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LATEINAMERIKA/1063: Wahlen in Chile (Archipel)


Archipel Nr. 175 - Zeitung des Europäischen Bürgerforums - Oktober 2009

AKTUELL
Wahlen in Chile

Von Jaime Mario Lazo


Am 13. Dezember 2009 werden die Chilenen einen neuen Präsidenten und das Parlament wählen. Michelle Bachelet ist bis dahin noch Präsidentin, kann aber erst in einer nächsten Wahlperiode wieder kandidieren.


Die Sozialistin gehört dem Bündnis Concertación de Partidos por la Democracia (CPPD) an, das sich auf den christdemokratischen Kandidaten Eduardo Frei Ruiz-Tagle (Präsident von 1994 bis 2000) geeinigt hat. Die Coalición por el Cambio («Koalition für den Wechsel») schickt den schillernden Sebastián Piñera, einen der reichsten Männer Chiles, ins Rennen. Einige Chilenen nennen ihn «Berlusarko» (Berlusconi-Sarkozy). Ohne Bündnis tritt der aus der Sozialistischen Partei (PS) ausgetretene 36jährige Abgeordnete Marco Enriquez-Ominami an. Zwei weitere Kandidaten, die auch die Sozialistische Partei verlassen haben, bewerben sich ebenfalls: Alejandro Navarro von dem neu gegründeten Movimiento Amplio Social (MAS) sowie der frühere Vorsitzende der PS und mehrfache Minister Jorge Arrate, für das Bündnis Juntos Podemos, bestehend aus der Kommunistischen Partei und weiteren kleinen Linksparteien. Laut mehrerer Umfragen und der beobachteten Stimmung im Land wird sich die Präsidentenwahl zwischen Frei und Piñera entscheiden.

Wir veröffentlichen hier einen Kommentar von Jaime Mario Lazo, unter Allende im Landwirtschaftsministerium tätig, nach vielen Jahren Exil wieder mehr als ein Jahrzehnt zurück im Land:


Die freie Marktwirtschaft oder: Auf welcher Seite der Demokratie stehen die Präsidentschaftskandidaten? Im Rahmen der derzeitigen Wahlkampagne wird das Land von Diskursen überflutet, die geprägt sind von Allgemeinplätzen und vagen Plänen, Disqualifizierungen der gegnerischen Kandidaten und der Abwesenheit von wirtschaftspolitischen Programmen. In dieser Beziehung müssten die Kandidaten auch Haltung beziehen, ob sie das große Kapital unterstützen oder die wirtschaftliche Entwicklung demokratisieren wollen.

Es scheint so, als ob wir schon die Konsequenzen vergessen haben, die in Chile die Durchsetzung der so genannten sozialen Marktwirtschaft hatte. Sozial war daran nichts, dafür aber viel freier Markt - im Sozialen, Wirtschaftlichen wie auch Politischen. Deshalb hier eine kurze Zusammenfassung von dem chilenischen Wirtschaftsmodell und seiner historischen Durchsetzung, um aufzuzeigen, wie heute immer noch dieselben Grundannahmen und Ziele gelten (1).

Milton Friedman konstruiert in seinem Buch «Kapitalismus und Freiheit» die Grundpfeiler des Freien Marktes, auf die sich in den USA das Wirtschaftsprogramm der Neokonservativen gründet:

- Deregulierung: die Regierungen sollen jegliche Regulation und Einschränkungen abschaffen, die die Akkumulation von Profiten für die Konzerne erschweren. Steuern darf es zwar geben, sie müssen aber sehr niedrig sein und den gleichen Satz für Reiche und Arme haben.

- Privatisierung: es müssen alle Vermögenswerte, die der Staat besitzt und aus denen Profit gemacht werden kann, an private Firmen veräußert werden. Die Konzerne können ihre Produkte überall auf der Welt verkaufen, und die Regierungen dürfen lokale Industrien nicht schützen. Preise wie Löhne werden durch den Markt bestimmt. Privatisiert werden kann: Gesundheitswesen, Bildungswesen, Post, Renten.

- Kürzungen: Gekürzt werden müssen die Sozialausgaben und alle finanziellen Mittel zur Unterstützung von sozialen Programmen. Außerdem heißt es, dass die Arbeiter ihren gesamten Arbeits- und Sozialschutz aufgeben sollen. (Naomi Klein, op. cit.) Diese Postulate stimmen völlig mit den Interessen der großen Multinationalen überein. Das ist ein direkter Angriff auf den «Sozialstaat», der eine schnelle Bereicherung in Aussicht stellt, indem die öffentlichen Güter und staatlichen Dienstleistungen auseinander genommen und unter ihrem Wert verkauft werden.


Terror und freier Markt

Orlando Letelier (2) hat für die US-Wochenzeitung The Nation im August 1976 eine Studie über «Die Chicago-Boys in Chile» geschrieben. Darin beschreibt er mit großer Klarheit die Beziehung zwischen der Politik des Terrors unter Pinochet und der Durchsetzung der Freien Marktwirtschaft: «Die Verletzung der Menschenrechte, das System der institutionalisierten Brutalität, die extreme Kontrolle und die Beseitigung jeglicher Form von Dissens wird oftmals diskutiert - und zumeist verurteilt - als ein Phänomen, dass nur indirekt oder gar nicht mit der klassischen Politik des absoluten 'Freien Marktes' verknüpft ist, die von der Militärjunta eingeführt wurde». Letelier erklärt, dass eine «interne Harmonie» existiert zwischen dem Impuls, einige Bereiche der Gesellschaft aufzulösen und der grundlegenden Ideologie des Freien Marktes.

1982 - trotz der treuen Gefolgschaft der Chicago-Doktrin durch die Regierung - brach die chilenische Wirtschaft zusammen, explodierten die Schulden, gab es wieder Hyperinflation und Arbeitslosigkeit um die 30 Prozent. Ursache dafür war, dass die Konzerne, die vom Staat von jeglichen Regulierungen befreit worden waren, die Vermögenswerte des Staates mit geliehenem Geld gekauft hatten und sich so eine Verschuldung von 14 Milliarden Dollar angehäuft hatte. Pinochet war gezwungen, Firmen wieder zu verstaatlichen und die CODELCO (Chiles nationale Kupferindustrie) unangetastet zu lassen.

Die Mehrheit der Chicago-Boys verlor ihre Posten in der Regierung, auch der Finanzminister Sergio de Castro. Das Einzige, was man erreicht hatte, war, dass eine kleine reiche Elite innerhalb von sieben bis acht Jahren zu einer superreichen Elite geworden war - ermöglicht durch Schulden und staatliche Subventionen. Dank der Zusammenarbeit zwischen dem Polizeistaat und den großen Firmen gegen die Arbeiter war dies möglich. Das heißt, man hatte einen halb korporatistischen Staat gebildet. Die Gewerkschaften waren ausgeschaltet - die Arbeiter mussten bedingungslos dieser von der Allianz kontrollierten Akkumulierung von Reichtum dienen.

Studien belegen, dass 1976 um die 80 Prozent der politischen Gefangenen in Chile Arbeiter und Bauern waren. (Naomi Klein, op. cit). Dieser Krieg der Reichen gegen die Armen und die Mittelklasse ist zweifellos eine Komponente des «Ökonomischen Wunders von Chile» unter der Diktatur. Die CIA schrieb 2007, dass 1988 - als die Krise von 1982 überstanden war - 45 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gefallen waren, und dass die reichsten 10 Prozent ihre Einnahmen um 83 Prozent gesteigert hatten. 2007 belegte Chile unter 123 Nationen auf der Welt den achten Platz der Länder mit der größten Einkommensungleichheit.

Orlando Letelier schrieb 1976, dass «Millionen von Dollar aus den Taschen der Erwerbstätigen gezogen und in die Taschen der Kapitalisten und Großgrundbesitzer gesteckt worden waren», diese Konzentration von Reichtum war die Basis des «Sozialprojektes» der Diktatur und der Wirtschaftpolitik der Chicagoer Schule (Naomi Klein, op. cit.).

Bestätigt wurde auch, dass es beim Foltern den Folterern weniger darum ging, Informationen von den Gefangenen zu erhalten, als vielmehr die Gefangenen zu einem Verrat und Bruch mit ihrer politischen und sozialen Umwelt zu zwingen. Bei der Durchsetzung des Freien Marktwirtschaftmodells war die zentrale Linie, Klassenbewusstsein und Solidarität zwischen den verschiedenen Bereichen zu brechen.


Eliminierung der Gewerkschaften

Das bedeutet - neben anderen Aktionen - die Gewerkschaften entsprechend der Produktionszweige zu eliminieren, aber gleichzeitig das Entstehen mehrerer Gewerkschaften innerhalb der gleichen Firma zu fördern, die unterschiedliche Interessen haben; Bildung und Gesundheitsversorgung zu kommunalisieren, um die Ungleichheit zwischen reichen und armen Kommunen zu fördern; die Verteidigung von Arbeitsrechten in Gremien sollte unmöglich gemacht werden; die Privatisierung der Sozialfürsorge, um Versicherungssysteme entstehen zu lassen, die sich entsprechend der Einkünfte der Versicherten unterschieden; Kurzzeitarbeit zu bevorzugen, um ein vermitteltes Arbeitsverhältnis zwischen Unternehmer und Angestelltem herzustellen und gleichzeitig zu erschweren, dass die Arbeiter sich zusammenschließen, um Forderungen zu stellen. So wurde eine gigantische Reservearmee an Arbeitskräften geschaffen, die keine Mittel hat, ihre elementarsten Rechte zu verteidigen.

Die Verbindung zwischen der politischen Verfolgung durch die Diktatur und der Durchsetzung der freien Marktwirtschaft wurde nie offen von Menschenrechtsverteidigern in Betracht gezogen. Genauso wenig haben diese erkannt, dass die Terrorakte «Werkzeuge» mit politischen und wirtschaftlichen Zielen darstellen, die dazu bestimmt sind, die Durchsetzung der freien Marktwirtschaft zu begleiten. (Naomi Klein, op.cit.)

Dieses intellektuelle Versäumnis wurde nie beseitigt und mit der Wiederkehr der Demokratie Anfang der 1990er Jahre fortgesetzt. Informationen von Amnesty International, Informe Rettig usw. führen die Polizeiübergriffe, Verschwundenen, Gefolterten und Toten im Einzelnen auf, aber sie bringen diese Terrorhandlungen nicht in Verbindung mit der Ausbreitung der Armut und dem Zurückfahren von Programmen zur Reichtumsverteilung. Und obwohl man die Gesetze und Erlasse über die Kürzungen der Gehälter und die Erhöhung der Preise der Junta kennt, spricht niemand davon, dass diese feste Bestandteile der Durchsetzung des Wirtschaftsmodells waren. Durch die Berichte der Menschenrechtsorganisationen werden zwar für die Concertacion-Regierungen die Möglichkeiten geschaffen, die Anklage gegen die tatsächlichen Verantwortlichen des Missbrauchs, der Morde und der Verschwundenen, die in ihrer großen Mehrheit zu Militär und Polizei gehören, voran zu bringen. Das ist natürlich gerecht und unabdingbar.


Finanzoligarchie

Allerdings ergeht es denjenigen anders, die den wirtschaftlichen Terror vorantrieben und sich in weniger als anderthalb Jahrzehnten enorm bereicherten. Sie waren es, die direkt oder indirekt hinter den Angriffen auf die Menschenrechte standen und sich zu einer wahrhaften Finanzoligarchie entwickelten. Gegen sie laufen keinerlei Ermittlungen. Mit der Einführung der Demokratie in Chile wurde die juristische Verfolgung derjenigen, die sich während der Diktatur mit ihren Wirtschaftsaktivitäten bereicherten (sie erwarben ganze Industrien zu Schleuderpreisen oder Banken mit dem Geld der Bevölkerung) nicht thematisiert. Solche Vorgehensweisen lassen sich bis heute beobachten. Dies lässt sich nur als Teil und Ergebnis von Verhandlungen verstehen, die die Führungsspitze der Concertacion mit der Rechten führen musste, um die Militärs von der Macht zu entfernen.

Allerdings haben sich fast 20 Jahre lang Verbindungen und Netzwerke zwischen den Interessen bestimmter Eliten und den Köpfen einzelner Gruppen der Concertacion mit Bereichen der Rechten gebildet, insbesondere mit denjenigen, die stark von der Politik der Reichtumskonzentration während der Diktatur profitierten. Dies bindet nun natürlich die Hände derjenigen innerhalb der Führung der Linken - seien sie nun aus der «erneuernden Linken», der «neuen linken Mitte» oder der «außerparlamentarischen Linken», die deshalb die wahren Gründe und Ursprünge des neuen Reichtums aus der Diktatur weder aufdecken können noch wollen. Ebenso wenig werden sie all die Personen und ihre politischen Machenschaften demaskieren, die an dieser Bereicherung verdient haben.

Die Forderung an die Präsidentschaftskandidaten muss sein, klare Aussagen zu machen über die Finanz- und Kreditpolitik, die Rolle des Staates in der Förderung der Produktion, der Verbesserung der sozialen Dienstleistungen, der Verstaatlichung und wirtschaftlichen Kontrolle über Firmen im Dienstleistungs-, Politik- und Nahrungsmittelbereich, sowie über die Unterstützung kleiner Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe. Ebenso ist ihre Haltung gefragt bei der operativen Dezentralisierung der Regionen, der Gesundheitsversorgung und Bildung für alle sozialen Schichten, dem Schutz der Naturressourcen und einer effektiven Bestrafung derjenigen, die sie zerstören. Nicht nur zur Sicherheit der Bürger vor Verbrechen, sondern auch zum Schutz der öffentlichen Güter müssen sie Aussagen machen. Das ist die einzige Möglichkeit, um herauszufinden, auf welcher Seite der Demokratie diese Präsidentschaftskandidaten stehen.


Anmerkungen:

(1) Grundlage dafür ist das Buch von Naomi Klein: «Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus». Aus dem Engl.; S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-10-039611-2

(2) Orlando Letelier del Solar (1932 - 1976) war ein chilenischer Diplomat und Politiker. Er wurde in Washington durch Agenten der chilenischen Geheimpolizei DINA ermordet, die für den Diktator Augusto Pinochet arbeiteten, zu dessen Regime Letelier in Opposition stand.


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 175, Oktober 2009, S. 5-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2009