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ASIEN/747: Indien - Der große Landraub, Regierung führt Krieg gegen die eigenen Bauern (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. Juni 2011

Indien: Der große Landraub - Regierung führt Krieg gegen die eigenen Bauern

Ein Gastbeitrag von Vandana Shiva*


Neu-Delhi, 10. Juni (IPS) - Land ist Leben. Es ist für Bauern und indigene Völker der Dritten Welt Lebensgrundlage, wird aber immer mehr zu einem globalen Wirtschaftsgut. Da die internationale Nachfrage nach der Ressource steigt, birgt Land ein hohes Konfliktpotenzial. 65 Prozent aller Inder sind auf Land angewiesen.

Angetrieben durch spekulative Finanzgeschäfte und einen grenzenlosen Konsum beansprucht die Weltwirtschaft zunehmend Land für Bergbau und Industrie, Städte, Straßen und Biotreibstoffplantagen. Die Spekulativwirtschaft der globalen Finanzmärkte ist um Hunderte Mal größer als der Wert der weltweit produzierten realen Güter und Dienstleistungen.

Finanzkapital hungert nach Investitionen und Investitionserträgen. Es muss alles auf dem Planeten in eine Handelsware ummünzen: Land, Wasser, Pflanzen, Gene, Mikroben und Säugetiere. Die Vermarktung von Land befeuert in Indien den von Konzernen betriebenen Landraub (Land Grabbing) sowohl durch die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen als auch durch ausländische Direktinvestitionen in Immobilien.

Land ist für die meisten Menschen die Terra Madre, die Mutter Erde, Bhoomi, Dharti Ma. Land ist die Identität eines Volkes, die Grundlage von Kultur und Wirtschaft. Die Verbundenheit mit dem Land ist die Verbundenheit mit der Bhoomi, unserer Erde. 75 Prozent der Menschen in der dritten Welt leben auf dem Land, das sie ernährt. Die Erde ist der größte Arbeitgeber auf dem Planeten: Land macht 75 Prozent des menschlichen Kapitals des globalen Südens aus.


Re-Kolonisation

Die Kolonisierung war die gewaltsame Übernahme von Land. Nun bewirkt Globalisierung als Re-Kolonisation einen massiven Landraub in Indien, Afrika, Lateinamerika. Land Grabbing wird durch Spekulativinvestitionen in Gang gesetzt. Das Land wird den Bauern weggenommen, nachdem man sie in Schulden gestürzt und in den Selbstmord getrieben hat.

In Indien haben neoliberale Maßnahmen mit einer unguten Kombination aus dem kolonialen Landaneignungsgesetz von 1894 und der Deregulierung von Handel und Investitionen sowie einer zur Norm gewordenen unkontrollierten Gier und Ausbeutung den Landraub ermöglicht. Land Grabbing wird durch die Errichtung eines Polizeistaates und dem Einsatz der kolonialen Aufruhrgesetze begünstigt, die den Schutz öffentlicher und nationaler Interessen als anti-national definieren.

Die Weltbank ist seit langem bemüht, Land zu einer Handelsware zu machen. Mit ihrem Strukturanpassungsprogramm von 1991 machte sie die Landreform rückgängig, deregulierte den Bergbau, Straßen und Häfen. Während die Gesetze des unabhängigen Indiens, die Land denjenigen zusprach, die es bebauten, storniert wurden, blieb das Landübernahmegesetz von 1894 bestehen. Es befähigt den Staat dazu, den Bauern und indigenen Völkern ihr Land zu entreißen und es an private Spekulanten, Immobilien-, Bergbau- und Industrieunternehmen weiterzugeben.

In ganz Indien, von Bhatta in (dem nordindischen Bundesstaat) Uttar Pradesh über Jagatsinghpur in Orissa (an der Ostküste) bis Jaitapur in Maharashtra (im Westen des Subkontinents) hat die Regierung unseren Bauern, unseren 'Annadatas', den Krieg erklärt, um an deren fruchtbares Farmland zu kommen. Ihre Waffe ist das koloniale Landaneignungsgesetz, das schon von ausländischen Machthabern gegen Indiens Bürger verwendet worden war.

Die Regierung verhält sich so wie die damaligen ausländischen Herrscher, die das Gesetz 1894 durchgesetzt hatten. Sie bemächtigt sich des Landes um des Profits der Konzerne willen: für den Bau der Yamuna-Schnellstraße in Uttar Pradesh durch 'JayPee Infratech', für das Stahlwerk in Orissa durch POSCO und für den Atomkraftswerkspark in Jaitapur durch die Firma AREVA. Der Landklau dient dem privaten Profit, also keinem öffentlichen Zweck.


Landklau untergräbt Demokratie

Die Kriege um Land haben ernste Folgen für die Demokratie, den Frieden und die Wirtschaft unseres Landes, für unsere Ernährungssicherheit und die ländlichen Existenzgrundlagen. Die Kriege um Land müssen aufhören, will Indien wirtschaftlich und demokratisch überleben.

Während sich die Regierung von Orissa anschickt, die Menschen von Jagatsinghpur um ihr Land zu prellen, die seit 2005 einen demokratischen Kampf gegen die Landaneignung führen, hat (der Abgeordnete der indischen Kongresspartei) Rahul Gandhi bekannt gegeben, dass er eine erzwungene Landnahme in Bhatta in Uttar Pradesh grundsätzlich ablehnt.

Der Umweltminister Jairam Ramesh hat eingeräumt, dass er dem POSCO-Projekt auf großem Druck hin grünes Licht gegeben hat. So müsste man fragen: "Druck von wem?" Dieser offensichtliche doppelte Standard, der angelegt wird, wenn es um Land geht, muss aufhören.

In Bhatta Parsual in der Region Greater Noida in Uttar Pradesh benutzt das Infrastrukturunternehmen Jaiprakash Associates die Yamuna-Autobahn als Feigenblatt, um auf einem etwa 2.430 Hektar großen Gebiet eine Nobelsiedlung und Sportanlagen einschließlich einer Formel-1-Rennstrecke zu bauen. Insgesamt verschlingt die 165 Kilometer lange Straße Land von 1.225 Dörfern.

Die Bauern protestieren gegen die ungerechte Landnahme, und Ende Mai kamen bei Demonstrationen vier Menschen ums Leben. Am 7. Mai waren bereits etliche Menschen infolge von Zusammenstößen mit der Polizei verletzt worden. Sollte die Regierung ihre Landkriege im Herzen des indischen Brotkorbs fortsetzen, wird es keine Chance auf Frieden geben.

Mit Geld lässt sich der Verlust von Land nicht wettmachen. Und wie der 80-jährige Parshuram schon gesagt hat, der sein Land an die Yamuna-Schnellstraße verloren hat: "Sie werden nie verstehen, wie es sich anfühlt, landlos zu werden."


Arme abgezogen

Während die Bauern gemäß dem Landaneignungsgesetz mit 300 Rupien (sechs Dollar) pro Quadratmeter abgespeist wurden, kassieren die Landentwickler 600.000 Rupien (13.450 Dollar) pro Quadratmeter. Das ist ein Preis- und Profitanstieg um 200.000 Prozent. Dieser Landraub führt zu Armut, Enteignung und Konflikten.

Am 18. April schoss die Polizei in Jaitapur in Maharashtra auf Menschen, die friedlich gegen einen Atomkraftwerkspark demonstriert hatten, der in einem Dorf in der Nähe der Hafenstadt entstehen soll. Die Anlage in Jaitapur wird von dem französischen Unternehmen AREVA gebaut und nach ihrer Fertigstellung die größte der Welt sein. Nach der Katastrophe im japanischen Fukushima nehmen die Proteste der Menschen - und auch die Sturheit der Regierung - zu.

Auch die Situation in Jagatsinghpur in Orissa kocht hoch, wo 20 Bataillone eingesetzt werden, um eine verfassungswidrige Landnahme durchzuführen und Indiens größte ausländische Direktinvestition - das POSCO-Stahlwerk - zu schützen. Die Regierung hat sich die tägliche Zerstörung von 40 Betelfarmen am Tag zum Ziel gesetzt, um den Landraub durchzuziehen. Betel verschafft den Bauern ein jährliches Einkommen in Höhe von umgerechnet 225.000 Dollar pro Hektar.

Die Anti-POSCO-Bewegung hat in den fünf Jahren ihres friedlichen Protestes mehrfach Staatsgewalt erfahren und bereitet sich nun - vielleicht zum letzten Mal - darauf vor, gewaltfrei und demokratisch Widerstand gegen einen Staat zu leisten, der zu Gewalt greift, um für den Profit eines Konzerns Landraub zu begehen und über die in der Verfassung des Landes festgeschriebenen Rechte der Menschen hinwegzugehen.

Die größte Demokratie der Welt ist dabei, mit Landkriegen ihr demokratisches Gewebe zu zerreißen. Die Verfassung erkennt das Recht der Menschen und der 'Panchayats' (Dorfräte) auf eine demokratische Entscheidung in Land- und Entwicklungsfragen an. Doch die Regierung setzt sich wie im Fall des POSCO-Projekts über dieses Recht hinweg. Drei Panchayats hatten sich geweigert, ihr Land aufzugeben.

Der Einsatz von Gewalt und die Zerstörung von Existenzen, wie sie derzeit zu beobachten sind, gefährden nicht nur Indiens Demokratie, sondern den Staat als solchen. Indien nimmt für sich in Anspruch, eine boomende Volkswirtschaft zu sein, ist aber nicht in der Lage, mehr als 40 Prozent seiner Kinder zu ernähren. Das ist eine nationale Schande.


Böden vor Betonwüsten retten

Im Umgang mit Land geht es nicht darum, Betonwüsten als Zeugnisse für Wachstum und Entwicklung zu bauen. Land bringt Nahrung und Wasser hervor, die Grundvoraussetzungen für menschliches Leben. Deshalb steht fest: Indien braucht keine Politik, die Landraub auf der Grundlage einer abgeänderten Politik aus der Kolonialzeit betreibt, sondern eine Politik, die das Land mit seinen wichtigen Ökosystemen wie die fruchtbare Gangetic-Ebene und die Küstenregionen schützt - in Anerkennung der ökologischen Funktionsweise und des Beitrags, den Land zur Ernährungssicherheit leistet.

Fruchtbares Land an private Konzerne zu verhökern, die sich als die neuen 'Zamindars' (Erbadligen) entpuppen, lässt sich mitnichten als Maßnahme zum Wohl der Öffentlichkeit darstellen. Private Superhighways und Schnellstraßen zu bauen, kann ebenso wenig als notwendige Infrastrukturmaßnahme durchgehen. Was Indien wirklich braucht, ist eine ökologische Infrastruktur für Ernährungs- und Wassersicherheit. Unsere fruchtbaren, Nahrungsmittel produzierende Böden unter Beton und Fabriken zu begraben, heißt die Zukunft des Landes zu begraben. (Ende/IPS/kb/2011)

* Vandana Shiva ist Physikerin, Ökofeministin, Philosophin, Aktivistin und Autorin von mehr als 20 Büchern und 500 Schriften. Sie ist Gründerin der 'Research Foundation for Science, Technology and Ecology' und setzt sich für Artenvielfalt und den Schutz bäuerlicher Rechte ein. 1993 erhielt sie für ihr Tun den alternativen Nobelpreis.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2011