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LATEINAMERIKA/1333: Chile - Strafvollzugsreform überfällig, höchste Internierungsrate Lateinamerikas (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Februar 2012

Chile: Strafvollzugsreform überfällig - Höchste Internierungsrate Lateinamerikas

von Marianela Jarroud


Santiago, 16. Februar (IPS) - Die Überfüllung der Gefängnisse, gewaltsame Zwischenfälle und die Missachtung der Rechte von Häftlingen sind zum Hemmschuh für das Strafsystem in Chile geworden. Menschenrechtsexperten dringen auf umfassende Reformen.

"Die Situation in den Haftanstalten in Chile hat sich seit einigen Jahren verschlechtert", sagte der Jurist Francisco Cox. Zurzeit sitzen fast 108.000 Menschen in den Gefängnissen des südamerikanischen Landes ein. Die 103 Haftanstalten, von denen sechs von privaten Unternehmen geführt werden, platzen aus allen Nähten.

Offiziellen Daten zufolge befanden sich im vergangenen Oktober rund 54.112 Menschen im geschlossenen Vollzug. Dies bedeutet zwar einen Rückgang um 1.610 im Vergleich zum gleichen Vorjahresmonat. Dennoch waren die Gefängnisse, die von ihrer Kapazität her insgesamt eigentlich nur 33.822 Personen aufnehmen können, damit um 62,5 Prozent überbelegt.


Repressives Sicherheitskonzept

José Araya von der unabhängigen Gesellschaft zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte des Volks, führt die Lage auf das chilenische Sicherheitskonzept zurück. "Es ist konservativ, repressiv und führt zur Überfüllung, ohne dass sich jemand um die sozialen Folgen kümmert", erklärte er.

Chile verzeichnet bei einer Bevölkerung von rund 17 Millionen Menschen unter allen lateinamerikanischen Staaten den größten Anteil an Strafgefangenen. Auf jeweils 100.000 Einwohner kommen statistisch gesehen 318 Häftlinge. Der regionale Durchschnitt liegt zwischen 100 und 150 pro 100.000. In Europa sind es 60 bis 100 pro 100.000.

Nach Angaben von Cox gibt es in Mexiko, Argentinien und Kolumbien prozentual weniger Gefangene als in Chile. Ähnlich sehe es in Brasilien aus, wo die Sicherheitskräfte bei der Verbrechensbekämpfung eingesetzt werden. In der gesamten Region seien die Haftbedingungen "ziemlich schlecht".

Das ist eine Untertreibung angesichts des letzten Vorfalls in der zentralwesthonduranischen Stadt Comayaguna, wo durch einen Brand mehr als 300 Häftlinge in einem Gefängnis ums Leben kamen. Das ist bereits die dritte Katastrophe in neun Jahren. Im April 2003 starben bei einem Massaker in der nordhonduranischen Hafenstadt La Ceiba 69 Gefängnisinsassen, im Mai 2004 verbrannten 107 Gefangene in einer Anstalt in San Pedro Sula im Norden.

Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Situation der Häftlinge verheerend. Wie die Menschenrechtsorganisation 'Amnesty International' in ihrem Jahresbericht kritisierte, ist es in Brasilien üblich, Häftlinge zu foltern. Auch in Jugendgefängnissen komme es zu solchen Übergriffen.

Der UN-Sonderberichterstatter über Folter hatte im März 2010 einen Bericht über die Verhältnisse in Uruguay vorgelegt, in dem er die Regierung zu grundlegenden Strafrechts- und Strafvollzugsreformen sowie zur Schließung menschenunwürdiger Haftanstalten aufforderte. So wurden etwa im Libertad-Gefängnis im Süden Uruguays Häftlinge in Metallkäfige gesperrt. Inzwischen sind die Käfige verboten.


Gewaltexzesse

Andere Menschenrechtsorganisationen der Vereinten Nationen äußerten "tiefe Sorge" über Berichte über Folter und andere Formen der Misshandlung in Gefängnissen und Polizeikommissariaten in Argentinien, vor allem in den Provinzen Buenos Aires und Mendoza.

Am 7. Februar drückte auch der Südamerika-Beauftragte des Hohen UN-Menschenrechtskommissars, Amerigo Incalcaterra, seine Beunruhigung über die Gewaltwelle in den Gefängnissen der Region aus. Während eines Besuchs in Santiago de Chile kritisierte er, dass allein in der ersten Woche drei Häftlinge in Uruguay, zwei in Argentinien und Venezuela sowie einer in Chile gestorben seien. Das Ausmaß der Gewalt in den Gefängnissen sei erschreckend, sagte Incalcaterra, der dafür die "prekären Haftbedingungen" verantwortlich machte.

In Chile wurde nach offizieller Darstellung ein Häftling bei einem Fluchtversuch getötet. "Wir sprechen hier nicht von weißen Tauben", erklärte Justizminister Teodoro Ribera, der das Vorgehen des Sicherheitspersonals rechtfertigte. Die schlechten Zustände in den Gefängnissen des Landes halten weiter an, auch nachdem im Dezember 2010 bei einem Brand in der Haftanstalt San Miguel in der Hauptstadt 81 Insassen ums Leben gekommen waren. Die meisten von ihnen saßen zum ersten Mal hinter Gittern.

Bei den Ermittlungen kam heraus, dass in San Miguel wegen eines Feiertages nur wenige Wärter anwesend waren. Da sie unter Alkoholeinfluss standen, hörten sie die verzweifelten Hilfeschreie der Gefangenen nicht, die wie jetzt in Honduras entweder erstickten oder an Verbrennungen starben. Die Haftanstalt, die eigentlich Platz für 632 Insassen bietet, war zu dem Zeitpunkt mit 1.875 Gefangenen völlig überbelegt.

Cox spricht den Behörden die Bereitschaft ab, internationale Menschenrechtsabkommen einzuhalten. Er kritisierte außerdem, dass zu viele Menschen inhaftiert würden und die Gefängnisse sich von Tag zu Tag weiter füllten. Dabei würden alle Alternativen außer Acht gelassen, die eine Rückfälligkeit der Straftäter verhindern könnten.


Politik der harten Hand

Der Jurist wies darauf hin, dass Ribera Beförderungen von Richtern an die Bedingung geknüpft habe, dass sie hohe Strafen verhängen. Ribera ist Mitglied der konservativen Regierung von Präsident Sebastián Piñera, die seit 2010 im Amt ist.

Die Regierung tritt für eine verschärfte Verbrechensbekämpfung ein, obwohl sich die Zahl der Straftaten im Vergleich zu den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten auf einem moderaten Niveau hält. Die strengen Regelungen stammen oft noch aus der Zeit der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet (1973 bis 1990).

Der vielfach geforderte Bau weiterer Gefängnisse in Chile würde nach Ansicht von Cox das Problem nicht lösen. "Notwendig sind alternative Strafen und eine Sozialpolitik, die auf einen Rückgang der Verbrechen abzielt." (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.amnistia.cl/web/
http://www2.ohchr.org/english/bodies/cat/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=100147

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2012