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INNEN/2556: Rede von Sigmar Gabriel beim außerordentlichen SPD-Bundesparteitag am 26.1.2014


SPD-Pressemitteilung vom 26. Januar 2014

Rede des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Sigmar Gabriel beim außerordentlichen SPD-Bundesparteitag am 26. Januar 2014 in Berlin



Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gäste! Herzlich willkommen zum zweiten Teil unserer Konferenz, zum außerordentlichen Bundesparteitag der SPD, bei dem wir heute ein paar wichtige Wahlen durchzuführen haben.

Lasst mich am Anfang auch auf dem Bundesparteitag noch einige Gäste begrüßen. Einer ist schon während der Europadelegiertenkonferenz begrüßt worden. Trotzdem noch mal herzlich willkommen, Lubomir Zaorálek, der Vizevorsitzende der tschechischen Schwesterpartei und hoffentlich der nächste Außenminister der Tschechischen Republik.

Unter uns ist auch Jan Keller, Spitzenkandidat der Kandidatenliste der CSSD. Herzlich willkommen, lieber Jan!

Ich begrüße die Vertreterinnen und Vertreter, die Exzellenzen anderer Länder in den Botschaften, an der Spitze den Botschafter des Landes Marokko. Herzlich willkommen an die Vertreter des Diplomatischen Korps!

Lasst mich aber auch ein paar Freundinnen und Freunde und Genossinnen und Genossen begrüßen, über deren Anwesenheit auf dem außerordentlichen Parteitag wir uns sehr freuen. An der Spitze: Lieber Kurt Beck, schön, dass du hier bist!

Dabei sind auch Ingrid Matthäus-Maier, Gesine Schwan, Karsten Voigt und eine ganze Reihe von Genossinnen und Genossen. Auch Ulla Schmidt ist heute hier. Ulla, welche Funktion soll ich nehmen? Ich finde, Ulla ist als Ulla hier. Herzlich willkommen bei uns!

Wilhelm Schmidt, der Präsident der Arbeiterwohlfahrt, ist auch bei uns. Wilhelm, herzlich willkommen!

Wir freuen uns darüber, dass vom DGB Dietmar Hexel da ist, und Dietmar Schäfers, der stellvertretende Bundesvorsitzende, der IG Bau. Herzlich willkommen!

Auch Wolfgang Lemb vom Bundesvorstand der IG Metall, herzlich willkommen hier bei uns auf dem außerordentlichen Bundesparteitag.

Darüber hinaus freuen wir uns auch über die Gäste aus den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Aber am meisten freuen wir uns, dass die Delegierten der Sozialdemokratie heute hier sind. Herzlich willkommen hier in Berlin beim außerordentlichen Bundesparteitag. Schön, dass ihr alle gekommen seid!

Wir stehen heute auf dem Bundesparteitag vor wichtigen Personalentscheidungen, vor der Wahl eines neuen stellvertretenden Parteivorsitzenden, vor der Wahl einer neuen Generalsekretärin und vor der Wahl eines neuen Schatzmeisters. Aber so wichtig diese Wahlen für unsere Partei auch sind - eine Wahl, die wir gerade vorgenommen haben, hat eine noch viel größere Bedeutung für uns, für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und ohne Übertreibung für alle Menschen hier in Europa. Ihr ahnt, von wem ich rede: von unserem Spitzenkandidaten für die Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai. Herzlich Willkommen, Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments!

Martin ist vorhin mit einem Ergebnis von mehr als 97 Prozent zum Spitzenkandidaten der Sozialdemokratie in Deutschland gewählt worden. Aber die eigentliche Bedeutung dieser Wahl liegt in den Folgen der Entscheidung, die wir heute getroffen haben. Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union und der Geschichte des Europäischen Parlaments treten die europäischen Parteifamilien der 28 unterschiedlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht mit ebenso vielen Spitzenkandidaten in ihren Ländern an, sondern die Parteifamilien treten zum ersten Mal in der Geschichte des Europäischen Parlaments - die Konservativen, die Liberalen, die Grünen und wir Sozialdemokraten in Europa - mit je einer Spitzenkandidatur für alle Mitgliedsstaaten der Europäischen an. Und erstmals in der Geschichte der Europäischen Union wird dann nach der Wahl der Kommissionspräsident der Europäischen Union nicht mehr im Hinterzimmer von den Staats- und Regierungschefs ausgekungelt, sondern er muss im Europäischen Parlament gewählt werden. Damit entscheiden endlich nicht mehr die Kungelrunden außerhalb der Öffentlichkeit darüber, wer Europa regiert, sondern die frei und gleich und in geheimer Wahl gewählten Abgeordneten der Bürgerinnen und Bürger unseres Kontinents. Und deshalb haben wir mit Martin Schulz eine historische Chance, nämlich nach mehr als 50 Jahren wieder einen Deutschen zum EU-Kommissionspräsidenten zu bekommen. Endlich schaffen wir es, dass Sozialdemokraten die Chance haben, mit "Mehr Demokratie wagen" einen Sozialdemokraten aus Deutschland an die Spitze der Europäischen Kommission zu bekommen. Das ist unsere Chance. Um die werden wir kämpfen.

Denn der letzte deutsche EU-Kommissionspräsident war Walter Hallstein, ein CDU-Politiker, den die meisten, weil es so lange her ist, schon gar nicht mehr kennen, und die, die es können, denken beim Namen Hallstein eher an unpopuläre Entscheidungen seiner Zeit.

Nach mehr als 50 Jahren also kann nun zum zweiten Mal ein Deutscher an die Spitze der EU-Kommission kommen: Martin Schulz. Dafür lohnt es sich allemal in Deutschland, am 25. Mai wählen zu gehen. Unser oberstes Ziel muss sein, die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament endlich wieder nach oben und nicht jedes Mal nach unten gehen zu lassen.

Endlich wird mehr Demokratie in Europa gewagt, und wer, wenn nicht die Partei Willy Brandts, muss die Chance nutzen? Es wird Zeit und es ist überfällig, dass endlich das Parlament eine europäische Regierung bestimmt und dass nicht die Hinterzimmerrunden von Staats- und Regierungschefs dann in der Regel schwache Kandidaten auswählen, damit sie selber mehr zu sagen haben.

Lieber Martin, wir sind - ich glaube, das kann ich für alle 474.000 SPD-Mitglieder in Deutschland sagen - ungeheuer stolz darauf, dass du, einer von uns, der Spitzenkandidat aller sozialdemokratischen Parteien Europas werden wirst. Vielen Dank für dein ungeheures Engagement und für die große Zustimmung, die du dir dafür überall in Europa bis hinein in die Konservativen verschafft hast. Ich glaube, selbst bei denen wären einige froh, wenn du hinterher der Kommissionspräsident werden würdest.

Martin hat sich dieses Vertrauen der Europäerinnen und Europäer und der Parteien, weit über die sozialdemokratische Parteifamilie hinaus erarbeitet, weil so sehr wie er niemand anders die Idee eines modernen, demokratischen und sozialen Europas vertritt. Kein anderer tut dies und verkörpert es so wie Martin Schulz.

Martin, du bist dein ganzes politisches Leben lang ein überzeugter, aber vor allen Dingen ein überzeugender Europäer gewesen. Nicht nur ein Europa aus Vernunftgründen steht bei dir im Mittelpunkt, sondern du bist es vor allen Dingen mit jeder Faser deines Herzens und deiner politischen Seele.

Aufgewachsen in der Nähe zu den Niederlanden, Belgien und Frankreich hast du die Schlachtfelder Europas sozusagen in Sichtweise deiner Heimatstadt und deiner politischen Biographie.

In diesem Jahr ist es 100 Jahre her, dass der Erste Weltkrieg begann und sein Ende schon die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs vorbereitete. Es war die deutsche Sozialdemokratie, die als Konsequenz des Mordens und des Sterbens junger Männer und vieler Familien auf den Schlachtfeldern Europas im Ersten Weltkrieg im Jahr 1925 die Vereinigten Staaten von Europa gefordert hat. Constanze Krehl und Udo Bullmann haben vorhin schon darauf hingewiesen. Hätten sich unsere Vorgängerinnen und Vorgänger in der Sozialdemokratie durchgesetzt - der zweite größere Völkermord in Europa hätte vielleicht verhindert werden können.

Heute meinen viele, dass diese Gefahr des Krieges in Europa gebannt sei. In der Europäischen Union ist das ganz gewiss so. Aber was dort möglich ist, wo sie nicht existiert, wo die friedensstiftende Kraft der Menschenrechte, der Demokratie und der sozialen Entwicklung keine Rolle spielt, das kann man in diesen Tagen in der Ukraine sehen. Das ist ein Beispiel dafür, wie wichtig und wie modern die Europäische Union noch heute ist und wie sehr es uns darum gehen muss, das einmal Erreichte in dem größten Zivilisationsprojekt des 20. Jahrhunderts auf unserem Kontinent, der Europäischen Union, nie wieder aufs Spiel zu setzen. Nie wieder!

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat in Europa viele Anti-Europäer auf den Plan gerufen. Zu viele. Rechtsradikale und Rechtspopulisten genauso wie Linkspopulisten und Linksradikale. Sie alle setzen mit ihrer Propaganda dieses große Zivilisationsprojekt des 20. Jahrhunderts aufs Spiel.

Wenn es eine Kraft gibt, die seit über 150 Jahren für Frieden, Demokratie und Freiheit aller Menschen auf unserem Kontinent eintritt, dann ist es die deutsche Sozialdemokratie. Deshalb werden wir den Gegnern Europas entschieden entgegentreten.

Ob es nun neunmalkluge Professoren, ehemalige Verbandslobbyisten oder Linksradikale sind: Wir verteidigen Europa gegen sie.

Weil wir auch in Deutschland eine politische Auseinandersetzung haben - die eine auf der rechtspopulistischen und zum Teil rechtsradikalen Seite, die andere auf der linkspopulistischen -, will ich, weil es aktuell ist, zwei Zitate vorlesen, die auch noch einmal klarmachen, wo sozusagen Aufklärung, Emanzipation, sozialer Fortschritt und Demokratie beheimatet sind und wo nicht.

Da sagt in diesen Tagen jemand im "Tagesspiegel" - ich zitiere -: "Die Europäische Union ist ein Hebel zur Zerstörung der Demokratie." - Das sagt nicht etwa jemand vom rechten Rand, sondern das ist ein Zitat von Sahra Wagenknecht. Wie weit muss man von der Erfahrung der Völker Europas eigentlich entfernt sein, um auf einen solch dummen Satz zu kommen?

Und weil das scheinbar nicht genug ist, fügt sie noch hinzu, dass die AfD, also die rechte Seite des politischen Spektrums, sich geschickt verhalten und eigentlich ihr Programm von der Linkspartei nur abgeschrieben habe.

Das muss man sich einmal klarmachen: Da verbünden sich die linken und die rechten Feinde Europas. - Wir als Sozialdemokraten werden beiden entgegentreten!

Gut bezahlte, im öffentlichen Dienst gut ausgestattete Professoren, Wirtschaftslobbyisten, die eine hohe Rente aus ihren Lobbyverbänden bekommen, und Politrentner - die können leicht reden über die Zerstörung Europas, weil sie in Lebensverhältnissen leben, in denen sie die Zerstörung Europas vermutlich bei Weitem nicht so betrifft wie andere. Aber ich sage euch: Der Facharbeiter bei Volkswagen, der Ingenieur bei der BASF, die kaufmännische Angestellte bei Siemens oder der Lkw-Fahrer im Logistikunternehmen: Die leben davon, dass die Europäische Union funktioniert. Denn nur wenn sie funktioniert, sind ihre Arbeitsplätze in Deutschland sicher. Das sind unsere Wählerinnen und Wähler, denen muss man die Angst vor Europa nehmen.

Wir sind nicht der Zahlmeister der Europäischen Union. Wir sind die Gewinner der europäischen Einigung. Das ist unser Motto für den kommenden Wahlkampf.

Millionen von Arbeitsplätzen in diesem Land hängen davon ab, dass es auch anderen Menschen in Europa gut geht. Wenn die Menschen in Südeuropa, in Spanien, in Frankreich arbeitslos werden, werden sie keine deutschen Autos, keinen deutschen Maschinenbau, keine deutsche Elektrotechnik kaufen. Sie werden übrigens auch nicht in Deutschland Urlaub machen.

Das heißt: Wir sind so eng verknüpft mit diesem Europa, dass die Propaganda von Links und Rechts, würde sie sich durchsetzen, in unserem Land den größten Schaden anrichten würde. Andere allerdings würden mindestens genauso leiden.

Deshalb sage ich: Wenn wir Deutschen in die Zukunft Europas investieren, verdammt noch mal, dann investieren wir doch immer auch in unsere eigene Zukunft.

Deshalb lasst uns diesen dummen Parolen vom "Zahlmeister Deutschland" entgegentreten. Das Gegenteil ist richtig.

Ja, wir wollen in Europa investieren, weil es unsere eigene Zukunft ist. Wir tun dies übrigens nicht nur aus ökonomischen Gründen. Es ist auch unsere historische und politische Verpflichtung. Die Völker Europas haben unser Volk wieder in ihre Mitte aufgenommen, obwohl aus unserem Volk heraus der Völkermord im Zweiten Weltkrieg in ganz Europa organisiert wurde. Sie haben uns beim Wiederaufbau unseres Landes geholfen, unterstützt und ihn auch finanziert.

Seitdem zählen wir zu den Gewinnern der europäischen Einigung. Und jetzt, finde ich, ist es durchaus erlaubt zu sagen: Wenn wir in Europa investieren, dann tun wir es wegen unserer eigenen Zukunft. Wir tun es aber auch, weil es Zeit ist, denen was zurückzugeben, die uns viel gegeben haben.

Ich wünsche mir eine Sozialdemokratie, die das Thema Europa nicht ängstlich angeht, sondern offensiv. Ich wünsche mir eine Sozialdemokratie, die darüber redet, wie die Zukunft unseres Landes denn aussehen soll, wenn es Europa nicht mehr gäbe.

Die Welt verändert sich. Alleine in China und Indien leben zusammen 2,5 Milliarden Menschen. In der Europäischen Union sind es ganze 500 Millionen, insgesamt in Europa vielleicht 800 Millionen.

Das verändert sich rasant. Und ich meine, jeder weiß doch, dass der chinesische Staatspräsident oder der indische Ministerpräsident in ein paar Jahren nicht 28, 29 oder 30 Staats- und Regierungschefs in Europa nacheinander anrufen wird, um mal zu erfahren, was die Europäer so denken über den Welthandel, über den Klimawandel oder über Krieg und Frieden und Menschenrechte.

Diese Veränderung der Welt führt doch dazu, dass wir nationale Souveränität nur dann gewinnen, wenn wir in Europa zusammenarbeiten. Alleine verlieren wir sie. Europa hat dann entweder eine Stimme oder keine Stimme in der Welt. Wir wollen, dass unsere Kinder und Enkel in der Welt eine Stimme haben. Und das muss eine europäische sein.

Für uns Sozialdemokraten in Europa ist dieses Projekt viel mehr als nur ein gemeinsamer Markt. Europa ist vor allem eine Idee vom Zusammenleben der Völker und der Menschen. Die europäische Idee stellt das Gemeinwohl über das Einzelinteresse. Die europäische Idee stellt die kulturelle Vielfalt über den Zwang zur Anpassung, die Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum, die nachhaltige Entwicklung vor die rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur.

Die europäische Idee stellt auch die Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung. Wenn wir dieses Europa wieder lebendig machen wollen und wenn dieses Europa Erfolg haben soll, dann muss es ein soziales und demokratisches Europa sein - am besten ein sozialdemokratisches!

Niemand kann das mit so viel Leidenschaft erklären wie Martin Schulz - und das auch noch - ich habe irgendwann aufgehört zu zählen - in fünf oder sechs Sprachen.

Er behauptet, das ist zu viel. Ich bin aber immer dabei, wenn er das macht: Menschen in ihren Muttersprachen begeistern. Deshalb - noch einmal - sind wir stolz, Martin, dass du der Spitzenkandidat aller europäischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten bist. Ich verspreche dir: Du sollst am Wahlabend aus unserem Land heraus einen Schub bekommen haben, um die Kommission zu führen. Wir werden einen Europawahlkampf führen, wie wir ihn noch nie geführt haben, lieber Martin!

Dieser außerordentliche Bundesparteitag markiert aber auch den Abschluss eines Prozesses, den wir gemeinsam in Leipzig im November des letzten Jahres begonnen haben - eines Prozesses, mit dem wir als SPD gemeinsam Partei- und Demokratiegeschichte geschrieben haben. Denn noch nie zuvor hat sich eine große Volkspartei in Deutschland getraut, die eigenen Mitglieder zu fragen, ob sie einer Regierungsbeteiligung auf der Grundlage einer konkreten Koalitionsvereinbarung zustimmen. Wir Sozialdemokraten haben das getan. Und ich sage ganz selbstbewusst: Dieser Prozess war einzigartig und vorbildlich für die politische und demokratische Willensbildung in unserem Land.

Wir können stolz auf unsere SPD und ihre Mitglieder sein!

Ich habe die Partei noch nie so vielfältig mit Tausenden von Teilnehmern in den Veranstaltungen über Inhalte und über das Leben in Deutschland diskutieren sehen. Der Koalitionsvertrag war ja Anlass einer breiten Diskussion, wie wir miteinander leben wollen. Ich habe dabei gespürt, dass wir noch nie so dicht an unseren Mitgliedern waren wie in den Wochen, als wir unzählige Veranstaltungen vor Ort und viele große Regionalkonferenzen mit Tausenden von Mitgliedern veranstaltet haben. Ich gebe zu, es haben auch ein paar mitgeholfen - manche bewusst, wie unsere Mitglieder in den Gewerkschaften, und manche vermutlich eher unbewusst wie einzelne Redakteurinnen im ZDF. Wir wollen heute allen danken!

Aber es gibt einen schönen Nebeneffekt: Wir haben im letzten Jahr fast 20.000 neue Mitglieder bekommen, 50 Prozent davon im Juso-Alter. Ich finde, das ist auch ein beeindruckendes Ergebnis dieser Veranstaltungen im letzten Jahr.

7.000 Mitglieder sind allein in der Zeit der Debatte um das Mitgliedervotum zu uns gekommen. Viele sind beigetreten, weil wir eine Partei sind, bei der Menschen direkt mitentscheiden können. Ich habe die Bitte an euch: Lasst uns das nicht in der Routine untergehen! Knapp 7.000 Mitglieder haben wir in 2013 mehr hinzu gewonnen als in 2012. Ich weiß nicht, ob die beiden Zahlen zusammenhängen - vermutlich nicht völlig. Sicher bin ich mir aber. Die 7.000 und die 13.000 dazu müssen wir jetzt auch ansprechen! Die 20.000 neuen Mitglieder des letzten Jahres warten jetzt darauf, dass sie von den Ortsvereinen eingeladen werden, dass sie uns kennenlernen, dass sie bei der Meinungsbildung vor Ort mitwirken können. Übrigens: Ein paar werden auch darauf achten, ob sie eine Chance haben, mal bei uns kandidieren zu können oder ob man erst 20 Jahre dabei sein und 400.000 Flugblätter verteilt haben muss. Ladet sie ein! Das sind unsere neuen Mitglieder! Die warten auf eine Einladung zur Diskussion und zur Beteiligung. Macht das alle miteinander!

Wir haben andere und, ich glaube, auch uns selbst überrascht. Das war gut für die demokratische Kultur der Partei, aber auch des ganzen Landes. Es gibt ja schon ein paar Parteien, die neidisch auf die SPD schauen und sich fragen, warum sie eigentlich nicht entscheiden dürfen, wenn zum Beispiel solche skurrilen Bündnisse wie in Hessen geschlossen werden. Wir haben Hunderttausende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten bewogen, ihre Stimme abzugeben. Die SPD ist die Demokratiepartei unseres Landes! Das ist etwas, worauf wir sehr stolz und selbstbewusst reagieren können.

Übrigens: Wenn man einen solchen demokratischen Prozess in der eigenen Partei durchführt und Willy Brandts Motto "Mehr Demokratie wagen" auch bei uns gelten soll, dann hat das auch allgemein politische Konsequenzen. Ich sage mal eine: Ich kann mir eine Verlängerung der Legislaturperiode des Deutschen Bundestages nicht vorstellen, ohne dass im Grundgesetz endlich Volksabstimmungen ermöglicht werden.

Würde man das anders machen, dann gäbe es nämlich weniger und nicht mehr Demokratie. Für uns ist es eine Verpflichtung, wieder mehr Demokratie auf allen Ebenen zu ermöglichen.

Wir sind nicht wegen der Posten in der Bundesregierung, sondern um das Leben in Deutschland besser und für viele Menschen leichter zu machen. Macht um der Macht willen ist nicht das, wofür die SPD steht.

Wir haben gute und faire Verhandlungen geführt - auch mit der Union und mit Angela Merkel. So viel Fairness muss auch auf einem SPD-Parteitag sein.

Wir werden den Koalitionsvertrag einhalten. Wir sind verlässliche Partner. Das war übrigens die Sozialdemokratie immer. Aber wir erwarten auch, dass alle anderen genauso verlässliche Partner bleiben, wie es im Koalitionsvertrag verabredet worden ist.

Da kann man ruhig mal klatschen! Sonst hört das der eine oder andere vielleicht nicht. Ich glaube, dass es vor allen Dingen darauf ankommt, dass wir dafür sorgen, dass diese Regierung Erfolg hat. Wir sind nicht eine Gegenregierung in dieser Regierung, sondern wir sind dafür da, die sozialdemokratischen Projekte, aber auch alles andere, was in der Koalitionsvereinbarung steht, selbstbewusst zum Erfolg zu bringen. Ich jedenfalls bin der festen Überzeugung, dass die SPD nur dann in dieser Regierung bestehen kann, wenn wir die Dinge, die wir im Mitgliedervotum unseren Mitgliedern versprochen haben, die in der Öffentlichkeit Zustimmung finden, auch wirklich auf Punkt und Komma in der Regierung durchsetzen. Das muss Grundlage unserer Arbeit sein.

Da gibt es eine Menge zu tun: den gesetzlichen Mindestlohn endlich zu schaffen, die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren. Lasst mich übrigens dazu eines sagen: Wir sind jetzt, glaube ich, sechs Wochen im Amt. Ein bisschen Weihnachtsferien durften die Ministerinnen und Minister auch machen. Ich will niemanden zurücksetzen. Aber das, was Andrea Nahles in diesen wenigen Wochen mit dem Rentenpaket auf den Weg bringt - alle Achtung, liebe Andrea, alle Achtung!

Das ist ein Riesenjob, den ihr da macht. Lasst uns das offensiv gegen die verteidigen, die jetzt so tun, als würden wir etwas machen, was wir nicht vor der Wahl gesagt haben, und gegen die, die daraus einen Generationenkonflikt machen! Ich sage in der Öffentlichkeit ganz selbstbewusst: Wenn wir Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, deren Arbeitsbedingungen schlechter waren als diejenigen heutiger Generationen und der zukünftigen, die Chance geben, nach 45 Jahren ohne Rentenkürzung in Rente gehen zu können, dann ist das ein Akt der Gerechtigkeit und nicht der Ungerechtigkeit in unserem Land.

Ich habe zwei Töchter: eine ganz kleine und eine ein bisschen größere. Die werden in ihrem Leben vermutlich nie in so schwierigen Lebensverhältnissen arbeiten müssen wie ihre Großmutter. Die werden vermutlich auch ein höheres Einkommen als meine Mutter haben. Die werden andere Bedingungen haben. Unsere Eltern und Großeltern haben gearbeitet und dieses Land aufgebaut, da gab es für viele noch eine Sechstagewoche.

Da war von Humanisierung der Arbeitswelt nicht die Rede. Deren Einkommen sind nicht besonders hoch; die Renten auch nicht. Es ist eine Frage des Anstandes, dass wir denen eine faire Rente geben. Es ist eine Frage des Anstandes.

Genauso wie der Mindestlohn, die Begrenzung von Leih- und Zeitarbeit, die Bekämpfung dieses ausufernden Werksvertragsunwesens, Investitionen in Kitas und Ganztagsschulen, mehr Gleichstellung für Frauen und Männer, die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern, Investitionen in Städte und Gemeinden und die Durchsetzung des Verbraucherschutzes. Übrigens: Deswegen ist es gut, dass der Parteitag noch mal bekräftigt, dass wir in Deutschland und Europa keine Gentechnik in Futtermitteln und Lebensmitteln haben wollen. Das wollen wir nicht.

Das und viele andere Aufgaben mehr werden den Alltag unserer Regierungsmitglieder bestimmen - übrigens auch eine bezahlbare Energiewende. Ich weiß, da gibt es viel Unruhe. Aber ich sage euch: Wir werden mit allen reden, auch mit den Ländern und Kommunen, und werden, glaube ich, kluge Lösungen erreichen.

Aber für eins darf die SPD nicht antreten: Sie darf nicht den Eindruck vermitteln, dass die Summe der Einzelinteressen der ganz normalen kleinen Stromkunden am Ende das Gemeinwohl befördert. Die Energiewende wird nur zum Erfolg, wenn die Wirtschaft, aber vor allem auch die einzelnen Menschen - auch die, die nicht so viel Geld haben - sie bezahlen können. Dafür muss die SPD sorgen.

Andrea Nahles, Frank-Walter Steinmeier, Manuela Schwesig, Heiko Maas, Aydan Özo?uz und Barbara Hendricks werden alle diese Aufgaben anpacken. Ich sage euch: Sie werden die Motoren dieser Bundesregierung sein. Und wir haben nichts dagegen, wenn andere Mitglieder der Bundesregierung sich auch als Motoren begreifen. Am Ende wird es dem Land guttun. Lasst mich auch ein Wort zu demjenigen sagen, der gerade dafür sorgt, dass Deutschland wieder eine Außenpolitik bekommt - zu Frank-Walter Steinmeier.

Lieber Frank-Walter, man hat ja den Eindruck, du seist nie weggewesen. Das liegt aber nur daran, dass sich heute schon keiner mehr daran erinnern kann, wer eigentlich dein Vorgänger gewesen ist.

Wir sollten stolz darauf sein, dass die Sozialdemokratie und mit ihr Deutschland wieder eine aktive Rolle in der Außenpolitik bekommt. Und wie nötig das ist, das sehen wir auch in der Ukraine, im Nahen Osten und an vielen anderen Brennpunkten. Vielen Dank dafür, dass du der Außenpolitik Deutschlands endlich wieder ein vertrauensvolles Gesicht und vertrauensvolle Leistungen gegeben hast.

Gute Arbeit in der Regierung ist aber nur die Hälfte unserer Aufgaben. Die SPD darf nicht nur zum Anhängsel der Regierungsarbeit werden. Wir müssen eine eigenständige politische Rolle und ein eigenständiges politisches Profil haben. Die Erfüllung der Regierungsverantwortung und die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung ist das eine. Daneben muss die Weiterentwicklung und Profilierung der Partei stehen - übrigens durchaus auch in ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Regierung. Wir dürfen nicht in Zeiten zurückfallen, in denen sozusagen die Regierung der Partei vorgeschrieben hat, was sie zu tun und zu lassen hat, sodass die Partei irgendwie den Eindruck hat: Die in der Regierung sind Fremde, die da zufällig sitzen.

Wir müssen das gemeinschaftlich hinkriegen, und ich glaube, das schaffen wir auch. Wir schaffen das vor allem dann, wenn wir wieder auf die zugehen, die wir vielleicht in den letzten Jahren noch nicht ausreichend erreicht haben und vor allen Dingen die an Bord halten, die in alter Freundschaft wieder zurückgekehrt sind. Das Verhältnis zu den Gewerkschaften war lange nicht mehr so gut. So soll es bleiben!

Die Weiterentwicklung der sozialdemokratischen Programmatik und der Organisationsreform, die Festigung unserer Kampagnenfähigkeit, die Organisationsreform insgesamt bleiben auf der Tagesordnung.

Dazu gehören auch Wahlen, die wir heute vornehmen. Es treten zwei Menschen an, die diese Anforderungen, eine moderne Volkspartei SPD zu formen und zu managen, mit neuen Ideen, aber auch mit Verlässlichkeit vorantreiben wollen: Yasmin Fahimi als Kandidatin für das Amt der neuen Generalsekretärin und Dietmar Nietan als Kandidat für das Amt des Schatzmeisters. Wo ist er? - Dietmar, du musst in die erste Reihe, mit dem Verstecken ist es vorbei!

Die Landesverbände wollen sehen, wen sie wegen Geld anhauen können.

Diese beiden kandidieren. Aber es gibt noch eine dritte Person, bei der ich mich heute ausdrücklich bedanken will, und zwar Ralf Stegner. Es ist kein Geheimnis, dass sich Ralf nicht nur hat vorstellen können, Generalsekretär zu werden, sondern er könnte es auch. Aber wir haben, glaube ich, miteinander eine kluge Wahlanalyse gemacht und darauf hingewiesen, dass es nicht geht, dass die täglich sichtbaren Gesichter der SPD nur Männergesichter sind.

Lasst mich trotzdem sagen: Ralf trägt das solidarisch mit, auch wenn er sich, glaube ich, etwas anderes hat vorstellen können. Ralf Stegner gehört zu den profiliertesten SPD-Politikern, die wir zu bieten haben. Deswegen bin ich froh, dass du als neuer Stellvertreter auch auf dem Parteitag kandidierst. Ich finde, so bauen wir zusammen eine gemeinsame Partei. So muss es bleiben!

Ralf muss ich nicht lange vorstellen. Yasmin Fahimi kennen vielleicht nicht alle so gut. Sie ist bei der IG BCE und ist da vor allen Dingen mit der gesamten Arbeitswelt, aber vor allem auch mit strategischer und organisatorischer Planung beschäftigt. Sie weiß besser als viele andere, wie eine moderne Arbeitnehmervertretung zu sein hat.

Jetzt gibt es welche, die sagen: Aber die kommt doch von außen. - Und ich meine, eins ist auch klar: Nachdem Andrea nicht mehr kandidiert hat, wussten wir: So eine finden wir nicht noch mal. - Natürlich ist sie nicht in der Art und Weise vernetzt wie Andrea, das bin ja nicht mal ich. - Das stimmt, oder?

Das Geheimnis ist: Andrea hat es sogar mal geschafft, dafür zu sorgen, dass ich nicht ins Präsidium gewählt wurde.

Meine heimliche Rache ist: Jetzt muss sie Ministerin machen.

Aber ernsthaft: Ich finde, es ist doch ganz gut, wenn wir bei uns auch Menschen für wichtige Funktionen gewinnen, die einen Blick von außen mitbringen - keinen fremden Blick, sondern einen Blick mit neuen Erfahrungen. Deswegen bin ich von der Kandidatur von Yasmin ganz überzeugt und mit mir alle anderen Mitglieder der Parteiführung.

Dietmar Nietan dagegen kennt natürlich die SPD wie seine Westentasche. Er hat Erfahrungen auf allen Ebenen, in der Kommunalpolitik, im Bundestag. Er war in Europa, bei Martin Schulz. Das sind die besten Voraussetzungen für einen politischen Schatzmeister, wie wir sie übrigens immer hatten. Dazu bringt er wirklich eine breite Erfahrung mit.

Yasmin und Dietmar, ihr beide werdet die SPD-Führung nicht nur jünger, sondern auch moderner, offener und - da bin ich sicher - auch klüger machen.

Ihr seht: Es gibt nach wie vor viel zu tun, mehr, als wenn man in der Opposition ist. Aber unser Ziel ist auch im 151. Jahr, die SPD und ihre Politik weiterzuentwickeln, Menschen zu gewinnen und in ein paar Jahren die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, dass die deutsche Sozialdemokratie wieder die Bundesregierung anführt. Das ist unser gemeinsames Ziel.

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 025/14 vom 26. Januar 2014
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
Bürgerbüro, Willy-Brandt-Haus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2014