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AFRIKA/1414: "Ihr habt unsere Träume verbrannt" - Arbeitslosenproteste in Algerien (inamo)


inamo Heft 90 - Berichte & Analysen - Sommer 2017
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

"Ihr habt unsere Träume verbrannt..." - Arbeitslosenproteste in Algerien

von Marie Wehner


Der Artikel behandelt Arbeitslosenproteste im Süden Algeriens vor dem Hintergrund der neoliberalen Wirtschaftsentwicklung Algeriens. Am Beispiel von Protesten im Jahr 2013 und 2016 wird die Reaktion des algerischen Regimes analysiert und anhand der sich veränderten Finanzlage des Landes erklärt.


"Ihr habt unsere Träume verbrannt, verbrennt nicht auch noch unsere Körper" - Diese Anklage stand 2013 auf einem Banner von protestierenden Arbeitslosen in der Oasenstadt Ouargla im Süden Algeriens. In der Tat setzen die Arbeitslosen in Algerien ihre Körper aufs Spiel um ihr Recht auf Arbeit einzuklagen. Selbstverletzungen und Selbstmorddrohungen sind zu einem Mittel geworden um den Staat zu materiellen Zugeständnissen zu zwingen. Neben der Zerstörung ihrer Hoffnungen und Erwartungen an den Staat, klagen die Arbeitslosen die physische Bedrohung ihrer Existenz durch den Staat an.

Im Jahr 2013 hatte es die Arbeitslosenbewegung nach über einem Jahrzehnt Aktivität geschafft, Solidarität zwischen verschiedenen Klassen aufzubauen und eine Bewegung hervorzubringen, welche die Stabilität des algerischen Staates erschütterte. Dieser landesweit und international wahrgenommene Protest war nur der Höhepunkt einer langjährigen Protestbewegung (hauptsächlich geführt durch das Nationale Komitee für die Verteidigung der Rechte der Arbeitslosen (CNDDC)), welche auch danach nicht aufhörte kleinere Proteste auf lokaler Ebene zu organisieren.

Warum die Proteste ausbrachen und in welcher Weise das Regime darauf reagierte ist eng verflochten mit der Wirtschaftssituation Algeriens. Deshalb soll hier ein kurzer Abriss der Wirtschaftsentwicklung Algeriens gegeben werden und wie diese sich im Aufbau der Gesellschaft niederschlägt. Anschließend wird geschildert wie die neuere Wirtschaftspolitiken sich auf die soziale Situation in Algerien auswirken. Danach werden die Proteste und die Antwortstrategien des Regimes dargestellt.


Algerien zwischen Ölreichtum und Liberalisierung

Algerien ist stark geprägt durch seinen Ölreichtum, die Verstaatlichung großer Teile der Industrie und die zunehmende Liberalisierung und Privatisierung ab den 1980er Jahren. Da die Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas den größten Anteil am Einkommen des Staates ausmachen, gilt Algerien als Rentierstaat. Rente ist laut Hartmut Elsenhans: "staatliches Einkommen [...] dem keine entsprechende gesellschaftliche Investitions- oder Arbeitsleistung gegenübersteht so dass es dem Regime zur freien politischen Verfügung steht" (Elsenhans nach Ouaissa 2005:40). Diese Rente kann über Patronagenetzwerke verteilt werden, um sich die Loyalität bestimmter Gruppen zu sichern.

Dadurch werden große Teile der Gesellschaft eingebunden, und sind folglich am Erhalt des Systems interessiert. Die Verteilung der Rente, zur Einbindung breiter Bevölkerungsschichten, verläuft in Algerien zu einem großen Teil über die Gehälter im öffentlichen Sektor und diverse Sozialleistungen, die jeweils ca. 30 % der Staatsausgaben ausmachen (vgl. Farah 2015:152f).

Der Aufbau der Industrie in Algerien nach der Unabhängigkeit 1962 führte zu einem Netz an Korruption, in dem Kader der Staatspartei Front de Libération Nationale (FLN) und das Militär sich und ihren Klienten Posten in der Verwaltung der Industrien und in den verstaatlichten Betrieben verschafften. Es entstand eine dünne Technokratenfraktion, welche die staatseigenen Produktionsmittel verwaltete. Das Monopol auf Außenhandel, welches sich ebenfalls die FLN-Kader und der Kern der Armeeführung sicherte, wurde zu einer massiven Einkommensquelle für diese.

Um seine Industrie aufzubauen, verschuldete Algerien sich bis Ende der 1980er Jahre auf den internationalen Finanzmärkten. Aufgrund des Ölpreisverfalls musste es sich ab 1994, wegen mangelnder Zahlungsfähigkeit, auf Reformprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank einlassen. Wichtige Elemente dieser Reformen sind Preisliberalisierungen, die Beseitigung von Subventionen auf beispielsweise Nahrungsmittel, Budgetkürzungen für den öffentlichen Sektor, ein Ende der Monopolisierung des Außenhandels, Autonomie der Zentralbank, und damit einhergehend die Liberalisierung des Finanzsektors. Diese Reformen sind darauf ausgelegt, das Land hin zum neoliberalen Kapitalismus zu führen und es attraktiver für ausländische Investitionen zu machen. Diese Politik diente auch der Einbindung von Teilen der, mit den Islamisten sympathisierenden, Bourgeoisie und von islamistischen Akteuren, welche für die 'Befreiung' der Privatinitiative eintraten.

Durch die Monopolisierung des Außenhandels hatte sich ein reger informeller Sektor entwickelt, der auch nach der Liberalisierung bestehen blieb. Dort war v.a. die sogenannte 'Trabendo'-Schicht aktiv. Diese aufsteigende Mittelschicht von Kleinhändlerinnen und Kleinhändlern ging eine unausgesprochene Allianz mit der Handelsbourgeoisie des Importsektors ein und bildet nun das Fundament von Boutefliqas Regime.

Boutefliqas Legitimität beruht zu einem großen Teil auf der Verteilung der Rente. Aber auch auf einer ideellen Ebene kann er Hegemonie erringen. Nationale Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität sind die Aspekte, die Boutefliqas Wahlkampf 2014 besonders betonte. Ein Großteil der Algerierinnen und Algerier verbindet mit dem Präsidenten Stabilität, Frieden und ökonomische Aufstiegsmöglichkeiten. Darüber hinaus profiliert er sich als Wahrer der inneren Sicherheit. Der Kampf gegen Terroristen im Inland wird medial verbreitet und ein Rückfall in die Jahre des algerischen Bürgerkriegs dient als Bedrohungskulisse, vor der Boutefliqa sich als Retter der Einheit der Nation darstellt.


Der Privatsektor: Lösung oder Teil des Problems?

Algeriens Optionen in ihrer Wirtschaftspolitik sind dadurch eingeschränkt, dass es sich in das globale System des Weltmarktes einordnen muss, welches eine ganz bestimmte Arbeitsteilung vorsieht. Die Einbindung der Länder des globalen Südens funktioniert über drei Muster: Als Zonen der Niedriglohn-Produktion, als Exporteure von Rohstoffen und/oder als Quelle lohnniedriger, migrantischer Arbeitskraft (vgl. dazu Hanieh 2009). Algerien ist in diesem Muster in erster Linie ein Exporteur von Rohstoffen, entwickelt sich aber seit den frühen 2000ern hin zum Standort für Niedriglohn-Produktionen. Geringe Lohnkosten, sowie geringe Regulierungen zur Sicherung von Arbeitsrechten sind üblicherweise 'Wettbewerbsvorteile' mit denen Staaten des globalen Südens ausländische Direktinvestitionen gewinnen können. Adam Hanieh zeigt auf, dass der Aufbau des Privatsektors meist mit dem Druck einhergeht, die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor weniger attraktiv zu machen; denn wie die Weltbank es ausdrückt: "Die dominante Rolle des Staates als Arbeitgeber führt zu einer starren Lohnstruktur, welche Arbeitsmarktanreize verzerrt" (World Bank 2004:6).

In Algerien sind mittlerweile 60 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Privatsektor beschäftigt und die Mehrheit von ihnen - 79.5 % im Jahr 2011 - ist in befristeten Arbeitsverhältnissen angestellt (vgl. Musette 2014:7). Der 1995 begonnene Privatisierungsprozess ging einher mit massiven Entlassungswellen. Es wurden über tausend öffentliche Firmen geschlossen, zahlreiche davon im Süden. Staatsfirmen wie die Ölgesellschaft Sonatrach begannen bereits in den 1970er Jahren damit, 80 % der direkten Einstellungen abzuschaffen und mit privaten Subunternehmen zusammenzuarbeiten (vgl. Bin Ahmad 29/03/13). Diese Arbeitsstellen bieten nicht dieselben Vorteile, die ein Job im öffentlichen Sektor mit sich bringt. Ein Gewerkschaftsführer erklärt in einem Interview, dass die Menschen des Südens vor allem bei Subunternehmern, für Catering, Transport und Unterkünfte, eingestellt werden. Dort verdienen sie drei bis viermal weniger, als in den Jobs bei den Ölunternehmen selbst (vgl. Armstrong 2014:16).

Während der Staat eine Arbeitslosenquote von ca. 10 % präsentiert, gehen die meisten Quellen von deutlich höheren Zahlen aus. Der Soziologe Said Belguidoum hält 30 % für wahrscheinlich (vgl. Belakhdar 2015:32). Sicher ist, dass die Arbeitslosigkeit besonders die Jugend trifft. Die offizielle Jugendarbeitlosigkeitsrate liegt 2016 bei 26,7 %, was darauf schließen lässt, dass die tatsächliche Zahl noch deutlich höher liegt (vgl. ONS 2016:3).

Der Ölpreisverfall im Jahr 2014 traf Algerien hart und führte dazu, dass Subventionen für Energie gekürzt wurden und die Konsumentenpreise um 36 % stiegen (vgl. Lopez-Calix, Touqeer 2016:124). Das Finanzgesetz von 2016 schlug einen strikten Austeritätskurs ein. Es beinhaltete Zugeständnisse an die Industrie sowie einen Einstellungsstopp im öffentlichen Sektor.

Die zunehmende Orientierung der algerischen Wirtschaft hin zum Privatsektor, Privatisierungen und Subunternehmertum führen zu einer zunehmenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in Algerien.


Der "Millionen-Marsch"

Aus dieser Ausgangslage heraus kam es zu den Protesten gegen hohe Arbeitslosigkeit und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Am 14. März 2013 hatte der CNDDC aufgerufen, es reisten aber verschiedenste Gruppierungen aus unterschiedlichen Regionen des Südens an. Ursprünglich als Marsch geplant, wurde es schlussendlich ein Protest auf einem zentralen Platz in Ouargla. Die Bewegung schaffte es über 8000 Teilnehmende zu mobilisieren (vgl. Belakhdar 2015:34). Diese Masse an Protestierenden sorgte landesweit für Aufsehen und wurde selbst international wahrgenommen. Das unvorhergesehene Ausmaß des Protestes beunruhigte das Regime und bedrohte die Hegemonie des Regimes, da sie sein Image als Garant für Wohlstand und soziale Sicherheit herausforderte. Die Massenmobilisation im März 2013 bedrohte außerdem das Bild des Regimes als Wahrer der Stabilität und der inneren Sicherheit.

Auf die erste Bedrohung reagierte das Regime mit der Aufwendung massiver Mittel. Die große Masse der Protestierenden sollte mit materiellen Zugeständnissen beruhigt und das Bild des Staates als Versorger wiederhergestellt werden. Trotz der großen Investitionen stellen sich diese Maßnahmen oft als mangelhaft heraus.

Die wichtigste Forderung der Arbeitslosen war die Schaffung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor. Die Polizeidirektion organisierte deshalb im April 2013 eine Jobmesse in Ouargla. Es wurde angekündigt, dass in Ouargla rund 2000 Stellen geschaffen werden sollten, ein Großteil davon allerdings als Personnel Civile Assimilé (vgl. Horizons 23/04/13). Dieser Status bedeutet, dass die betreffende Person über einen Vertrag angestellt ist und nicht offiziell zum öffentlichen Sektor gehört. Das heißt, dass diese Stellen keine gewerkschaftliche Vertretung haben, von Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor nicht profitieren und nicht dieselben Vorteile genießen, die Verbeamteten zustehen.

Eine weitere Maßnahme, die schon lange zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingesetzt wird, ist das Konzept des 'pré-emploi'. Es richtet sich vor allem an Diplomierte, die Arbeitsstellen bekommen, jedoch weniger als den Mindestlohn von 18.000 DA (rd. 150 EUR) verdienen. Dabei haben sie keine Sozialversicherung und die Möglichkeit der willkürlichen Entlassung unterbindet ihre gewerkschaftliche Organisation. Während die Regierung es als eine Möglichkeit darstellt, Berufserfahrung zu sammeln und die Aussicht auf die Regularisierung der Stellen hervorhebt, prangern die Betroffenen jahrelange Beschäftigung unter erniedrigenden Bedingungen an.

Es wurde weiterhin die Ausweitung günstiger Kredite im Süden und der Region der Hochebene angekündigt, mit denen Selbstständigkeit ermöglicht werden soll. Doch ist die Misserfolgsrate derart hoch, dass sich bereits eine Organisation gegründet hat, die für die Rechte der gescheiterten Kreditnehmerinnen und Kreditnehmer eintritt. Viele der Existenzgründenden scheitern an Steuern und Rückzahlungen an die Bank, bevor ihr Projekt Fahrt aufnehmen kann. Der Staat hingegen verfolgt die Jugendlichen schonungslos, so dass der Druck bereits zu mehreren Selbstmorden geführt hat.

Es wurden viele Stellen geschaffen, diese entsprechen aber in den wenigsten Fällen den Anforderungen der Protestierenden, die dezidiert Jobs mit angemessener Bezahlung, sozialen Sicherheiten und Arbeitsrechten fordern.

Es muss in Betracht gezogen werden, dass die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im April 2014 diese Strategie ebenfalls beeinflussten. Während des Wahlkampfes wurden zahlreiche Versprechen, u.a. zur Verbesserung der Infrastruktur, gemacht. Sie kamen aber nur langsam in Gang oder wurden, aufgrund schwindender Mittel ab Juli 2014 fallen gelassen.

Die zweite Herausforderung der Hegemonie durch die Proteste ist die Infragestellung der Garantie des Regimes auf innere Sicherheit und Stabilität. Da das Regime einen Großteil seiner Legitimität aus der Bekämpfung der 'terroristischen Gefahr' zieht, muss es hier gegensteuern.

Eine Strategie war es, die Protestierenden als "Elemente, die sich in Ausbildungskursen über die Art und Weise der Aufhetzung des Volkes engagieren" zu bezeichnen und hinter ihnen "die Hand ausländischer Gruppen" zu vermuten. Diese hätten eine "ausländische politische Agenda" (as-s'b 12/03/13) und wollten einen 'arabischen Frühling' herbeiführen. Derartige Verschwörungstheorien dienen also der Delegitimisierung der Bewegung, und dadurch als Mittel der Legitimation des Regimes.

Das Regime musste einen schwierigen Balanceakt vollbringen: Es musste sich als Garant für Sicherheit profilieren, gleichzeitig aber die Bedrohung als real und immanent erscheinen lassen. Darüber hinaus konnte es nicht große Gruppen der Bevölkerung pauschal als Terroristen oder Verschwörer denunzieren, da die Bewegung auch großen Rückhalt in anderen sozialen Schichten des Südens hatte, die sich vor allem mit dem Gefühl der Diskriminierung des Südens identifizierten. Die Loslösung der Protestierenden aus der Einbindung in die Hegemonie des Regimes hätte bedeutet, dass nur noch Repressionsmittel zur Verfügung stehen, um auf sie zu reagieren. Das wiederum war aufgrund der nationalen und internationalen Aufmerksamkeit nicht möglich, ohne sich vollkommen des demokratischen Scheins zu entledigen. Folglich wandte das Regime zeitgleich eine Angriffs- und eine Einbindungsstrategie an.

Ein Teil des Diskurses scheint beinahe widersprüchlich. So wurde zumeist behauptet, die Arbeitslosen hätten legitime Anliegen und keine politische Agenda, während gleichzeitig ohne Unterlass von der Ausnutzung der Proteste für politische Ziele ausländischer Kräfte gesprochen wurde. Der Abgeordnete der Region Ouargla Kamal Abazi [1] äußerte sich z.B. folgendermaßen: "Wir haben nichts auszusetzen an den Forderungen der Arbeitslosen, denen man nachkommen muss. Aber wir lehnen es ab, dass diese Bewegung sich in einen Vorwand verwandelt, den Akteure mit verdächtigen Agenden ausnutzen, um die Sicherheit, die Stabilität und die Einheit des Landes zu erschüttern." (Bin Ahmad 17/03/13).

Diese Verquickung von Angriffsstrategie und Einbindungsstrategie erlaubte es dem Regime die Legitimität der Protestierenden anzuerkennen, sie also nicht alle als 'Verschwörer' zu bezeichnen und damit vor den Kopf zu stoßen. Gleichzeitig aber behielt man sich die Möglichkeit vor, gegen 'Aufrührer' vorzugehen, die willkürlich bestimmt werden konnten. Die Angriffsstrategie muss hier also als ein eher präventives Mittel gesehen werden, um Gewaltausschreitungen gegen Protestierende zu rechtfertigen. Die Eskalation von Gewalt sollte am Tag der großen Demonstration merklich vermieden werden. In einer Situation von großer Öffentlichkeitswirksamkeit (nationale und internationale Berichterstattung) wurden Repressionsmethoden vermieden. Bei kleineren Protesten war die Polizei weniger rücksichtsvoll. Willkürliche Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Misshandlung und Folter sowie lange Gefängnisaufenthalte ohne Prozess sind keine Seltenheit im Umgang mit Aktivistinnen und Aktivisten. Derartiges Vorgehen und die strafrechtliche Verfolgung der Führungsfiguren, ließen sich vor der Bevölkerung durch den Diskurs der inneren Bedrohung rechtfertigen.

Wir sehen also eine Fokussierung auf die Wiederherstellung des Bildes vom Staat als Versorger. Bei der Bedrohung des Images des Staates als Garant für Stabilität, muss das Regime einen Balanceakt meistern, bei dem es die Bedrohung als nicht zu groß aber auch nicht zu trivial erscheinen lässt.

Diese Reaktion zu Zeiten relativ voller Kassen wirft die Frage auf, wie sich die Situation nach dem anhaltenden Ölpreisverfall ab Juli 2014 verändert. Darauf kann ein Blick auf die Situation im Frühjahr 2016 Antwort geben.


Eskalation der Proteste

Im Februar 2016 eskalierten die Proteste. Nach einem über achtwöchigen Sitzstreik von ca. 20 Arbeitslosen vor dem Sitz der Wilaya in Ouargla, gingen am 9. Februar sieben von ihnen dazu über, sich aus Protest die Lippen zusammen zu nähen. Am 24. Februar verschärfte sich die Lage, als fünf Arbeitslose sich Galgenschlingen um den Hals legten und sich mit Klingen die Arme und Oberkörper aufritzten, mit der Drohung sich umzubringen. Es war nicht das erste Mal, dass die Protestierenden zur Selbstverletzung griffen, um sich Gehör zu verschaffen. Dennoch sorgten die Bilder dieser Aktion in den sozialen Medien für Aufsehen und, wenn auch in kleinerem Maße, für nationale Aufmerksamkeit.

Im Jahr 2016 hat sich die Bedrohung der Hegemonie deutlich verändert. Durch die kleine Anzahl an Protestierenden lässt sich das Problem kaum noch als Sicherheitsproblem darstellen. Die Radikalisierung der Protestmethoden stellt die Regierung aber vor eine Herausforderung. Denn sie sieht sich einer moralischen Anklage gegenüber, zu einem Zeitpunkt, da die Mittel für die Selbstdarstellung als Versorger der Bürgerinnen und Bürger kaum gegeben sind. Die diskursive Angriffsstrategie zeichnete sich daher durch eine neue Härte aus. Neben dem Vorwurf der Manipulation von außen, wurden auch die Forderungen selbst delegitimisiert. Die Arbeitslosen wurden als 'arbeitsscheu', 'faul' und 'vermessen' dargestellt.

Der Gouverneur von Ouargla nannte die Arbeitslosen 'chomeurs de luxe' (Luxus-Arbeitslose), denn sie hätten übertriebene Forderungen was Gehälter und Leistungen angeht Seiner Meinung nach weigerten sich die Arbeitslosen, weitere Qualifikationen zu erwerben und sich persönlich weiterzubilden, obwohl das Angebot der Berufsausbildung sich verdreifacht hätte. (vgl. Alioua 01/03/16).Mit Verweis auf die materiellen Zugeständnisse, die seit 2013 eingeführt wurden, wurden alle Forderungen nach angemessener Bezahlung, sozialen Sicherheiten und Arbeitsrechten als Luxus abgetan.

Der Spielraum für neue materielle konsensschaffende Maßnahmen ist merklich begrenzt. Anstatt vollmundige Versprechen von großen Kontingenten an Arbeitsstellen zu machen, konzentrierte man sich auf die Forderung der gerechten Verteilung. Die veränderte Finanzsituation des Staates zeigt sich auch im Wegfall versprochener materieller Zugeständnisse, wie dem Stopp des Baus eines Universitätskrankenhaus und von sozialem Wohnungsbau.

Der Staatsapparat hält sich mit direkter Gewalt gegen die Proteste zurück. Dies mag aber vor allem der neuen Protestform geschuldet sein. Um die Eskalation und den Selbstmord der Arbeitslosen zu verhindern, verzichtet die Polizei auf die gewaltsame Auflösung der Proteste und setzt vielmehr auf Einschüchterung durch Polizeipräsenz und Verhaftungen von Aktivistinnen und Aktivisten. Die juristische Verfolgung der Protestierenden scheint die unauffälligere Form der Repression zu sein. Gleichzeitig bereitet die radikale, delegitimisierende Angriffsstrategie, bei der die Protestierenden als "Sozialschmarotzer" dargestellt werden, den Boden für einen gewaltsamen Eingriff, sollte das Regime ihn für nötig befinden. Die sich verschlechternde finanzielle Lage bietet Raum für die Mobilisierung weiterer Gruppen und ein erneutes Anwachsen der Bewegung. Es scheint, dass die offiziellen Stellen sich dessen bewusst sind und aktiv versuchen, das Identifikationspotenzial der Arbeitslosenbewegung zu reduzieren. Im Jahr 2016 zeigt sich deutlich, dass sich der Diskurs um die Proteste vor allem auf die lokale Ebene verschoben hat, auf nationaler Ebene regiert das Schweigen was die Proteste und Forderungen der Arbeitslosen betrifft. Dies sehe ich als Teil einer Strategie der Marginalisierung, bei der die Bewegung zurück an den Rand des öffentlichen Bewusstseins verdrängt werden soll.


Marginalisierung statt Einbindung

Diese Analyse der Reaktion des algerischen Regimes auf die Proteste der Arbeitslosen konnte herausstellen, wie sich die Strategie des Regimes veränderte, nachdem seine finanziellen Möglichkeiten stark eingeschränkt waren. Anstatt auf materielle Zugeständnisse zu setzten, verlegte es sich auf eine stärkere Repression sowie den Versuch, die Bewegung aus der Öffentlichkeit zu verdrängen und zurück an den Rand der Gesellschaft zu verbannen.

Nun stellt sich die Frage, wie lange diese Strategie erfolgreich sein kann. Der Anführer der Arbeitslosen Tahar Belabbas sieht diese Strategie zum Scheitern verurteilt: "Die Autoritäten vergessen, dass Repression einen Sturm hervorruft. Sie haben ihre Lektion nicht gelernt. Nur dass es dieses Mal, aufgrund der wirtschaftlichen Lage und der politischen Ungewissheit, schlimmer sein wird" (Matarese, Meddi 04/03/16). In der Tat scheint es absehbar, dass sich erneut ein Widerstand gegen die soziale Ungleichheit und die regionale Marginalisierung organisieren wird.


Marie Wehner, studiert Arabistik und Politik am Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) der Universität Marburg.


Anmerkung:

[1] Abazi war vormals Abgeordneter der zentristischen Partei PNSD und wurde dann Abgeordneter für die Versammlung für die Hoffnung Algeriens (TAJ), die als Plattform des Arbeitgeberverbandes Forum des chefs d'entreprises (FCE) gilt.


Verwendete Literatur:

- Alioua, Houria (01/03/16): "'Nous n'avons pas de chômage, mais des chômeurs de luxe': Saâd Agoudjil, Wali de Ouargla". al-watan. (online).

- Armstrong, Hannah (2014): "The In Amenas Attack in the Context of Southern Algeria's Growing Social Unrest". In: CTC Sentinel. 7:2. S. 14-16. (online).

- As-sa'b 12/03/13): "risalat min ta-rimal". as-sa'b

- Belakhdar, Naoual (2015): "'L'éveil du Sud' ou quand la contestation vient de la marge: Une analyse du mouvement des chômeurs algériens". In: Politique africaine. 1:137. S. 27-48.

- Bin Ahmad, Muhammad (17/03/13): "masírat jadída fí warqla yawm 23 maris: 'ahzab siyasiyya tuhawil tabanni matalib as-sari' fí-l-wilaya". al-habar. (online).

- Bin Ahmad, Muhammad (29/03/13): "Tiqinturin 'as'alat as-sari' fí-l-ganub:" itlal sarikat an-nafd li-l-'amil al-gaza'iri wara'milad lagnat ad-difa'an al-batalin". al-habar. (online).

- Farah, Jakob (2015): Handelsliberalisierung im Rentierstaat: Autoritäre Herrschaft in Algerien und das EU-Assoziierungsabkommen. Springer. Wiesbaden.

- Hanieh, Adam (2009) Forum: Hierarchies of a Global Market: the South and the Economic Crisis. In: Studies in Political Economy, 83:1. S. 61-84.

- Horizons (23/04/13): "La DGSN s'implique dans la lutte contre le chômage au sud: Salon sur le recrutement à Ouargla". Horizons. (online).

- Lopez-Calix, Jose R.;Touqueer, Irum (2016): "Algeria: Comparing the Last Two Oil Shocks and Policy Responses". In: Topics in Middle Eastern and African Economies, 18:2. S. 117-129.

- Matarese, Mélanie, Meddi, Adlène (04/03/16) "Tahar Belabbès et Aïbek Abdelmalek. Ex-leaders du Comité national pour la défense des droits des chômeurs". al-watan. (online).

- Musette, Mohamed S. (2014): Employment Policies and Active Labour Market Programmes in Algeria. European Training Foundation. (online).

- ONS (2016): Activité, Emploi & Chômage en Septembre 2016. Office National des Statistiques. (online).

- Ouaissa, Rachid (2005): Staatsklasse als Entscheidungsakteur in den Ländern der Dritten Welt: Struktur, Entwicklung und Aufbau der Staatsklasse am Beispiel Algerien. LIT Verlag. Münster.

- World Bank (2004): Unlocking the Employment Potential in the Middle East and North Africa: Toward a New Social Contract. World Bank. Washington DC.

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 90, Sommer 2017

Gastkommentar
- Die verhinderte Führungsmacht Saudi-Arabien. Von Jens Heibach

Politische Ökonomie
- Einführung: Kritische Politische Ökonomie des Nahen- und Mittleren Ostens. Von Sascha Rad!
- Ein Petrodollar und ein Traum. Von Adam Hanieh
- Pakistan: Die immer größere werdende Macht Chinas. Von Adam Pal
- Fünf Jahre Revolution und Gegenrevolution in Ägypten. Von Brecht de Smet
«Ihr habt unsere Träume verbrannt» - Arbeitslosenproteste in Algerien. Von Marie Wehner
Der fragile Bonapartismus in der Türkei. Von Baris Yildirim/Foti Benlisoy
- Jordaniens Migrationsregime. Von Ava Matheis
- Neoliberale Transformation des Kairoer Stadtkerns. Von Nora Schmid

Syrien
- Die Waffen-Industrie «tötet und schafft Flüchtlinge»! Von Diana Bashur
- Die syrische Katastrophe - Syrien, 2013-2014. Von Patrick Cockburn

Essay
- Vom Gebrauch des Begriffs Zionismus. Von Eleonora Roldán Mendívil

Zeitensprung
- Die Legitimität des Staates Israel: 100 Jahre Deklarationen und Beschlüsse. Von Alexander Flores

Sudan
- Der Pyramiden-Krieg der qatarischen Prinzessin. Von Roman Deckert

Ex mediis
- Zum «Dschihadismus» in der iz3W (358). Von Imad Mustafa
- Charlotte Wiedemann: Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten. Von Asghar Schirazi
- Sebastian Sons: Auf Sand gebaut. Saudi-Arabien - ein problematischer Verbündeter. Von Werner Ruf
- Helmut Mejcher: Der Nahe Osten im II. Weltkrieg. Von Alexander Flores
- Lutz Fiedler: Matzpen: Eine andere israelische Geschichte. Von Adrian Paukstat

Nachrichtenticker

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Quelle:
INAMO Nr. 90, Jahrgang 23, Sommer 2017, Seite 23-26
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2018

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