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ASIEN/797: Ein gutes Ergebnis für die indische Demokratie - die Landtagswahlen 2012 (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Ein gutes Ergebnis für die indische Demokratie: die Landtagswahlen 2012

Von Henrik Maihack und Felix Schmidt, März 2012


• Die Landtagswahlen in fünf indischen Bundesstaaten verweisen auf eine positive politische Entwicklung: Themen und Programme werden wichtiger. Die Bedeutung von Kastenzugehörigkeit und Patronage für das individuelle Wahlverhalten nimmt ab.

• Regionalparteien sind die Gewinner der Landtagswahlen. Die zwei großen nationalen Parteien Kongresspartei (INC) und die Bharatiya Janata Party (BJP) bleiben weit hinter ihren Erwartungen zurück.

• Die überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung und die ausgezeichnete Organisation der Wahlen durch die Wahlkommission verdeutlichen die tiefe Verankerung der indischen Demokratie auf allen Staatsebenen.

• Die von der Kongresspartei angeführte Regierungskoalition in Neu Delhi unter Premierminister Manmohan Singh wurde durch die Landtagswahlen weiter geschwächt. Die Umsetzung notwendiger Reformen wird damit unwahrscheinlicher. Vorzeitige Neuwahlen sind nicht auszuschließen.



Wahlmarathon in Indien

Zwischen Januar und März 2012 fanden in fünf indischen Bundestaaten Wahlen statt. Im Norden Indiens waren die Wähler im mit rund 200 Millionen Einwohnern größten Bundesstaat Uttar Pradesh, im benachbarten Uttarakhand und im an Pakistan grenzenden Punjab zur Wahl aufgerufen. Außerdem wurde in Manipur im Nordosten Indiens und im kleinsten Bundesstaat Goa in Südindien gewählt. Die Wahlergebnisse, die am 6. März bekannt gegeben wurden, sind vor allem für die beiden großen nationalen Parteien Indian National Congress (INC) und Bharatiya Janata Party (BJP) enttäuschend. Zwar können in Uttarakhand, Manipur und Goa jeweils neue Regierungen von INC oder BJP gebildet werden. Die eigentlichen Gewinner der Wahlen waren jedoch Regionalparteien ohne nationale Präsenz, die fast überall ihre Stimmanteile ausbauen konnten. In Uttarakhand, wo die Kongresspartei von einem deutlichen Sieg ausgegangen war, kann sie nur mit der Unterstützung von unabhängigen Abgeordneten die Regierung bilden. Im Bundesstaat Punjab, in dessen Geschichte noch nie eine amtierende Regierung von den Wählern im Amt bestätigt wurde, war der Kongress zu schwach, um sich gegen die eigentlich unbeliebte Regierungskoalition aus der Regionalpartei Akali-Dal und der BJP durchzusetzen. In Goa wurde eine nepotistische und korrupte INC-Landesregierung aus dem Amt gewählt und durch eine BJP-Regierung ersetzt. Die Wahl in Manipur, wo verschiedene Rebellengruppen für eine Abspaltung des Staates von Indien kämpfen, bildet eine Ausnahme. Hier konnte der Kongress seine Stimmenanteile deutlich verbessern.

Allerdings waren diese vier Bundesstaaten eher Nebenschauplätze verglichen mit dem nationalen Interesse an den Wahlergebnissen in Uttar Pradesh. Angesichts der Größe und der politischen Bedeutung von Uttar Pradesh werden die Wahlen in diesem Bundestaat traditionell als Trendmesser für das politische Stimmungsbild in ganz Indien interpretiert. Hier leben mit etwa 200 Millionen Einwohnern knapp 17 Prozent aller Inder. Uttar Pradesh ist einer der ärmsten Bundesstaaten Indiens, in dem es fast keine Mittelklasse gibt. Wer hier gewinnt, egal ob regionale oder nationale Partei, wird automatisch zu einem der wichtigsten politischen Akteure Indiens. So hatten acht der vierzehn amtierenden indischen Ministerpräsidenten und -präsidentinnen seit 1947 ihren Wahlkreis in Uttar Pradesh. Das Interesse an den Wahlen in Uttar Pradesh wurde durch das Aufeinandertreffen dreier besonders schillernder Persönlichkeiten noch verstärkt. Die Ministerpräsidentin und ehemalige Anführerin der »Dalit«-Bewegung in Uttar Pradesh, welche die sogenannten »Kastenlosen« vertritt, Mayawati, und ihre Partei Bahujan Samaj Party (BSP) konnten die letzten Landtagswahlen 2007 noch mit großer Mehrheit gewinnen. Gegen sie trat an: die sozialistisch-sozialdemokratische Samajwadi Party (SP), angeführt vom erst 38-jährigen Akilesh Yadav, Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Uttar Pradeshs, Mulayam Yadav. Außerdem wurde sie von der Kongresspartei, angeführt vom 41-jährigen Rahul Gandhi, dem Sohn der Chefin des INC, Sonia Gandhi, Enkel der ehemaligen Premierministerin Indira Gandhi und damit Urenkel des ersten Premierministers von Indien, Jawarhalal Nehru, herausgefordert. Der dritte Gegner war die BJP, welche ihre Kampagne nicht auf eine Person zuspitzte. Da in Indien Parteien nach wie vor als dynastische Erbhöfe gelten und dies weitgehend akzeptiert wird, hatte die Aufstellung dieser Politikersöhne niemanden verwundert. Mit der BSP und der SP waren zwei Parteien im Rennen, die nur in Uttar Pradesh Anspruch auf die Regierungsbildung anmeldeten, während INC und BJP in allen fünf Landtagswahlen an den Start gingen. Besonders über Rahul Gandhis Kampagne in Uttar Pradesh wurde in allen Einzelheiten in den nationalen Medien berichtet. Als Mitglied der Gandhi-Familie, die mit kurzen Unterbrechungen seit der Unabhängigkeit 1947 den oder die Premierminister/in stellt, gilt er als potenzieller Nachfolger von Manmohan Singh im Amt des nationalen Premierministers. In Uttar Pradesh wollte er sich jedoch erst beweisen. Bei 211 öffentlichen Wahlkampfauftritten im Laufe von fünf Monaten inszenierte sich Rahul Gandhi als volksnaher und jugendlicher Politiker, der jedoch offenließ, ob er auch über die Wahl hinaus zunächst in Uttar Pradesh bleiben würde, oder doch lieber schon bald eine größere Rolle auf nationaler Ebene spielen wolle. Die guten Ergebnisse des INC in den Wahlkreisen Uttar Pradeshs während der nationalen Parlamentswahlen 2009, Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung der selbstherrlichen Ministerpräsidentin Mayawati, die in ganz Uttar Pradesh riesengroße Denkmäler von sich aufstellen ließ, und die Prominenz Rahul Gandhis ließen bei vielen Kongresspolitikern die Hoffnung aufleben, in Uttar Pradesh, das seit 1991 nicht mehr vom Kongress regiert wird, in Zukunft wieder eine größere Rolle zu spielen. Diese Hoffnungen wurden bitter enttäuscht. Während die SP mit 224 von 403 Sitzen im neuen Parlament der klare Sieger der Wahl ist, verlor Mayawatis BSP 126 Sitze gegenüber 2007 und hat im neuen Parlament nur noch 80 Sitze. Die BJP verlor vier Sitze und kam auf 47 Sitze. Abgeschlagener Vierter war der Kongress mit 28 Sitzen. Zwar konnte die Partei sechs Sitze mehr gewinnen als noch in 2007, allerdings war man angesichts des großen Einsatzes Gandhis von deutlich mehr Sitzen ausgegangen. Eindeutig war dann auch die Analyse der indischen Medien am 6. März: Größter Verlierer der fünf indischen Landtagswahlen ist die Kongresspartei. Das von den Medien inszenierte Duell der beiden jungen Kandidaten Rahul Gandhi (INC) und Akilesh Yadav (SP) konnte letzterer klar für sich entscheiden. Auch wenn die BJP insgesamt in den Landtagswahlen deutlich mehr Stimmen verlor als der Kongress, hatte die BJP schließlich nicht, wie der Kongress, ihren potenziellen nächsten nationalen Premierministerkandidaten ins »Bewerbungs-Rennen« geschickt und dementsprechende Erwartungen geschürt.


Die indische Demokratie lebt - Wahlbeteiligung so hoch wie nie

Vor den Wahlen hatten viele Beobachter nach dem merklichen Abflauen der nationalen Anti-Korruptionsbewegung noch eine abnehmende Wahlbeteiligung prophezeit. Diese von der urbanen Mittelklasse getragene Bewegung hatte vor allem in der zweiten Jahreshälfte 2011, angeführt vom Sozialaktivisten Anna Hazare, tausende Menschen auf die Straße gebracht, dann aber an Dynamik verloren. Die Wahlbeteiligung in allen fünf eher ländlich geprägten Bundesstaaten brach hingegen alle Rekorde. Allein in Uttar Pradesh gingen knapp 60 Prozent aller Wahlberechtigten, insgesamt mehr als 75 Millionen Menschen, zur Wahl. Dies war ein Anstieg um 14 Prozent gegenüber den letzten Landtagswahlen 2007. Eine ähnlich zunehmende Wahlbeteiligung wurde in drei weiteren Staaten erreicht, angeführt von Goa, wo mehr als 82 Prozent aller Wähler ihre Stimme abgaben. Von derartigen Wahlbeteiligungen auf Landesebene sind die meisten Nationen weit entfernt. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sich die indische Demokratie schichten- und kastenübergreifend etabliert hat. Dieses offensichtliche Vertrauen in einen demokratischen Wahlprozess ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der kompetenten und unabhängigen Wahlkommission, die in beeindruckender Art und Weise in allen fünf Bundesstaaten trotz hitziger Wahlkämpfe einen fairen Wettbewerb organisierte. Entsprechend wird das Wahlergebnis auch von niemand, auch nicht den Wahlverlierern, in Frage gestellt.


Regionale Themen wichtiger als Kaste und Religion

Welche Faktoren erklären die besonders hohe Wahlbeteiligung und wie sind die Ergebnisse zu interpretieren? In der Vergangenheit wurden indische Wahlergebnisse vor allem mit der Zugehörigkeit einzelner Wählergruppen zu einer bestimmten Kaste, Ethnie oder Religionsgemeinschaft erklärt. So stellten die Parteien in den jeweiligen Wahlkreisen meist Kandidaten auf, welche die Kaste bzw. Religion der Mehrheit der Bewohner repräsentierten. Entscheidend für den Wahlerfolg war dann jeweils die Mobilisierung der »eigenen« Kaste. Programmatik und konkrete Politikvorschläge zur Bekämpfung der hohen Armut in vielen Teilen Indiens traten gegenüber dieser »Kasten-Arithmetik« für den Ausgang von Wahlen in den Hintergrund. Angesichts der offiziellen Quoten in Regierungsämtern und in Bildungseinrichtungen für bestimmte Kasten, Ethnien und Religionsgemeinschaften waren Wahlkämpfe oftmals von Versprechungen von Patronage der einzelnen Kandidaten bzw. der Ermöglichung von Zugängen zu öffentlichen Ämtern für das eigene Klientel geprägt. Von dieser Art von Wahlkampf haben die Wähler in großen Teilen Indiens inzwischen offenbar genug. So wurden in allen fünf Bundestaaten Korruption und mangelnde sozioökonomische Entwicklungsorientierung der jeweiligen Regierungen von den Wählern bestraft. Belohnt wurden hingegen die Parteien, die sich konkret um die dringendsten Probleme vor Ort kümmerten. Hierfür sind lokale Strukturen der Parteiorganisation und dezentral agierende Parteikader entscheidend, die z.B. in Uttar Pradesh von der SP und BSP über viele Jahre gestärkt wurden. Kongresspartei und BJP verließen sich hingegen in allen fünf Wahlkampagnen in großem Maße auf die nationale Parteiführung. Oft verfügen sie auch nicht über geeignete und schlagkräftige lokale Strukturen, um es mit den Regionalparteien aufnehmen zu können.


Dämpfer für Rahul Gandhi und die nationalen Parteien

In Uttar Pradesh konnte zwar die SP von den Stimmenverlusten der BSP unter Mayawati profitieren, nicht aber bzw. in nur geringen Maßen der INC und die BJP, die zusammen nur 17 Prozent aller Stimmen erreichten. Obwohl die BSP-Regierung unter Mayawati seit 2007 durchaus Erfolge vorzuweisen hat, besonders in der Förderung der vormals unterdrückten Dalit-Gemeinschaft, zu der 18 Prozent aller Einwohner in Uttar Pradesh gehören, fiel ihre vormalige kastenübergreifende Wählerschaft 2012 auseinander. Zu heftig waren die Korruptionsvorwürfe gegenüber dem Kabinett Mayawati, die selbst eine der reichsten Politikerinnen Indiens ist. Davon profitieren konnte die SP. 2007 war die SP-Regierung unter Mulayam Jadav aufgrund der hohen Kriminalität und staatlicher Willkür in großen Teilen Uttar Pradeshs abgewählt worden. Mit einer intelligenten Wahlkampagne gelang es Mulayams Sohn Akilesh, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. So setzte die SP auf eine Kombination von konkreten Vorschlägen zur Bekämpfung der Armut, zum Umgang mit Arbeitslosigkeit, der Verbesserung von Bildung sowie der Stärkung des Rechtsstaates. Sie machte aber auch populistische Versprechungen, wie z.B. Gratis-Laptops für alle Schüler und Studenten. Bemerkenswert war die Vermeidung scharfer persönlicher Attacken gegen die politischen Gegner, die so durch ihren aggressiven Wahlkampfstil umso negativer auffielen. Die von Rahul Gandhi angeführte INC-Kampagne war hingegen konfus. Von den Versprechungen von zusätzlichen Regierungsämtern für Muslime, der verbesserten Förderung der Dalits, der Aufstellung jüngerer INC-Kandidaten, der Thematisierung von Fehlern der von der BJP geführten nationalen Koalitionsregierung von 1999 bis 2004 und massiven Attacken auf Mayawati und die Führung der SP: Gandhi und sein Beraterteam versuchten alles, um neue Wähler an den Kongress zu binden. Es gelang jedoch nicht, die zahlreichen neugierigen Zuschauermassen bei Gandhis Auftritten auch von einer Stimmenabgabe für den Kongress zu überzeugen. Obwohl Gandhi die nationale Kongressführung hinter sich wusste, fehlte es seiner Kampagne an lokalen Organisationsstrukturen und er erschien vielen Wählern weit weg von den eigentlichen Problemen vor Ort: Armut, Arbeitslosigkeit, Zugang zu Strom und Wasser und soziale Sicherung. Dem Kongress fehlt es an Bürgernähe und einer daraus abgeleiteten progressiven Wahlprogrammatik. So hat die von der Nehru/Gandhi Familie über Jahrzehnte von oben kontrollierte Kongresspartei versucht zu vermeiden, potenziell zu machtvolle und unabhängige lokale Parteispitzen in den 28 Bundesstaaten der indischen Union zu etablieren. Eine Strategie, die sich zu rächen scheint. Auch die Wahlkampfauftritte von Rahul Gandhis Mutter, Kongresschefin Sonia, und seiner Schwester Priyanka halfen diesmal nicht. Es wird zunehmend klar, dass der Kongress sich nicht mehr auf den »Gandhi-Faktor« für Wahlerfolge verlassen kann. Der schlechte Ruf der Zentralregierung, die seit zwei Jahren von Skandalen erschüttert wird und politisch wie gelähmt wirkt, schadete den Kampagnen auf Landesebenen zusätzlich. Die BJP konnte jedoch auch nicht von ihrer Oppositionsrolle auf nationaler Ebene profitieren. Machtkämpfe in der Parteispitze, der Mangel eines konkreten Spitzenkandidaten für Uttar Pradesh und ebenfalls schlechte Organisationsstrukturen vor Ort führten zu Stimmenverlusten. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung ist die BJP damit sogar noch vor dem INC der eigentliche Wahlverlierer dieser Landtagswahlen.


Die indische Regierung unter Druck - Neuwahlen nicht auszuschließen

Die vom Kongress angeführte Zentralregierung (United Progressive Alliance - UPA) ist bereits seit Langem auf Regionalparteien als Koalitionspartner angewiesen. Bereits bei den Landtagswahlen in den Bundestaaten Bihar und Westbengalen 2011 waren Regionalparteien die großen Gewinner. Der in Westbengalen erfolgreiche Trinamool-Congress unter Ministerpräsidentin Mamata Banarjee gilt spätestens seit dem Wahlerfolg auf Länderebene als schwierigster Koalitionspartner des INC. So gelingt es der resoluten Politikerin Banarjee sehr erfolgreich, nationale Reformvorhaben aufgrund von lokalpolitischen Erwägungen zu torpedieren und auf populistische Weise zumindest kurzfristige Erfolge zu feiern. Erfolgreich verhinderte sie unpopuläre Reformvorhaben auf nationaler Ebene: das unterschriftsreife Abkommen über die gemeinsame Nutzung von Flüssen zwischen Indien und Bangladesch, die eigentlich vom Kabinett beschlossene Liberalisierung des Einzelhandels und die Erhöhung der Fahrpreise für Züge: Stets legte Banarjee erfolgreich ihr Veto ein. Die Wahlen in Uttar Pradesh haben das nationale Gewicht von Regionalparteien weiter verstärkt. Der INC und damit die vom INC angeführte Koalitionsregierung sind nach den Landtagswahlen weiter in die Defensive geraten. Zunehmend kritische Koalitionspartner des INC in der indischen Regierungskoalition, nicht enden wollende Korruptionsaffären und die Wahrnehmung der Führungs- und Orientierungslosigkeit des Premierministers Manmohan Singh haben eine Debatte über vorgezogene Neuwahlen befeuert. Hiervon versprechen sich v.a. die Regionalparteien Stimmenzuwächse. Sogar von der Gründung einer lediglich aus Regionalparteien bestehenden »dritten Front«, die ohne INC oder BJP eine Regierungskoalition im Zentrum anstreben könnte, ist in den Medien die Rede. Zum entscheidenden Stimmungsbarometer werden daher die Präsidentschaftswahlen, in etwa vergleichbar mit den Präsidentschaftswahlen durch die Bundesversammlung in Deutschland, im Juli 2012. Wenn die Oppositions- und abweichende Regierungskoalitionsparteien einen eigenen Kandidaten ins Amt wählen sollten, werden vorgezogene nationale Neuwahlen wahrscheinlicher. Der INC selbst tritt in dieser Situation bisher relativ geschlossen auf. Dies hat auch mit der direkten Übernahme der Verantwortung für die Wahlniederlage in Uttar Pradesh durch Rahul Gandhi zu tun. Führende INC-Politiker haben ebenfalls öffentlich Fehler in der Wahlkampfführung eingestanden. Obwohl Rahul Gandhi, auch angesichts mangelnder innerparteilicher Konkurrenz, nach wie vor als nächster Premierminister gehandelt wird, ist der INC verunsichert, ob die Attraktivität der Gandhi-Dynastie für einen Wahlerfolg 2014, oder im Fall von vorgezogenen Neuwahlen eventuell schon vorher, ausreicht. Als kurzfristig wahrscheinlicheres Szenario gilt daher eine verstärkte Zusammenarbeit des Kongress sowohl mit den Abgeordneten der SP als auch mit den BSP-Parlamentariern aus Uttar Pradesh im indischen Unter- und Oberhaus, um zukünftige Mehrheiten zu organisieren. Grundsätzlich hat die vom INC angeführte Zentralregierung v.a. in der Sozialpolitik vielversprechende Programme auf den Weg gebracht, deren Erfolge aber bisher aufgrund der schwachen Institutionen bzw. mangelhaften Implementierung auf lokaler Ebene hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die zunehmende Einbindung von Regionalparteien in nationale Politik kann daher im günstigsten Fall zu einer Zunahme von Verantwortlichkeit für die Umsetzung eben jener Programme führen, da die Distanz zwischen Politikentscheidungen auf zentralstaatlicher Ebene und der Implementierung vor Ort abnimmt.


Indiens Demokratie als Vorbild

Die Landtagswahlen stellen die tiefe Verankerung der indischen Demokratie erneut unter Beweis. So gab es kaum Unregelmäßigkeiten, dafür aber großen und von der Wahlkommission gut organisierten Andrang in den Wahllokalen. Die hochprofessionelle und politisch unabhängige indische Wahlkommission kann durchaus als Beispiel für andere Entwicklungsländer dienen. Die indischen Wähler unterstützten größtenteils Regionalparteien, die mehr sozioökonomische Entwicklungen versprechen und scheinen Kasten- und Religionszugehörigkeit für ihre Wahlentscheidung zunehmend hintenanzustellen. Insgesamt hat Indien mit den Wahlen nicht nur seinen Rang als größte Demokratie der Welt, sondern auch seinen Vorbildcharakter als eine der wenigen gefestigten Demokratien in Asien erneut bestätigt. Die durch die Wahlen gestärkten föderalen Strukturen des Landes erlauben es, diesen Subkontinent zusammenzuhalten. Das politische Gewicht hat sich eindeutig vom Zentrum in Richtung Peripherie verschoben. Es ist durchaus vorstellbar, dass der schleichende Bedeutungsverlust der beiden nationalen Parteien INC und BJP dazu führen wird, dass sich diese auch langfristig zu regionalen Parteien (zurück-) entwickeln werden. Auf der anderen Seite kann das zunehmend nationale Gewicht von regional ausgerichteten Parteien einerseits zu einer inklusiveren Politik auf zentraler Ebene führen, welche die lokalen Bedürfnisse in den einzelnen Bundesstaaten ernst nimmt und noch stärker in nationale Politik einfließen lässt. Andererseits droht die Zentralregierung weiter an Handlungsfähigkeit zu verlieren. Schon jetzt hängt der politische Spielraum der vom INC geführten Koalitionsregierung in hohem Maße von den kleinteiligen Präferenzen verschiedener regionaler Koalitionspartner ab. Ob die zunehmende Themenorientierung der Wählerschaft auch eine abnehmende Unterstützung für die verschiedenen Familiendynastien in der indischen Politik bedeutet - v.a. für den Kongress und die Familie Gandhi - wird sich in den nächsten Präsidentschaftswahlen zeigen.


Über die Autoren:

Henrik Maihack, Projektassistent im Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Neu-Delhi
Dr. Felix Schmidt, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Neu-Delhi


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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2012