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ASIEN/897: Indien - Märtyrer-Kult spaltet Tibeter (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Mai 2014

Indien: Märtyrer-Kult spaltet Tibeter

von Robert Stefanicki


Bild: © Robert Stefanicki/IPS

Ein Passant vor einer riesigen Plakatwand mit den Konterfeis der tibetischen Märtyrer
Bild: © Robert Stefanicki/IPS

Dharamsala, Indien, 21. Mai (IPS) - Im Kangra-Tal am Fuße der Dhauladhar-Berge im nordindischen Bundesstaat Himachal Pradesh liegt der malerische Ort Dharamsala. Hier, am Sitz der tibetischen Exilregierung, wird der vielen Tibeter gedacht, die sich aus Verzweiflung über die chinesische Besatzung selbst verbrannten. Doch der Märtyrer-Kult spaltet die tibetische Gemeinschaft.

Seit 2009 haben fast 130 Tibeter den Feuertod gewählt. Seit Jahrzehnten wünschen sich die Menschen ein Ende der chinesischen Herrschaft und eine Rückkehr ihres geistigen Oberhauptes. Der Dalai Lama war vor über 50 Jahren aus Tibets ehemaliger Hauptstadt Lhasa geflohen.

Die 'Selbstmordwelle' in Tibet setzte sich nach Protesten in Lhasa im Vorfeld der Sommerolympiade in Peking 2008 ein und erreichte dann ganz Tibet. Heute sind die Konterfeis der Männer und Frauen, die sich selbst töteten, in Dharamsala omnipräsent. Hier, wo die Mehrheit der über 100.000 Exiltibeter leben, sind Flammen ein wichtiges Element der patriotischen Mauerbilder, Skulpturen und Gemälde. Noch spektakulärer sind die riesigen Poster, auf denen die Selbstverbrennungsopfer abgebildet sind. Einige Bilder zeigen brennende Menschen in der Stunde ihres Todes, andere die verkohlten Leichen. Die Bildunterschriften beschränken sich auf Namen, Geburtsort und Todesdatum.


Akt des Mutes oder der Sinnlosigkeit?

Innerhalb der tibetischen Gemeinschaft ist man sich uneins, ob der Tod dieser Menschen der Sache der Tiber hilft oder schadet. Die beiden Freunde Tenzin und Ngawang zum Beispiel, die in den 1980er Jahren in Lhasa geboren wurden, nehmen, was die Selbstmorde angeht, unterschiedliche Positionen ein.

Für Ngawang, der seinen Nachnamen nicht nennen will, sind Tibeter, die sich selbst verbrennen, Helden. "Diese mutigen Menschen zeigen, dass sie keine Sklaven sein wollen, dass wir einem einzigen Volk angehören und bereit sind, für unser Volk zu sterben."

Mit dieser Meinung steht er nicht allein da. Er gehört zu den vielen Gegnern der chinesischen Politik der Überwachung und Unterdrückung. So muss der Unterricht für Tibeter ab der weiterführenden Schule ausschließlich in Chinesisch stattfinden. Außerdem ist es Tibetern untersagt, ihre Religion frei auszuüben und ein Bild des Dalai Lama aufzustellen.

Doch Tenzin ist anderer Meinung. "Die meisten, die sich das Leben nahmen, waren zwischen 20 und 40 Jahre alt. Was für ein Verlust für unser Volk. Wir können uns eine solche Verschwendung nicht leisten", meint er.

Zu den letzten Opfern von Selbstverbrennungen gehört der Mönch Jigme Tenzin. Er zündete sich am 16. März an und starb vor dem Shador-Kloster in der chinesischen Provinz Qinghai. Nach seiner Protestaktion verhafteten die chinesischen Sicherheitskräfte zahlreiche Mönche und Familienmitglieder des Opfers und misshandelten sie.


Kollektive Strafen

Doch Chinas Zorn zeigt sich nicht allein in der Gestalt der Sicherheitskräfte. Am 8. April letzten Jahres gab die Ruo'ergai-Volksbezirksregierung in Sichuan ihre sogenannten Interimsbestimmungen gegen Selbstverbrennungen heraus, die die kollektive Bestrafung der Familien oder Haushalte der Verbrennungsopfer vorsehen.

Ein weiterer Paragraph sieht die Einstellung aller Investitionsprojekte in Gemeinden, Dörfern oder klösterlichen Einrichtungen vor, die mit einem Freitod in Verbindung gebracht werden. Auch wird ihnen der Zugang zu Krediten für die Dauer von drei Jahren gestrichen. Ein weiterer Paragraph zwingt verdächtige Gemeinden, Dörfer oder klösterliche Einrichtungen zur Hinterlegung eines 'Sicherheitsbetrags' in Höhe von 10.000 bis 500.000 Yuan (1.600 bis 80.000 US-Dollar). Der Betrag wird zurückgezahlt, wenn es innerhalb von zwei Jahren zu keiner weiteren Selbstverbrennung kommt.

Tibeter haben die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass ein aggressiver oder gewaltsamer Widerstand nicht zur Freiheit führt, sondern zu nur noch mehr Blutvergießen und Einschränkungen ihrer Freiheiten. So geschehen 2008, als Tibeter in Lhasa Geschäfte chinesischer Immigranten anzündeten und damit Repressalien von Seiten der chinesischen Behörden auslösten.

Viele Tibeter sehen in den Selbstverbrennungen ein Zwischending aus Rebellion und Gewaltlosigkeit. "Sie sind ein heiliger Akt, der nicht aus Hass geboren ist", meinte dazu der Mönch Kanyag Tsering. "In ihren Abschiedsbriefen haben die Opfer nicht den Sturz der kommunistischen chinesischen Regierung, sondern die Rückkehr des Dalai Lama gefordert. Sie bitten ihre Landsleute, das Glücksspiel aufzugeben, Unfrieden zu vermeiden und mit anderen für das Wohlergehen Tibets zu kooperieren. Sie schaden niemanden. Anstatt ihr eigenes Leben zu opfern, könnten sie ebenso gut Chinesen das Leben nehmen. Doch das tun sie nicht."

Paradoxerweise sind die meisten Tibeter zutiefst religiös und praktizieren eine Form des Buddhismus, der Selbstmorde verbietet. Doch die Fürsprecher von Selbstverbrennungen, Laizisten und Gläubige gleichermaßen, halten entgegen, dass der Buddhismus nicht verbietet, für eine höhere Sache zu sterben.

Tatsächlich findet sich einer der ersten Verweise auf Selbstverbrennung als Opferung in den alten buddhistischen Texten, die als Jataka-Wiedergeburtsgeschichten bekannt sind. Darin wird auf eine Szene eingegangen, in der Buddha seinen Körper einer hungrigen Tigerin zum Fraß überlässt.


"In guter Absicht"

Laut Kirti Rinpoche, dem exilierten Abt von Kirti Gompa, einem Kloster des tibetischen Buddhismus in der Provinz Sichuan, werden die Selbstverbrennungen aus der guten Absicht begangen, den sechs Millionen Tibetern zu helfen. "Somit agieren sie in Übereinstimmung mit den Lehren Buddhas", meinte er. Kirti Gompa gilt als das landesweit 'militanteste' Kloster, weil es mehrere der Märtyrer hervorgebracht hat.

Doch trotz des Zuspruchs einflussreicher geistiger Führer nimmt die Zahl der Tibeter zu, die Selbstverbrennungen für sinnlos halten. Der durch die Selbstverbrennungen entstandene internationale Druck auf Peking sei mit Festnahmen und Repression beantwortet worden, argumentieren sie. Neben Angehörigen, Freunden und Klöstern seien ganzen Dörfern die Bürgerrechte verweigert und diese mit hohen Geldstrafen belegt worden.

Der bisher lautstärkste Aufruf gegen die Selbstverbrennungen kam aus Tibet selbst von den Lamas aus Rebgong. "Im Bewusstsein, wie kostbar das menschliche Leben ist, flehen wir euch auf Knien und mit über der Brust gefalteten Händen an: Stellt die verzweifelten Selbstverbrennungen ein", schrieben die geistigen Führer in ihrem Aufruf von November 2012. Sie appellierten zudem an die Tibeter, "ihren unschätzbaren menschlichen Körper" für großartige Taten aufzusparen, die allen Wesen helfen, anstatt ihn "Verzweiflung, Agonie und Leid" zu opfern.

Ein ähnlicher Aufruf kam aus der Diaspora vom Karmapa-Lama, dem angesehenen Leiter des Karma-Kagyu-Ordens, einem wichtigen Zweig des tibetischen Buddhismus.

Die Exilregierung selbst ist zwiegespalten. So erklärte Ministerpräsident Lobsang Sangay einerseits, dass er niemanden zu solchen drastischen Schritten ermuntere, andererseits, dass es die "heilige Pflicht" der Exilgemeinde sei, diese zu unterstützen.


Dalai Lama hält sich bedeckt

Der einzige Mensch, der die Selbstverbrennungen verhindern könnte und dessen Namen von den Betroffenen im Augenblick des Todes genannt wird, vermeidet das Thema. Unter dem Druck von Journalisten bezeichnete er die Selbstverbrennungen als "nachvollziehbar", erklärte aber ebenfalls, niemanden zu einer solchen Tat zu ermutigen.

Vielen gilt diese Aussage als Ausdruck eines stillschweigenden Einverständnisses. "Die chinesische Regierung beschuldigt Seine Heiligkeit, zu den Selbstverbrennungen anzustiften", meint Thubten Samphel, ein ehemaliger Regierungssprecher und Leiter des vor kurzem gegründeten 'Tibet Policy Institute'.

Samphel hat keinen Zweifel daran, dass eine Intervention des geistigen Oberhaupts der Tibeter die Selbstverbrennungen sofort stoppen könnte. In einem solchen Fall sähe sich China jedoch in seiner Meinung bestätigt, dass die bisherigen Freitode ohne die Zustimmung des Dalai Lama nicht stattgefunden hätten. (Ende/IPS/kb/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/05/tibetans-divided-cult-martyrs/

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IPS-Tagesdienst vom 21. Mai 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2014