Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

LATEINAMERIKA/1393: Chile - Wirtschaftsaussichten rosig, Volk mit Präsidenten dennoch unzufrieden (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Januar 2013

Chile: Wirtschaftsaussichten rosig - Bevölkerung dennoch mit Präsidenten unzufrieden

von Marianela Jarroud


Bild: © Fernando Fiedler/IPS

Auflösung einer Demonstration für einen akzeptablen Mindestlohn in Santiago im Juli 2012
Bild: © Fernando Fiedler/IPS

Santiago de Chile, 18. Januar (IPS) - Chile hat im vergangenen Jahr blendende wirtschaftliche Zahlen vorgelegt. Das hat dem Präsidenten allerdings nicht geholfen, seine Popularität zu steigern. Für die Bevölkerung wiegen soziale Ungerechtigkeiten im Land offenbar mehr als eine gute wirtschaftliche Performance.

Das südamerikanische Land ist an der Wirtschaftskrise Europas mit Bravour vorbeigesegelt. Ende des Jahres 2012 lag das Bruttoinlandsprodukt bei 5,5 Prozent und die Inflationsrate bei lediglich 1,5 Prozent. Die Arbeitslosenquote betrug 6,2 Prozent. Auch bei den Löhnen gab es eine positive Entwicklung zu verzeichnen: Sie stiegen um sechs Prozent.

Jede dieser Zahlen hat die Regierung unter Präsident Sebastián Piñera als Zeichen der Stärke der chilenischen Wirtschaft gefeiert. Kürzlich richtete sie sogar die Internetseite www.chilecumple.cl ('Chile hält seine Versprechen') ein, auf der diese Erfolge gesammelt aufgelistet sind.

Doch das alles hat bisher nicht dazu beigetragen, die Beliebtheit des Präsidenten zu erhöhen: Die Zustimmungsraten in der Bevölkerung liegen bei konstant 30 Prozent. Sein Führungsstil wird scharf kritisiert; und nur 28 Prozent sind mit seiner Wirtschaftspolitik zufrieden.


'Piñera gilt nicht als ehrlicher Präsident'

Dem Politologen Mauricio Morales von der Diego-Portales-Universität in der Hauptstadt Santiago de Chile zufolge ist die Zustimmung oder Ablehnung eines Staatschefs nicht allein in seiner wirtschaftlichen Performance zu suchen. Auch persönliche Attribute beeinflussen die Wahrnehmung seiner Person. "Piñera gilt nicht als ehrlicher Präsident, der auf die Menschen zugeht."

So hatten die Chilenen ihre ehemalige sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet (2006-2010) wahrgenommen. Ihre Zustimmungsraten in der Bevölkerung lagen bei rund 50 Prozent. Das macht sie zu einer ernstzunehmenden Gegnerin Piñeras bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober dieses Jahres. Tatsächlich hat die aktuelle Leiterin der Weltorganisation 'UN Frauen' ihre Kandidatur allerdings noch nicht offiziell verkündet.

Trotz der rosigen Wirtschaftsaussichten sind nicht alle Chilenen mit ihrer Lebenssituation zufrieden. Für den Wirtschaftswissenschaftler Manuel Riesco vom Nationalen Forschungszentrum für alternative Entwicklung zeigt die Ablehnung Piñeras, dass die Bevölkerung den "akkumulierten Ungerechtigkeiten" im Land mehr Bedeutung beimesse als den Wirtschaftsindikatoren. "Missbrauch der politischen und Wirtschaftselite hat es in den vergangenen 20 Jahren sowohl in Zeiten der fetten Kühe gegeben als auch jetzt, da die Kühe fast nur noch Haut und Knochen sind."

"Die Menschen haben fälschlicherweise angenommen, dass mit dem Ende der Diktaktur im Jahr 1990 auch der Machtmissbrauch aufhören würde. Aber das ist nicht eingetreten", sagte Riesco. Zwar sei die Demokratie in Chile eingekehrt. Doch das alte politische Modell sei beibehalten worden und ein grundlegender Wandel habe nicht stattgefunden.

"Die chilenische Öffentlichkeit ist gut informiert und eigentlich ganz geduldig. Aber etwa alle zehn Jahre verliert sie die Geduld. Jetzt ist es mal wieder so weit", meinte der Ökonom. Solange die gravierenden Probleme nicht angegangen würden, würde die Bevölekerung auch nicht wieder schweigen.

Hatte das Jahr 2011 noch im Zeichen der Studenten- und Schülerproteste gestanden - die Jugend drängte zu einer Reform des Bildungssystems - wurden im vergangenen Jahr dann grundlegende politische Reformen verlangt. Neben der Forderung nach einem sozialen, wirtschaftlichen und auch einem umweltpolitischen Wandel kumulierten die Proteste schließlich in dem Wunsch nach einer Verfassungsreform.

Die chilenische Verfassung stammt noch aus dem Jahr 1980, als Diktator Augusto Pinochet (1973-1990) die Zügel fest in der Hand hielt. Der Text behindere institutionelle Reformen, die aber dringend notwendig seien, um die Demokratie voranzubringen und die Ungleichheiten in der Gesellschaft abzuschaffen, betonen Aktivisten, Wissenschaftler und Politiker.


Wenig Geld für Bildung und Gesundheit

"Die Wirtschaftszahlen mögen positiv sein, doch in der Bevölkerung kommt das nicht an", sagt Mercedes Muñoz, Professorin für Grundschulpädagogik gegenüber IPS. "Die Regierung investiert keinen zusätzlichen Peso in Bildung oder Gesundheit. Auch unternimmt sie nichts, was dazu beitragen könnte, dass wir ruhig und besser leben können und sich Eltern nicht lebenslang verschulden müssen, damit ihre Kinder studieren können. Und die Wirtschaftsindikatoren sind eigentlich nur für die Reichen im Lande aussagekräftig."

Chile wurden in den vergangenen Jahrzehnten häufig als "Wunder Lateinamerikas" bezeichnet, weil die Wirtschaftsleistung immer besser wurde und die Armut immer weiter verringert werden konnte. Doch heute gehört es zu den Ländern Lateinamerikas mit der größten Schere zwischen Arm und Reich.

Riesco dämpfte auch die Freude der Regierung, der globalen Wirtschaftskrise so gut getrotzt zu haben. Dies sei lediglich dem unerwartet hohen Preis für Kupfer geschuldet. Das Geld dafür komme zudem nicht bei der Bevölkerung an, sondern werde von den großen Bergbauunternehmen geschluckt. In mehr Arbeitsplätzen beispielsweise schlage sich dies nicht nieder.

Die Regierung hofft derweil weiter auf gute Zahlen. Den Prognosen zufolge soll die Wirtschaft in diesem Jahr um fünf Prozent steigen. (Ende/IPS/jt/2013)


Links:

http://www.cendachile.cl/
http://observatorio.ministeriodesarrollosocial.gob.cl/casen_obj.php
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102244

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 18. Januar 2013
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2013