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ASIEN/557: China - Von wegen bloß Wanderarbeiterinnen (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 106, 4/08

Von wegen bloß Wanderarbeiterinnen
Wie die "dagongmei" ihre Stimme finden, und was das Schreiben damit zu tun hat

Von Astrid Lipinsky


Der Artikel stellt die unterschiedlichen Arbeiterinnen vor, die unter der Bezeichnung dagongmei zusammengefasst werden. Er erklärt, warum die Benennung eine Diskriminierung im Wortsinn ist und wie sich dagongmei den Namen aneignen und ihn in einen Ehrentitel verwandeln. Und schließlich erzählt er, was das Schreiben damit zu tun hat.


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"Dagong" ist in keinster Weise schriftlich. Kann es nicht sein, denn dagong, das unqualifizierte Jobben, ist weder von Dauer noch entwicklungsfähig. Chinas Dagong-Stellen sind für die NichtstädterInnen. Wer Frau ist, vom Land kommt und so einen Job macht, ist dagongmei. Jobbende "mei", kleine Schwester, in der chinesischen Frauen-Hierarchie ganz unten. Nicht nur ist der Führungsposten mit einer "mei" unvereinbar, sondern mit ihrer Bezeichnung wird ihre Arbeit auch noch entprofessionalisiert und privatisiert. Die kleine Schwester muss sich für ihren Großen-Bruder-Arbeitgeber tüchtig ins Zeug legen, weit hinaus über das, was er ihr bezahlt. In einer Art Quasi-Familienhierarchie ist ihr aufopferndes Schuften für den Großen Bruder moralische Pflicht. Dass dagegen die mei Lohnerhöhung, Weiterbildung und Entfristung ihrer Stelle verlangt, ist mit ihrer Bezeichnung nicht vereinbar.


Keine Minderheit

Es irrt, wer jetzt meint, so degradierend Benannte seien sicherlich eine Minderheit: Etwa ein Drittel von Chinas WanderarbeiterInnen sind Frauen, damit gibt es schätzungsweise 36 Millionen dagongmei, fast viermal so viele wie insgesamt Menschen in Österreich leben.

Es ist also kein Wunder, dass frau von ihnen hört: Von den dagongmei, die, sobald sie 16 Jahre alt sind, ihrem Bruder (ihren Brüdern) die Schule und den Eltern die Dorflandwirtschaft finanzieren, die endlose Überstunden schieben und gering verdienen, die mit anderen Mädchen ein Wohnheimzimmer direkt neben der Fabrik teilen und kaum etwas von der Stadt sehen, in die sie gezogen sind. Viele von ihnen haben nicht mehr als die sechs Grundschuljahre hinter sich. Spätestens nach der Mittelschule - in China herrscht gesetzlich neunjährige Schulpflicht - ist kein Geld mehr da für weiteren Schulbesuch, selbst dann nicht, wenn die Mädchen die entsprechenden Aufnahmeprüfungen bestanden haben.

16-jährige Schulabsolventinnen haben aber häufig keine Mittelschule von innen gesehen. Dass sie höchstens auf Grundschulniveau lesen und schreiben können, erklärt sich daraus, dass sie nicht mit sechs Jahren, sondern je nach Familie um Jahre später eingeschult worden sind. Wenn sie gemeinsam mit einem jüngeren Geschwisterkind zur Schule gehen, senkt das die Kosten des Schulbesuches, und die Kinder können sich, so argumentieren die Eltern, ein gemeinsames Schulbuch teilen.


"Kleine Schwestern" im Wandel

Trotz der miserablen Ausgangslage: die dagongmei emanzipieren sich. Ihr jährlicher Jobwechsel war von Anfang an üblich, wobei sie bei der Suche nach einem neuen Arbeitgeber zuallererst einen höheren Lohn anpeilten. Interessant war allein mehr Geld. Im Übrigen entsprachen die meisten dagongmei dem Klischee der jungen bis sehr jungen, unverheirateten und ungelernten Arbeiterinnen ohne Familienanhang und mit zeitlich bis zur Hochzeit und Rückkehr ins Dorf befristetem Jobinteresse.

Allmählich gewannen aber die Abweichlerinnen an Einfluss: die dagongmei, die auf der Abendschule büffelte und das Zulassungsexamen für ein Universitätsstudium bestand. Die Haushaltshilfe vom Land, deren ausländische Arbeitgeber sie zu einem Englischkurs anmeldeten. Die Restaurantangestellten, Kindermädchen und Fließband-dagongmei, die gemeinsam mit Studentinnen-Freiwilligen 1996 in Beijing das Dagongmei-Zentrum "Dagongmei zhi jia" einrichteten, Vorbild für WanderarbeiterInnen-Freizeit- und Fortbildungszentren in anderen Städten. Bei den zahlreichen dagongmei mit gegen ihren Willen abgebrochener Schulbildung beliebter Lern-Ort mit Kursen aller Art. Die Hausangestellten-dagongmei, die gegen ihren Arbeitgeber durch zwei Instanzen vor Gericht ging, auch wenn die Erkenntnis schmerzte, dass ihr angeblicher Status als Familienmitglied nur dazu diente, keinen Lohn zu zahlen. Die zwei lange Prozessjahre überstand, trotz Drohungen und Beschuldigungen vom Arbeitgeber, und dank der Unterstützung, moralisch wie finanziell, der Frauen vom Dagongmei-Zentrum. Die ihre Wochenenden damit zubringt, die Neuen vom Dorf zu warnen: Seid nicht so dumm wie ich! Wenn euch jemand keinen Lohn zahlt, dann geht gleich! Auch wenn euer Haushalt noch so privat ist: Das ist euer Arbeitsplatz, und in einer Fabrik würdet ihr auch spätestens nach zwei Monaten euren Lohn verlangen!


Stadtluft macht lesen

Das chinesische Dorf ähnelt den katholischen Kirchen des Mittelalters: Alles Wichtige - Geburtenplanung, Benutzung von elektrischen Geräten - wird die Wände entlang auf Bildern erklärt, weil man davon ausgeht, dass die AdressatInnen nicht lesen können. In der Stadt ist das anders: Wer nur den Dorfdialekt spricht und deshalb die hochchinesischen Durchsagen im Bus nicht versteht, muss wenigstens die Anzeigetafeln für die nächste Haltestelle lesen können. Wer sich kein Radio leisten kann, stoppt kurz an den öffentlichen Zeitungsaushängen - wenn er/sie lesen kann. Im Dorf gibt es Bücher nur in der Schule, in der Stadt - auch leihweise - inklusive Hocker an jeder Straßenecke. Und wenn frau sich fragt, ob ihr Lohn angemessen ist? Sie kann sich natürlich unter den Kolleginnen umhören (die aber dasselbe verdienen) - oder nachlesen. Beispielsweise (seit 2002) in der Monatszeitschrift "Dagongmei". Wo frau auch zu eigenen Beiträgen aufgefordert wird: Aus der lesenden wird die schreibende dagongmei. Und aus dieser die allererste Wanderarbeiterin- und Provinz-Parlamentarierin (Zheng Xiaoqiong in der südchinesischen Provinz Guangdong). Wie Zheng Politikerin wurde? Tja - schreibend. Weil sie geschrieben, veröffentlicht und einen lokalen Literaturpreis gewonnen hatte, war Zheng bekannt und erfreut sich höchster Wertschätzung. Frauen wie Zheng widerlegen das Dorftrampel-Klischee. Und sie machen aus der wortwörtlichen Geringschätzung der dagongmei den Ehrentitel dagongmei. Nur für Frauen, die Armut und mangelnde Bildung hinter sich gelassen haben. Die schreiben können wie Städterinnen. Die eine eigene Zeitschrift haben/lesen und keine Bildgeschichten mehr brauchen.

Das ist die Gegenwart der urbanisierten, "zivilisierten", wie es im Chinesischen heißt, dagongmei. Was aber, wenn sich deren Mehrzahl nicht nur nicht mehr für eine Rückkehr ins Dorf interessiert, sondern sich überhaupt keine mehr vorstellen kann? Was, wenn dagongmei nicht nur wie Städterinnen sein, sondern Städterinnen werden wollen, mit allen damit verbundenen besonderen Rechten?


Diskriminierung der Nicht-Städterinnen

Bisher - seit der Aufhebung der Freizügigkeit durch die Hukou-Gesetze von 1958 - unterscheidet und trennt China zwischen einer Minderzahl von privilegierten Städterinnen und der großen Mehrheit von Nicht-Städterinnen. ArbeitgeberInnen nutzen die Benachteiligung der Nicht-Städterinnen, die weder einen Anspruch auf unbefristete Beschäftigung und Mindestlohn haben, noch ein Anrecht auf die Zuteilung einer städtischen Wohnung und kostenlosen Schulbesuch sowie medizinische Versorgung für die eigenen Kinder. D.h. für die ältere dagongmei mit Familie ist in der Stadt kein Platz - und in den Dagongmei-Zentren bisher eher auch nicht. Wenn es denn sein muss, dann sollen die Kinder der WanderarbeiterInnen eigene Schulen besuchen, auch wenn sie wesentlich schlechter sind als die städtischen und nicht weiter führen. Trotz dieser Lage: die dagongmei+Mutter, die "Ältere-Schwägerin-Wanderarbeiterin" dagongsao oder die "Große-Schwester-Wanderarbeiterin" dagongjie (weil nun wirklich die Bezeichnung der "Kleinen Schwester" nicht auf eine verheiratete Frau passt, und weil in China (erst) erwachsen ist, wer verheiratet ist) - sie sind schon da. Sie sind da und die große neue Herausforderung in China: Welchen Ort bieten die Städte für nichtstädtische Mütter mit städtischem Arbeitsplatz und Familienanhang?


Anmerkung:

Bericht in englischer Sprache unter:
www.womenofchina.cn/Issues/Politics/201771.jsp


Zur Autorin:

Astrid Lipinsky ist Universitätsassistentin am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien mit den Schwerpunkten Gender und Recht.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 106, 4/2008, S. 14-15
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2009