschrumpft, die Folgen von Unterernährung bei Kindern werden auch kommende Generationen belasten. War Venezuela jahrelang ein Einwanderungsland, hat sich diese Tendenz nun umgekehrt. Die andauernde Krise fördert die Polarisierung - als nützliches Instrument der politischen Auseinandersetzung. Doch dazwischen spielen sich die Dramen des täglichen Überlebenskampfes ab, bei denen verarmte Mittelschicht, Arbeitslose und Randgruppen Schlangen vor Lebensmittelgeschäften bilden.

Statt über Strukturreformen versucht die Regierung mit Notstandsdekreten, ineffizienten Preiskontrollen und eben der Verfassungsversammlung, Zeit zu gewinnen. Schon werden internationale Investoren für den sog. »Arco Minero« angeworben. Der rohstoffreiche Süden Venezuelas bietet alles, was eine Rentenökonomie als Droge braucht: Gold, Diamanten, Coltan, Seltene Erden. Abkommen mit Südafrika, Russland und China versprechen einen erneuten Devisenfluss. Das Problem der Regierung dabei ist, dass solche Abkommen die Zustimmung des Parlaments benötigten; dieses ist aber durch den Höchsten Gerichtshof seiner Funktionen beraubt. Auch deshalb soll es nun die Verfassungsversammlung richten, sobald sie als »Suprapoder« über allen Staatsgewalten, neues Recht sprechen und neue Fakten schaffen kann.

2. Ein Staat verliert die Kontrolle über Institutionen und Akteure

Rentenökonomie und Klientelismus haben die Institutionen des Staates untergraben und parallele Machtstrukturen kreiert. Teile der Bevölkerung haben sich in Selbsthilfegruppen, den sog. »colectivos«, organisiert - eigentlich um Versorgung oder eigene Sicherheit zu verbessern. Aber gerade von diesen Gruppen wird behauptet, sich am Notstand zu bereichern oder Verbindungen zu kriminellen Banden zu haben. Die Abwesenheit des Staates in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen kontrastiert in absurder Weise mit dem komplexen Kontroll- und Regelungsanspruch der bolivarischen Revolution, was eine üppige Bürokratie sprießen ließ. So werden die diversen sozialen »Missionen« i. d. R. mit Unterstützer_innen der bolivarischen Revolutionsidee (PSUV, colectivos, Kommunalräte) besetzt.

Die Streitkräfte - neben den drei Waffengattungen gehört auch die Nationalgarde dazu - spielen traditionell eine wichtige Rolle. Auch nach der Jiménez-Diktatur waren sie letztendlich die Kraft, die eine Regierung zu stützen oder zu stürzen vermochte - wie 1989 und 1992 Pérez und 2002 Chávez. Der Militär Chávez übertrug ihnen deshalb wichtige Funktionen, im Kabinett von Maduro dominieren (ehemalige) Militärs. Diese Anhäufung wirtschaftlicher Macht und politischen Einflusses birgt aber die Gefahr, für Krise und Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich gemacht zu werden. Denn die Demonstrationen und Straßenblockaden steigern sich häufig zu Gewaltaktionen, Brandstiftungen oder Plünderungen - ein besorgniserregendes Phänomen bei ohnehin hoher Kriminalitätsrate und verbreitetem Waffenbesitz. Nationalgarde (GNB) und Nationale Polizei (PNB) werden für die Repression der Demonstrationen eingesetzt. Menschenrechtsorganisationen denunzieren die Einweisung von Zivilist_innen in Militärgefängnisse unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung. Zwar bestreitet die GNB eine Kooperation mit informellen, bewaffneten Gruppen, aber schon jetzt beteiligen sich »Colectivos« an provokativen Übergriffen auf Demonstranten. Maduro kündigte sogar an, im Rahmen des »Plan Zamora« die zivilmilitärische Zusammenarbeit auszubauen und die bolivarischen Revolutionsmilizen zu bewaffnen.

Die Dauerbelastung des Einsatzes verstärkt die interne Kritik. Verteidigungsminister General Vladimir Padrino Lopez ging auf Distanz zur Nationalgarde; der Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates. Alexis Ramírez, trat zurück. Andere einflussreiche Militärs wie der ehemalige Innenminister Miguel Rodríguez Torres kritisieren Regierung und Verfassungsversammlung - trotz öffentlicher Verfemung als feige Abweichler (»escualidos«). Besonders das couragierte Auftreten der Generalstaatsanwältin Luisa Ortega zeigt Wirkung. Ihr Einwand gegen die Anmaßung legislativer Funktionen durch den Höchsten Gerichtshof wurde noch heruntergespielt; die Klassifizierung der Einberufung einer Verfassungsversammlung als Verfassungsbruch und ihr Aufruf an die Bevölkerung, dagegen Einspruch zu erheben, gelten allerdings als Tabubruch. In der Folge erklärten sich bekannte Akademiker_innen, Linksintellektuelle und (ehemalige) Anhänger_innen des Chavismus solidarisch mit ihrer Kritik.

Die Verfassungsversammlung wird von der Regierung als großzügiges Dialogangebot inszeniert. Auf Kundgebungen von Parteianhänger_innen und Staatsbediensteten wirbt sie mit der Illusion, eine allmächtige Institution könne den institutionellen Knoten zerschlagen und einen Weg aus der wirtschaftlichen und politischen Sackgasse weisen. Die vorgestellte Mischung aus planwirtschaftlichen Wachstumsphantasien, räterepublikanischen Partizipationsideen und autoritär-staatlichem Kontrollbestreben offenbart aber ein taktisches Kalkül ohne inhaltlichen Tiefgang: Kommunalräten, lokalen Komitees (CLAP) und Missionen sollen Kompetenzen mit Verfassungsrang zugesprochen werden; die 545 Mitglieder der Versammlung sollen zu einem Drittel aus Gremienvertreter_innen und zu zwei Drittel aus Gemeindelisten gewählt werden; die Gleichstellung von bevölkerungsreichen und kleinen Gemeinden soll eine Mehrheit von PSUV-Sympathisanten garantieren.

3. Konfliktparteien noch ohne Gesprächsbereitschaft

Nun ist es die wiedervereinte Opposition, die sich auf die bolivarische Verfassung und das geistige Erbe von Chávez beruft. Ihre Kernforderungen lauten: Verzicht auf die Verfassungsversammlung, allgemeine, freie Wahlen sowie Freilassung politischer Gefangener. Proteste und Blockaden haben den Alltag nicht nur in der Hauptstadt Caracas verändert; die gewalttätigen Auseinandersetzungen forderten inzwischen zahlreiche Todesopfer und Verletzte. Über 3000, zumeist junge Menschen wurden verhaftet, weil sie angeblich Brandsätze warfen oder sich mit selbstgebastelten Schutzschildern den Tränengasbomben entgegenstellten. Festnahmen von Aktivist_innen und politischen Gegner_innen sowie die Einschüchterung kritischer Journalist_innen zeichnen die bedrohliche Kulisse eines autoritär agierenden Staates.

Bei einem Urnengang hätten Maduro und die PSUV kaum Chancen, darum ist auch kein Plebiszit über die Einberufung der Verfassungsversammlung geplant. Die Mitglieder sollen direkt gewählt werden. Neben Maduro sind es innerhalb der PSUV Hardliner wie Partei-Vize Diosdado Cabello und Innenminister General Nestor Reverol, gleichzeitig Kommandeur der Nationalgarde, die den Kurs bestimmen. Cabello, Außenministerin Delcy Rodriguez, Cilia Flores (die Ehefrau Maduros) und weitere Parteigrößen sind auch Kandidat_innen für die Versammlung. Politisch und juristisch mit dem Rücken zur Wand, jedoch erfahrene Strateg_innen im Kampf um die Macht, setzen sie auf Zeitgewinn, auf die Treue chavistischer Basisorganisationen und die Erschöpfung oppositioneller Proteste.

Die Krise der Institutionen resultiert auch aus einem Demokratiedefizit in den Parteien, bei denen interne Debatten hinter Persönlichkeitskult und Aktionismus zurückstehen. Die MUD kann als ein heterogenes Bündnis aus Parteien und Zivilgesellschaft ohne inhaltliches Programm eingestuft werden. Ihre bekanntesten Vertreter sind Henrique Capriles und der nach den Protesten 2014 inhaftierte Leopoldo López (Voluntad Popular/VP). Henry Rámos Allup (AD) oder der aktuelle Parlamentspräsident Julio Borges (PJ) gelten als wenig charismatisch. Capriles wurde kürzlich in einem zweifelhaften Urteil das Recht abgesprochen, politische Ämter auszuüben. Derzeit gibt es in der MUD wenig Dialogbereitschaft, man spekuliert auf die Implosion des Chavismus und will bis Ende Juli den öffentlichen Druck verstärken. Vermehrt sind es die jugendlichen Protestierer_innen aus der selbsternannten »Resistencia«, die - organisiert über soziale Medien und Netzwerke - mit ihren Aktionen die Schlagzeilen bestimmen.

So verschärft sich der Konflikt zunächst weiter, weil beide Seiten keine Abstriche an ihren Forderungen machen. Jedoch können die Ereignisse schnell jede aktuelle Analyse überholen; Szenarien zukünftiger Entwicklungen geraten zu Spekulationen. Diese reichen vom Rücktritt der Regierung bis hin zur Beschreibung von Bürgerkriegsgefahren oder Militärputschen. Tatsache ist, dass bei festgefahrenen Konflikten dieser Art ein ergebnisoffener, oder gar öffentlicher Dialog kaum möglich ist. Externe Unterstützung ist gefragt und zwar von »neutralen« Vermittler_innen oder Regierungen, die Anerkennung bei den Konfliktparteien finden. Dies könnte ein neuer Vermittlungsversuch des Papstes sein, wie ihn sich Maduro wünscht oder von internationalen Organisationen wie der UNO oder der CELAC, um zumindest auf eine Deeskalation hinzuwirken. Die OAS mit ihrem kritischen Generalsekretär Luis Almagro, wird von der Regierung nicht akzeptiert; das Land will die Organisation inzwischen sogar verlassen.

Die anarchistischen Tendenzen zeigen, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte. Diverse bewaffnete Gruppen stehen in Konkurrenz oder in komplexen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander: teils als legale Sicherheits- oder Ordnungskräfte, teils als paramilitärische Revolutionsmilizen, teil als unabhängige agierende Banden. Auch deshalb sind nur solche Lösungsvorschläge realistisch, bei denen die nationalen Streitkräfte - wenn auch nicht bedingungslos - eingebunden werden. Die Implementierung einer nach zweifelhaften Kriterien gewählten, mit höchsten Vollmachten ausgestatteten Verfassungsversammlung würde von der Bevölkerungsmehrheit nicht anerkannt. Die Staatsgewalt liefe Gefahr von der internationalen Gemeinschaft als Diktatur eingestuft zu werden - mit den entsprechenden Konsequenzen für Außenhandel, Finanzierung und Versorgung im Lande.

Der in den letzten Jahren immer wieder aufkommende Vorschlag eines friedlichen Transitionsprozesses mit einer Übergangsregierung unter Beteiligung von Oppositionskräften, Chavisten und Militärs wird öffentlich kaum diskutiert. Mittelfristig führt jedoch kein Weg an einem Einigungsversuch mit gemäßigten Kräften beider Seiten vorbei. Die politischen Kosten für wirtschaftliche Anpassungsmaßnahmen sind aber nicht zu unterschätzen. Hier sind strukturelle Änderungen wie die Erhöhung von Benzin- und Transportpreisen gefragt, die einen erheblichen Einschnitt in die Lebensbedingungen bedeuteten. Jede Regierung wird aber nur soweit Anerkennung finden, wie es ihr gelingt - neben einer Revitalisierung und Ausbalancierung des demokratischen Institutionengefüges - die wirtschaftliche und soziale Krise nachhaltig zu überwinden. Entscheidend dafür wird letztendlich nicht die Frage nach dem Grad an Sozialismus in der Gesellschaft sein, sondern die Fähigkeit sich von der Rentenökonomie und seinen Versuchungen zu befreien.

Über den Autor

Dr. Michael Langer ist Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Venezuela.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2017

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