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LATEINAMERIKA/1446: Die neuen genossenschaftlichen Selbstständigkeiten auf Kuba (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 52 vom 27. Dezember 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Von Piercings, Produktion und paradiesischer Ruhe
Die neuen genossenschaftlichen Selbstständigkeiten auf Kuba

von Günter Pohl



Alle Gesellschaften verändern sich durch den Einfluss der Medien, die Reisemöglichkeiten, den kulturellen Austausch oder individuell nutzbare Informationstechnik in immer schnellerem Tempo. Das gilt in unterschiedlichem Maße auch für Kuba. Aber dort kommt hinzu, dass das Gesellschaftssystem einige Einschnitte erlebt, die im Berufsleben und dem daraus resultierenden Alltag der Menschen insgesamt Auswirkungen haben. Der internationale Austausch wie auch der Kontakt zu ausländischen Touristinnen und Touristen wirkt in Bereiche des offensichtlichen Nachholbedarfs hinein, bei dem, was wir als "Wellness" zusammenfassen. Heute sind in Havanna Piercings nicht mehr selten, Tattoostudios machen auf, vereinzelt sind junge Männer mit Frisuren à la "Tokio Hotel" zu sehen, künstliche Fingernägel in allen Längen und Lackierungen behindern beim Arbeiten, kurzum: ein Interesse an Dienstleistungen, die das Outfit berühren, wird abgedeckt - oder durch das Beispiel anderer eben erst geweckt. Unwillkürlich fragt man sich, ob man das alles will, erinnert es doch sehr an die mitteleuropäische Lebenswirklichkeit, wo diese der Konsumgesellschaft inhärenten Dinge zu den Antreibern des Individualismus und damit den Motoren der Bewahrung der Verhältnisse gehören.

Eigene Vorurteile wollen da überprüft sein; der wissenschaftliche Sozialismus kennt Vorurteile ohnehin nicht. Wohl aber Vorkenntnisse und deren geschichtliche Einordnung. Die dialektische Methode ist also gefragt, und vielleicht kann sich der Sozialismus durch Zugeständnisse an derartige konsumorientierte Interessen günstige Umstände für seinen Erhalt schaffen statt in Schockstarre zu geraten - jedenfalls sind kaum Klagen über die neuen Möglichkeiten zu hören, und auch Klagelieder über "die Jugend" sind selten. Letztlich sollten die in nun fünfundfünfzig Jahren geschaffenen Werte des kubanischen Sozialismus überzeugend genug sein, um eine Gleichzeitigkeit von individualistischem Aussehen und kollektivem Denken und Handeln zuzulassen! Wenn auch die Akzeptanz mancher Veränderungen ein wenig zu reibungslos vonstatten zu gehen scheint.

Ohnehin gilt das beschriebene Phänomen im Jahr 2013 nicht für die Mehrheit der Kubanerinnen und Kubaner. Zwar haben viele Menschen Zugang zum CUC, dem dollarbasierten zweiten Zahlungsmittel neben dem kubanischen Peso, aber wer das häufig ebenfalls dollarbasierte zusätzliche Angebot an Dienstleistungen über die Hunderte von neuen Selbstständigkeiten auch nutzt, der/die kommt dann mit dem Geld am Ende auch nicht wirklich zu größeren Sparguthaben. Wenn man vom Erwerb von zuvor völlig außer Reichweite liegenden Produkten (welche wie die oben erwähnten in der Regel nicht überlebensnotwendig sind) absieht, liegt der Vorteil außerdem noch bei einer - so sagen jedenfalls nicht wenige - besser, schneller oder freundlicher vorgenommenen Bedienung, für die entsprechend zu bezahlen ist. Auch sei quasi sicher, dass eine von Selbstständigen betriebene Unternehmung im Gegensatz zu den staatlichen Stellen zu den angegebenen Uhrzeiten auch tatsächlich besetzt sei. Vermutlich auch darüber hinaus.

Dass dem so ist, wird bei einem Besuch in der "Cooperativa Reconstructora de Vehículos" (CRV) in Havanna deutlich. Der ehemalige Staatsbetrieb für Fahrzeugwiederherstellung ist seit dem 1. Juli eine Genossenschaft; insgesamt gibt es nun 226 nichtagrarische Genossenschaften. Erste Agrargenossenschaften entstanden auf Kuba schon 1960; 1976 und 1993 kamen weitere hinzu, um die Defizite in der Nahrungsmittelproduktion zu überwinden(1). Die Einführung der Möglichkeit auf eigene Rechnung - wenn auch im Verbund mit den anderen Beschäftigten - arbeiten zu können, hatte die Produktion(sbereitschaft) gesteigert. Eine unschöne, aber zu akzeptierende Tatsache. Mit den Beschlüssen des 6. Parteitags der PCC vor zweieinhalb Jahren sind auch nichtagrarische Genossenschaften als Formen nichtstaatlicher Arbeitsrealität auf Kuba erwähnt und später durch Gesetze zugelassen worden. Nun geht es also auch um Bereiche, die nicht der Nahrungsmittelversorgung dienen, sondern um solche, von denen der Staat sagt, dass er darauf nicht unbedingt Zugriff haben muss oder möchte. In der Folge werden die zentralen Sektoren der Wirtschaft in staatlicher Hand bleiben, aber bis zur notwendigen Steigerung der Produktivkraft werden sicher noch weitere Bereiche freigegeben. Die für 2016 anvisierte Abschaffung des CUC braucht ihren Gegenwert in Arbeitsproduktivität, um Inflation zu verhindern.

In der CRV werden Karosserieschäden bearbeitet und Lackierarbeiten durchgeführt. 48 Männer waren die Gründungsmitglieder der Genossenschaft. Nun sind es 65, die hier arbeiten, wovon 61 Genossenschaftler sind. Davon sind wiederum 52 Arbeiter in der Produktion tätig, die anderen im Verwaltungsrat. Diesem gehören die drei Mitglieder der Leitungsgruppe an (Präsident, Vizepräsident und Sekretär) sowie sechs Sektorenbeauftragte. Siebzehn Mitarbeiter des ehemaligen Staatsbetriebes blieben außen vor: sie wollten das Risiko der Genossenschaftsgründung nicht eingehen oder waren in Bereichen beschäftigt, die nun nicht mehr benötigt werden; sie mussten die Arbeit wechseln. Die Installationen und Werkhallen sind vom Staat gemietet; der Preis sei mit 6.000 Pesos angesichts der Umsätze moderat, so Vizepräsident Naphil Pérez. Der Monat Dezember ist mit erwarteten 212.000 CUC der seit Gründung umsatzstärkste Monat. Nach Abzug von Einkäufen und Gewinnsteuer verblieben 45 Prozent im Betrieb.

Naphil Pérez sagt, dass der Staatsbetrieb zuvor keine schlechte Arbeit geleistet hatte. Aber dennoch sei die Arbeitsproduktivität nun mehr als doppelt so hoch. Das liege vor allem am wesentlich höheren Anreiz. Die an die Genossenschaftler ausgezahlten monatlichen "Abschläge auf den Jahresgewinn", wie es statt "Lohn" in der Kooperative heißt, sind von 315 kubanischen Pesos auf durchschnittlich 400 CUC gestiegen. Das ist in etwa das Dreißigfache, wovon allerdings noch Steuern zu entrichten sind. Am 28. Dezember werden die weiteren Gewinne ausgeschüttet. Für die ersten sechs Monate der CRV sollen es weitere 300 CUC pro Mitglied sein.

Die Hauptkunden der CRV sind ETECSA, CEISA, Cubanacan und Transtur (alles Staatsbetriebe aus den Bereichen Telekommunikation, Transport und Tourismus), die ihre Fahrzeuge für durchschnittlich 4.000 CUC auf Vordermann bringen lassen. Da Kuba praktisch keine Ersatzteile einführt, müssen Wunder vollbracht werden, wie Werkstattleiter Denis García erklärt. Stolz erwähnt Kooperativenpräsident Marcelo González, dass praktisch an allen Samstagen und gern auch am Sonntag ausgebeult und lackiert wird. Es werde aber nicht über das Maß hinaus gearbeitet, sondern die Arbeitskapazität des Menschen sei zuvor nicht ausgenutzt worden. Periodische Gesundheitsuntersuchungen sind aber genauso vorgeschrieben wie in staatlichen Unternehmen, und nach einer ersten Phase solle 2014 eine kollektive Entscheidung über Arbeitzeitbegrenzungen herbeigeführt werden. Auch gebe es in der CRV eine Gewerkschaftsgruppe. Klar ist aber auch, dass die Überschüsse des Staatsbetriebs früher in der Gesellschaft verblieben; nun sind sie bei denen, die dafür arbeiten. Diese leben auf einer Insel im Sozialismus, die dringend in die kommunitären Strukturen eingebaut werden muss, wenn sie nicht zu einem Schaufenster in eine andere Welt werden soll. Dass die Genossenschaftsmitglieder gesund sind, etwas gelernt haben, keiner von ihnen je in der Gefahr war obdachlos zu werden, dass sie in Frieden und - im regionalen Vergleich - in paradiesischer Ruhe und ohne Angst vor Raub und Totschlag leben können, verdanken sie dem sozialistischen Staat. Er hat ihnen nun die Gelegenheit gegeben ein Vielfaches von dem zu verdienen, was z. B. die Angestellten der regierenden Kommunistischen Partei verdienen, die nach Lesart der "westlichen Wertegemeinschaft" die Menschen unterdrückt. Hätten wir das Dreißigfache von Merkels und Gabriels Einkommen, ließen wir uns sicher etwas lieber von ihnen regieren.

Kooperativen anderer Art sind die beiden, die sich Abgängerinnen und Abgänger der Restauratorenschule "Gaspar Melchor de Jovellanos" in der Altstadt von Havanna geschaffen haben. Dort sind in den gut zwanzig Jahren des Bestehens 1.353 junge Leute in den Bereichen Gips, Metall, Glas, Holz, Stein, Versorgungsleitungen, Wandmalerei, Archäologie, Musikinstrumente, Schusterhandwerk und Gartenbau ausgebildet worden. Davon sind 70 Prozent immer noch im Bereich der Denkmalpflege tätig, wie der Direktor der Einrichtung, Eduardo González, erklärt. Mit den seit einigen Monaten bestehenden Möglichkeiten der Bildung von nicht-agrarischen Genossenschaften haben sich inzwischen die Absolventinnen und Absolventen der Glaser- und der Schlosserklasse zu zwei Kooperativen verselbstständigt. Heute arbeiten sie für private und staatliche Auftraggeber, denen der Erhalt der Gebäude wichtig ist. Im Falle der Glaser handelt es sich um eine Genossenschaft, die sich mit dem Buntglasfensterbau beschäftigt, den so genannten "Medio Punto"-Halbrundfenstern, die auf Kuba typisch sind. Erst nach Abschluss des laufenden Jahrgangs werden auch Bleiglasarbeiten hinzukommen, die gerade gelehrt werden. Einige der Auszubildenden der Handwerkerschule werden auch zu Modellbauern gemacht, denn es ist wichtig die einzelnen Stadtteile in so genannten "Maquetas" nachzubilden.

Direktor Eduardo González ist stolz auf die Einrichtung. Ein Semester Theorie und Praxis in den Lehrwerkstätten, danach ein Semester an Baustellen. Das sind zumeist solche in Habana Vieja, dem Altstadtbereich der Hauptstadt Kubas. Dort ist in den letzten Jahren unter Aufsicht des Stadthistorikers Eusebio Leal und seinem Büro eine Vielzahl von Häusern renoviert und teils restauriert worden. Es ist faszinierend zu sehen, wie bei jedem Besuch in Havanna die Zahl der nicht nur ansehnlich, sondern oft überhaupt wieder bewohnbar gemachten Häuser größer geworden ist. Trotz der Blockade, die die verschiedensten Schwierigkeiten mit sich bringt, schafft Kuba auch in diesem Bereich nahezu Unglaubliches. Andererseits ist der Erhalt der Gebäude auch ein Erhalt von Wohnsubstanz, die in Havanna knapp ist, und damit doppelt notwendig. Die Restaurierung des Altstadtkerns spielt über die steigende Zahl von Touristinnen und Touristen Geld ein, das wiederum in die Renovierung von Wohnbauten in anderen Stadtteilen geht, wie in Centro Habana, wo fast 40 000 Menschen auf einem halben Quadratkilometer wohnen. Nach wie vor gibt es reihenweise Totalverluste an Wohnraum, weil die Häuser verfallen. Sie werden von zu vielen Menschen bewohnt, die in die hohen Zimmer Zwischendecken einziehen. Die Versorgungsleitungen sind oft mehr als hundert Jahre alt; nirgendwo mangelt es an Ideen für jede Art von Provisorium. Baumaterial ist inzwischen frei gegen CUC verkäuflich, wird an Bedürftige aber selbstverständlich zu Vorzugspreisen abgegeben.

Kuba hat bis zu sozialistischen Höhen noch einige Stufen vor sich. Und muss dabei gleichzeitig die Treppen sanieren.


Anmerkung:

(1) Zum Genossenschaftswesen auf Kuba "Das falsche Leben im richtigen?", Marxistische Blätter 5-2011, Seite 85 ff.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 52 vom 27. Dezember 2013, Seite 13
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2014