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LATEINAMERIKA/1161: Haiti - Bildungsnotstand nach Erdbeben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. Oktober 2010

Haiti:
Bildungsnotstand nach Erdbeben - Studenten warten vergeblich auf Unterstützung

Von A. D. McKenzie


Paris, 7. Oktober (IPS) - Bei dem schweren Erdbeben im Januar verlor die haitianische Studentin Angélique nicht nur ihre Wohnung, sondern auch ihre Universität. Freunde halfen ihr dabei, ihre Ausbildung in Paris fortzusetzen. Andere junge Leute in dem bitterarmen Karibikstaat haben dagegen nicht genug Geld, um ihre Studien fortzusetzen.

Angélique hatte Glück im Unglück, als heftige Erdstöße am 12. Januar die Hauptstadt Port-au-Prince größtenteils zerstörten. Die 28-Jährige, die außerhalb der Stadt gejobbt hatte, musste nach ihrer Rückkehr entsetzt feststellen, dass ihr Haus nicht mehr stand und drei ihrer Mitbewohner tot waren.

Die staatliche Universität von Haiti, in der Angélique eigentlich im Juni ihr Examen in Soziologie machen wollte, lag in Trümmern. Unterstützung kam jedoch aus Frankreich, wo Freunde von ihr leben. Der Direktor des Montparnasse-Museums, Jean Digne, gehörte zu denjenigen, die sie nach Europa holten. Die junge Frau hofft nun, im nächsten Sommer ihren Abschluss in der Tasche zu haben. Daran will sie noch einen Master in Kommunikationswissenschaften anschließen.

In Haiti würde die Studentin wie viele andere immer noch darauf warten, dass das Bildungssystem aus den Ruinen aufersteht. Die meisten können sich aus finanzieller Not eine Ausbildung nicht mehr leisten. "Es wurde viel geredet über Stipendien für haitianische Hochschüler", sagte sie im Gespräch mit IPS. "Ich habe dort allerdings kein Geld bekommen, weder von der französischen noch von der haitianischen Regierung, die sich offensichtlich nur für die nächsten Wahlen interessiert."


Regierung wird Desinteresse vorgeworfen

Bereits vor dem Erdbeben waren die Studienbedingungen an der Universität in Port-au-Prince alles andere als optimal. "In der Bibliothek fehlte es an Büchern, und das Interesse der Behörden an den Studenten schien nicht groß zu sein", kritisierte Angélique. Die Regierung habe damals wenig getan und kümmere sich inzwischen gar nicht mehr um die Hochschule.

Die Haitianerin hofft nun, dass die internationale Staatengemeinschaft ihren in der Heimat gebliebenen Kommilitonen nicht nur Bildung, sondern auch Sicherheit und Nahrungsmittel garantiert. Viele ihrer Freunde können nicht mehr studieren, weil sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Andere haben wie sie das Land verlassen.

Auch die Weltkulturorganisation Unesco sieht die Universitäten in Haiti in einer großen Krise. Neben der staatlichen Hochschule in Port-au-Prince gibt es etwa 200 Privatuniversitäten, die von den Studenten teils hohe Gebühren verlangen. Die Qualität der Ausbildung scheint allerdings längst nicht überall gesichert zu sein, denn nur knapp 50 dieser Einrichtungen werden vom haitianischen Bildungsministerium anerkannt.

"Viele Universitäten und andere höhere Bildungseinrichtungen haben Studenten, Lehrer, Gebäude und Ausstattung verloren", sagte Bechir Lamine, der die Unesco in Port-au-Prince vertritt, IPS. Eine der renommiertesten Privatuniversitäten, Quisqueya, sei nun gezwungen, Vorlesungen in Zelten abzuhalten. Allerdings gebe es so gut wie keine Statistiken über das gesamte Ausmaß der Schäden.


Akademiker wandern aus

Der schleppende Wiederaufbau nach dem Erdbeben droht nach Ansicht von Bildungsexperten die ohnehin schon große Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte weiter voranzutreiben. Schätzungsweise 85 Prozent aller haitianischen Hochschulabsolventen leben mittlerweile im Ausland. Schon vor der Naturkatastrophe verließen viele Haiti, um der politischen Instabilität, der Armut und der Gewalt zu entkommen.

"Viele Eltern schicken ihre Kinder in die benachbarte Dominikanische Republik", erklärte Lamine. Für die meisten privaten Hochschulen sei dies eine Gefahr. Blieben erst einmal die Studenten weg, gebe es auch kein Geld mehr für Dozenten.

Die Wiederbeschaffung der zerstörten Infrastruktur kommt nur langsam voran. Einige Universitäten haben aus den USA neue Computer erhalten. Laut Lamine fließt das Geld der Geber jedoch insgesamt spärlich. Ob in diesem Jahr alle Vorlesungen und Seminare wie geplant abgehalten werden könnten, sei daher mehr als fraglich. Sollten im Herbst Hurrikane über das Land ziehen, könne nicht mehr in Zelten unterrichtet werden.

Unmittelbar nach dem Beben waren aus Staaten wie den USA, Kanada, Brasilien, anderen Karibikländern und aus Europa zwar zahlreiche Hilfsangebote gekommen. Die meisten Studenten hatten jedoch kaum Möglichkeiten, Fördergelder zu beantragen, da wichtige Unterlagen unter den Trümmern begraben lagen.


Internationale Hilfe fließt spärlich

Der Wissenschaftler Samuel Pierre, der inzwischen an der Polytechnischen Hochschule im kanadischen Montréal lehrt, sieht größere internationale Anstrengungen als dringend notwendig. "Wir appellieren an die Staaten, die Hilfe versprochen haben, diese auch zu leisten", sagte er IPS. Bislang sei noch nicht viel passiert.

Mehrere Hochschulen in Kanada haben unterdessen haitianischen Studenten die Studiengebühren erlassen. In Haiti selbst hält sich die Regierung bei der finanziellen Förderung der Universitäten zurück. Lediglich ein Prozent der von den Gebern zugesagten Hilfen von rund 5,3 Milliarden US-Dollar sind für Hochschulen vorgesehen. (Ende/IPS/ck/2010)


Links:
http://www.unesco.org/new/en/haiti-quake/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=53073

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 7. Oktober 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2010