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LATEINAMERIKA/1197: Brasilien - "Nicht jeder Favela-Bewohner ist ein Gangster" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Dezember 2010

Brasilien:
"Nicht jeder Favela-Bewohner ist ein Gangster" - Militärpolizei in der Kritik

Von Fabiana Frayssinet


Rio de Janeiro, 2. Dezember (IPS) - In vielen Armenvierteln Rio de Janeiros hat sich die Präsenz ziviler Friedenspolizisten als Segen für die Sicherheit der lokalen Bevölkerung herausgestellt. Die jüngsten Operationen der Militärpolizei in einer Favela der Zuckerhutstadt könnten dem hart erkämpften Vertrauen der Menschen in die zivilen Kräfte empfindlich schaden.

"Noch nie habe ich mich so geschämt", sagte eine Bewohnerin von Complexo do Alemão, einem Slum im Norden der Stadt, wo Polizisten und Soldaten seit dem 28. November auf der Suche nach Drogen, Waffen und steckbrieflich gesuchten Gangstern Haus-zu-Haus-Razzien durchführen. Die Haustüren ihrer Nachbarn seien eingetreten und ehrbare Leute wie ihr Cousin misshandelt worden.

Die Rückkehr zur Normalität ist nach Aussagen der Zeugin, die sich Anonymität ausbat, nicht möglich. Die Favela wird von Hunderten von Sicherheitskräften kontrolliert, die den offiziellen Plänen zufolge sieben Monate bleiben sollen. Ihr Einsatz ist die Folge jüngster Überfälle schwer bewaffneter Gangster auf Autos und Busse, die angeblich von Complexo do Alemão aus geplant worden waren. Fahrer und Passagiere wurden ausgeraubt, die Fahrzeuge in Brand gesetzt.

Der Regierung von Rio de Janeiro zufolge hatten die Mafia mit ihren Überfällen auf die Einrichtung von 13 Friedenspolizeieinheiten reagiert, die die Armenviertel mit ihrer dauerhaften Präsenz wieder sicherer machen sollen. In den Favela sind 20 Prozent der Bevölkerung von Rio de Janeiro zu Hause.


Militärpolizei berüchtigt

Die Beschwerden der Bevölkerung von Complexo do Alemão richten sich ausschließlich auf die Militärpolizei und deren Sondereinheit BOPE, die von Menschenrechtsorganisationen ohne schon für zahlreiche Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Deren Einsätze verursachen verglichen mit denen der anderen Sicherheitskräfte landesweit die meisten Todesfälle.

Ein Mann, der seine Tochter in Complexo do Alemão besuchen wollte, wurde bei einem der Einsätze gegen eine Wand geschleudert und nach Drogen oder Waffen durchsucht. "Nicht jeder, der in einer Favela lebt, ist ein Verbrecher. So behandelt zu werden, macht wütend", sagte er.

Tage vor Beginn der Razzien hatten die Menschen, die den alltäglichen Terror der kriminellen Banden in ihren Vierteln leid waren, die Ankunft der Sicherheitskräfte begrüßt. Sie ließen sich mit Soldaten vor deren gepanzerten Fahrzeugen ablichten. Die Zeitungen druckten Fotos, auf denen Polizisten zu sehen waren, die Säuglinge hielten oder älteren Frauen über die Barrikaden halfen, die die Drogenbanden gegen die anrückenden Panzer errichtet hatten.

Ignacio Cano vom Gewaltanalyseinstitut der Universtität von Rio de Janeiro (UERJ) stört der "siegesgewisse Ton der Medien", der völlig fehl am Platz sei. "Die Aufgabe des Militärs besteht in der nationalen Verteidigung, jede Mandatserweiterung ist gefährlich", sagte er. Zudem seien die Hausdurchsuchungen, die ohne konkreten Verdacht durchgeführt würden, komplett illegal, auch wenn sie auf kollektiven Haftbefehlen beruhten.


Vorfälle sollen untersucht werden

Staatliche Stellen haben inzwischen angekündigt, die Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte zu untersuchen. Am 29. November trafen sich Vertreter des Menschen[rechts]sekretariats mit Nichtregierungsorganisationen und Gewaltopfern. Antonio Costa von der Bewegung Rio für den Frieden [zufolge], der an dem Treffen teilgenommen hatte, handelten die Beschwerden über Gewalt, Beleidigungen, Diebstahl und Polizeikorruption. So soll ein Drogenbaron in einem gepanzerten Fahrzeug heimlich aus der Favela in Sicherheit gebracht worden sein.

Costa empfiehlt, bei der Auswahl der für solche Einsätze in Frage kommenden Sicherheitskräfte "besser zu selektieren". Die Militärpolizisten müssten zudem eine besondere Ausbildung durchlaufen, die auch moralische Fragen kläre. Um die Korruption innerhalb der Polizei zu bekämpfen, sei es wichtig, die Kräfte besser zu bezahlen, erklärt er.

Ignacio Cano zufolge war der Polizei- und Militäreinsatz in Complexo do Alemão ein Rückschritt. Während Friedenspolizisten den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Befriedung der Favelas und den Schutz von Menschenleben legten, sei die derzeitige Operation "eine Rückkehr zum Konzept des Sieges über den Feind und zur Politik der Unterdrückung". (Ende/IPS/kb/2010)


Links:
http://www.lav.uerj.br/
http://www.riodepaz.org.br/home.html
http://www.seguranca.
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=97021


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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2010