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LATEINAMERIKA/1514: Brasilien - Politische Krise markiert Ende einer Ära, neue Vision fehlt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. August 2015

Brasilien: Politische Krise markiert Ende einer Ära ohne Aussicht auf eine neue politische Kraft - Neue Vision fehlt

von Mario Osava


RIO DE JANEIRO (IPS) - In Brasilien schwächelt die Wirtschaft, Korruptionsfälle erschüttern große Unternehmen und die hohe Politik, und wieder gingen am Sonntag Hunderttausende gegen Präsidentin Dilma Rousseff auf die Straße. Die Krise des lateinamerikanischen Landes markiert das Ende einer Ära. Doch eine neue politische Vision fehlt bisher.

Die Krise des Landes ist vor allem eine der Arbeiterpartei PT, die seit 2003 das Land regiert. Cándido Grzybowski, Direktor des Brasilianischen Instituts für Sozial- und Wirtschaftsanalyse (Ibase), sieht das Land daher in einer "Hegemoniekrise": Während die in den vergangenen zwölf Jahren regierende Arbeiterpartei immer mehr Gegenwind erhält, fehlt es an politischen Alternativen, die das Machtvakuum füllen könnten. "Das bringt das Risiko mit sich, dass wir letztlich politische Überraschungen erleben könnten", sagte Grzybowski gegenüber IPS. Ein "Retter des Vaterlandes" könnte plötzlich auftauchen und die Krise für seinen Aufstieg ausnutzen. Als jüngsten brasilianischen Fall nennt Grzybowski den des Fernando Collor, erster gewählter demokratischer Präsident des Landes im Jahr 1990, der wegen Korruptionsvorwürfen gerade einmal zwei Jahre später seinen Posten wieder verlassen musste.

Die Krise äußert sich unter anderem in einer Rezession. Seit 2014 liegt die Wirtschaft am Boden, neue Schätzungen gehen davon aus, dass sie sich bis mindestens 2016 nicht erholen wird. Die Arbeitslosigkeit ist hoch wie lange nicht mehr, die Inflation kaum zu stoppen.

Der Zusammenhang zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Krise zeigt sich insbesondere im Korruptionsskandal um die staatliche Ölfirma Petrobras, in dessen Zuge bereits mehrere schwergewichtige Unternehmer festgenommen und ins Gefängnis geworfen wurden. Als nächstes ist die politische Elite an der Reihe, ganz vorne Politiker der Arbeiterpartei, der auch Präsidentin Rousseff angehört.

Die sieht nicht nur mit dem Druck von der Straße konfrontiert. Auch langjährige Verbündete in der Abgeordnetenkammer haben sich mittlerweile gegen sie gestellt. Rousseffs Umfragewerte sind in den Keller gesunken, und die Forderung nach Rücktritt wird immer häufiger artikuliert.

Schon Rousseffs Vorgänger, der populäre Luiz Inácio Lula da Silva, der die Arbeiterpartei gegründet hatte, sah sich Korruptionsvorwürfen gegenüber. Einige seiner engsten Vertrauten wurden inhaftiert, Lula da Silva selbst überstand den politischen Skandal jedoch fast ohne Blessuren. Nur ein Jahr nach dem Skandal, im Jahr 2006, wurde er als Präsident wiedergewählt und konnte 2011 seine Nachfolgerin Dilma Rousseff als Präsidentin installieren, die Ende 2014 wiedergewählt wurde.


Zwei hohe Mitglieder der Arbeiterpartei sind bereits im Gefängnis

Doch der Aufstieg der Arbeiterpartei könnte nun vorbei sein. Die Partei gilt als Hauptakteur im Korruptionsfall um Petrobras, der aktuell von der Generalstaatsanwaltschaft untersucht wird. Sie soll Umschlagplatz für umgerechnet 1,8 Milliarden US-Dollar gewesen sein, die die Ölfirma an Schmiergeldern gezahlt hat. Zwei Mitglieder der PT, die unter Lula da Silva hohe Ämter besetzt hatten, sind daher seit dem 3. August im Gefängnis.

Mindestens 23 Angeklagte der Partei haben sich dafür entschieden, mit der Justiz zusammenarbeiten. Weitere Politiker sind aktuell dabei, Deals mit der Staatsanwaltschaft auszuhandeln, um ihre Strafen zu verringern.

Schon jetzt sitzen Dutzende Unternehmer im Gefängnis, darunter die Präsidenten der zwei größten Baufirmen Brasiliens. Weitere Politiker ins Gefängnis zu bringen ist etwas schwieriger. Parlamentatier und Regierungsmitglieder können lediglich vom Bundesgerichtshof verurteilt werden.

Doch bereits jetzt zeichnet sich ab, was demnächst auf die Politikerelite zukommen könnte: Mindestens 31 Parlamentarier sind in den Skandal verwickelt, darunter die Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, und des Senats, Renan Calheiros. Dazu kommen 14 ehemalige Parlamentarier, von denen die Mehrheit der PT oder ihrem Koalitionspartner angehört, der Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB).

Doch nicht nur wegen des Korruptionsskandals fährt die Arbeiterpartei immer schlechtere Umfragewerte ein. Die Regierung setzt plötzlich eine Wirtschaftspolitik durch, die sie zuvor selbst stehts verurteilt hatte. Die Wähler fühlen sich und die Werte der Partei verraten, gesellschaftliche Gruppen, deren Unterstützung die Partei bisher sicher hatte, rücken von ihr ab.

"Die Arbeiterpartei hat sich an der politischen Praxis orientiert, die im Land bereits bei der Gründung der Republik im Jahr 1889 vorherrschte. Das funktioniert heute nicht mehr", sagte Tarso Genro, der unter Lula da Silva Justiz- und Bildungsminister war, gegenüber IPS. Dass die PT jetzt in einen Korruptionsskandal verwickelt sei, liege daran, dass sie sich von Anfang an an einer überholten politischen Vision orientiert habe.

Um die Parteikrise zu überstehen, müsse sie an ihren utopischen Idealen festhalten, gleichzeitig sich aber neu erfinden. Dazu müsse sie nicht zu ihren Wurzeln zurückkehren, der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung der 70er und 80er Jahre. "Die heutige Gesellschaft ist wesentlich komplexer geworden, darüber herrscht Konsens", so Genro.


"Demokratie muss sich erst noch entwickeln"

Für Grzybowski hingegen reicht es nicht, die PT zu reformieren, um die politische Krise Brasiliens zu beenden. "Das Problem ist, dass unser politisches System das Erbe der Diktatur ist." Von dieser habe es sich nicht aureichend emanzipiert. Die Bedürfnisse der Bevölkerung würden darin nur zweitranging berücksichtigt. "Die Verfassung von 1988 hat es versäumt, die Politik zu reformieren. Sie hat nichts an den für die Parteien geltenden Regeln geändert. Die Demokratie muss sich in unserem Land erst noch entwickeln."

Von 1964 bis 1985 erlebte Brasilien eine Militärdiktatur. Die Verfassung von 1988 markierte den Rückkehr zur Demokratie. Sie manifestierte politische Rechte verschiedener gesellschaftlicher Gruppen wie Kindern, Behinderten und Indigenen.

"Das Problem ist nicht die Verfassung, sondern der Klientelismus", meint hingegen Joao Alberto Capiberibe, Senator von der Sozialistischen Partei Brasiliens. "Zusammen mit der Korruption und der hohen Anzahl an Staatsbediensteten sorgt sie für immens hohe Ausgaben, denen weder die nationale Politik noch die regionalen und lokalen Behörden gewachsen sind."

"Wenn wir nicht das Wahlsystem ändern, dann ändert sich überhaupt nichts in diesem Land." Unternehmen müsse es verboten werden, die Wahlkampagnen von Präsidentschaftskandidaten zu finanzieren. Sonst würde die Wirtschaft weiterhin bestimmen, wer das Land regiere. (Ende/IPS/jk/19.08.2015)


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http://www.ipsnoticias.net/2015/08/crisis-politica-en-brasil-fin-de-un-ciclo-sin-otro-a-la-vista/

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IPS-Tagesdienst vom 19. August 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2015

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