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INNEN/2316: Rede von Sigmar Gabriel zum 20. Todestag Willy Brandts


SPD-Pressemitteilung 339/12 vom 8. Oktober 2012

Rede Sigmar Gabriel zum 20. Todestag Willy Brandts

Rede des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Sigmar Gabriel zum 20. Todestag von Willy Brandt bei der Gedenkveranstaltung zum 20. Todestag von Willy Brandt am 8. Oktober 2012 im Willy-Brandt-Haus in Berlin



- Es gilt das gesprochene Wort. -

Ich möchte mich ganz herzlich bei der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung für diese Veranstaltung bedanken. Sie hat es ermöglicht, dass wir heute eines großen Mannes gedenken, der vor genau zwanzig Jahren starb: Willy Brandt.

Seine Statue steht überlebensgroß neben mir. Das erinnert mich und Sie daran, dass vieles in der SPD - und ich füge hinzu: in Deutschland - in seinem Schatten steht. Willy Brandt hat das moderne, demokratische Deutschland und die heutige SPD geprägt wie kaum ein anderer.

Der Beitrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung zum Gedenken an den Namenspatron der Stiftung und des Hauses, in dem wir heute zusammen kommen, ist ein Buch mit gesammelten Reden Willy Brandts zur sozialdemokratischen und deutschen Geschichte. Professor Klaus Schönhoven hat diesen Band ediert, er wird ihn später gemeinsam mit Gesine Schwan und Gunter Hofmann vorstellen.

Im kommenden Jahr wird die SPD 150 Jahre alt. Es ist außerordentlich passend, die Reihe von Veranstaltungen zum 150. Jubiläum der SPD-Gründung mit einer Veranstaltung zu beginnen, deren Thema Willy Brandt und seine Sicht auf die sozialdemokratische und die deutsche Geschichte ist.

Nicht nur, dass sich im 150. Jahr der SPD auch der 100. Geburtstag Willy Brandts jährt, sondern er war der letzte wirkliche Vorsitzende, der der alten Arbeiterbewegung entsprang und zugleich ist die Politik Willy Brandts für einen großen Teil der Geschichte bis zum heutigen Tag prägend.

In diesem Haus, das seinen Namen trägt, muss ich niemandem erklären, wer Willy Brandt war oder was er für die Sozialdemokratie bedeutete.

Ich will deshalb nur zwei Zahlen nennen, deren Bedeutung ich inzwischen ein wenig aus eigener Erfahrung beurteilen kann: Willy Brandt war von 1964 bis 1987 Parteivorsitzender der SPD, länger als jeder andere Vorsitzende der SPD vor oder nach ihm. Das ist eine sehr lange Zeit in einem solchen Amt - nicht nur nach neueren Maßstäben. Und dieser Zeitraum war zugleich eine Zeit großer Politisierung gewesen, in der wegen Willy Brandt hunderttausende überwiegend junger Menschen in die SPD eintraten. Man kann ohne Übertreibung sagen: Diese Menschen und ihre politischen Hoffnungen und Erwartungen prägen die SPD. Viele derer, die noch heute in der SPD aktiv sind, kamen wegen Willy Brandt zur SPD.

Genauso aber leben wir heute in einem Land, das von Brandt und der SPD nachhaltig verändert und geprägt worden ist. Wir spüren das heute vor allem da, wo uns die Zeit vor Brandt ganz fremd geworden ist und uns heute schon fast skurril anmutet.

Drei große Veränderungen will ich hier noch einmal besonders hervorheben, die mit Willy Brandts politischem Lebenswerk verbunden sind:

- Erstens: Deutschland ist mit Willy Brandt nach 1969 aus dem Schatten des Nationalsozialismus herausgetreten. Es hat mit ihm und durch ihn gelernt, seine Politik bewusst an der Katastrophe des NS-Staates zu messen. Eine Debatte über Kriegsschuld etwa erscheint den meisten Menschen heute ebenso abwegig wie die Idee, Deutschland existiere irgendwie in den Grenzen von 1937 fort. Wer das heute verbreitet, riskiert ärztliche oder zumindest geheimdienstliche Überwachung. Bis weit in die 70er Jahre hielten nicht wenige in der deutschen Politik an diesen nationalistischen Fiktionen fest. Und dass der 8. Mai 1945 nicht nur für die Welt, sondern auch für uns Deutsche ein Tag der Befreiung war, ist eigentlich erst seit der mutigen und befreienden Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizäcker im Jahr zum politischen Allgemeingut geworden.

- Zweitens: Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Demokratie in Deutschland heute viel tiefer wurzelt als vor 1969. Partizipation auf allen Ebenen ist gesellschaftlicher Alltag geworden. Heute erleben Menschen Demokratie nicht nur an der Wahlurne.

- Drittens: Deutschland ist ein guter Nachbar in Europa geworden. Seit dem Beginn der neuen Ostpolitik 1969 ist der alte nationalistische Traum von einem deutschen Sonderweg in Europa beendet. Das erst hat den Weg zur deutschen Einheit geebnet.

Bei jedem dieser drei großen Schritte zu einem demokratischeren, moderneren und friedlicheren Deutschland hat Willy Brandt Entscheidendes beigetragen!

Ich denke, es ist keine Übertreibung, Willy Brandts Regierungszeit als eine politische und gesellschaftliche Neubegründung der Bundesrepublik zu bezeichnen.


Willy Brandt verkörperte das andere Deutschland

Es ist sicher richtig, dass die SPD unter Brandts Führung in den sechziger Jahren nicht den Protest und die weit verbreitete Aufbruchsstimmung erzeugt hat. Das alles gab es weltweit. Aber in Deutschland kam etwas Besonderes dazu.

Die Wurzeln für den Protest in Deutschland liegen woanders - nicht zuletzt in der unverarbeiteten NS-Vergangenheit West-Deutschlands, wo ehemalige Nazis weitgehend unbehelligt in führenden Positionen sitzen konnten. Das ist aus heutiger Sicht für manchen schwer nachzuvollziehen, der oder die nur die intensive Debatte über den Nationalsozialismus seit den 70er Jahren kennt. Wir leben heute in einem Land, das aus seiner Vergangenheit gelernt hat. Viele hier im Raum werden sich noch gut erinnern, dass es für junge Leute in der Nachkriegszeit zunehmend schwerer zu ertragen war, dass die größten Verbrechen bis in die 70er Jahre unerklärt und ungeklärt blieben. Stattdessen schwieg die Generation der Täter und Mitläufer eisern. Sie verschanzte sich vor den Protesten der 60er hinter einer Mauer des Schweigens oder hinter ein paar leeren Floskeln des Bedauerns.

Übrigens schwiegen auch die schwer traumatisierten Opfer des Nationalsozialismus oft genug. Wenn man sich die Anfeindungen angeblich aufrechter ehemaliger Frontsoldaten gegen den Exilanten Brandt ansieht, dann kennt man zumindest einen Grund dafür, warum die Opfer damals still blieben in Deutschland.

Ich will hier einmal an die widerliche Frage erinnern, die Franz-Josef Strauß 1961 im Bierzelt an Willy Brandt richtete. Die lautete: "Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben."

Willy Brandt hat das schwer getroffen. Er hatte nach 1933 sein Leben riskiert im Kampf gegen den Verbrecher Hitler und musste sich nun immer wieder Vaterlandsverrat und Schlimmeres vorwerfen lassen. Brandt blieb zeitlebens unsicher, wie er mit dieser unbelehrbaren Selbstgerechtigkeit von Gefolgsleuten eines Verbrechers in einem falschen Krieg umgehen sollte. Der eine oder andere unter Ihnen wird sich erinnern: Für alle, die den Nationalsozialismus nicht erlebt hatten, war es schwer erträglich, dass jemand wie der Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler werden konnte. Kiesinger war von 1933 bis 1945 Mitglied und Mitläufer in der NSDAP. Auch er schwieg auch später dazu, wie so viele!

In diesem Muff verkörperte der Nazigegner Brandt und die SPD das andere Deutschland. Es war das Deutschland, das sich gewehrt hatte. Das Deutschland, das an Menschlichkeit, Demokratie und Freiheit festhalten wollte. Das Deutschland, das sich "zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes?, zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus" bekannte - diese Werte hatte Otto Wels in seiner Rede gegen das Ermächtigungsgesetz Hitler entgegengesetzt.

Und wenn heute manchmal wieder zwischen Sozialdemokratie und Konservativen und Liberalen der Begriff "bürgerlich" zum politischen Kampfbegriff wird, können Sozialdemokraten mit großen Stolz darauf verweisen, dass sie es waren, die 1933 die erste bürgerliche Demokratie zum Teil mit ihrem Leben und ihrer Freiheit verteidigten und die zweite vor allem mit und durch Willy Brandt aus der Erstarrung und Konfrontation herauslösten und zu ihr einen lebendigen und selbstbewussten Verfasstheit verhalfen.


Die Neue Ostpolitik Brandts: Ein Bruch mit der Vergangenheit

Vieles, das Brandt in den nachfolgenden Jahren anpackte, hat mit dem Willen eines wachsenden Teils der Deutschen zu tun, sich endlich mit den nationalsozialistischen Verbrechen und ihren Folgen für Europa auseinanderzusetzen.

In der Ostpolitik ging die sozial-liberale Bundesregierung auf die Nachbarn im Osten zu, die schwer unter deutscher Besatzung und dem Vernichtungskrieg der Nazis schwer gelitten haben: allen voran Polen, die damalige Tschechoslowakei und die Sowjetunion. Die Neue Ostpolitik von Willy Brandts Regierung folgte einer Strategie des Wandels durch Annäherung gegen heftigen innenpolitischen Widerstand. Sie schuf mit den Ostverträgen die Basis für eine Normalisierung der Beziehungen mit den Nachbarn im Osten.

Mehr noch: Willy Brandt schuf ein Symbol für die Abkehr Deutschlands vom Vergessen und Verdrängen. Am Tage der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages 1970 fiel er vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos auf die Knie. Erst diese demütige Geste des Nazi-Gegners Brandt wurde zum Symbol eines Neubeginns des demokratischen Deutschland. In der Tat eines anderen Deutschland!

Obwohl diese Geste das Bekenntnis der Schuld durch einen Unschuldigen war, war sie zugleich das Symbol des Wandels Westdeutschlands vom Außenseiter europäischer Politik zu einem Volk der guten Nachbarn. Ich erinnere daran, dass der Friedensnobelpreis, den Willy Brandt 1971 erhielt, diesen Neubeginn honoriert. Denn die Entspannungspolitik war keine innerdeutsche Angelegenheit, und niemand wusste das besser als Willy Brandt.

Aus heutiger Sicht wissen wir, dass die moralische Anerkennung der deutschen Schuld und die endgültige Abkehr vom Nationalismus den Weg zur friedlichen und vor allem demokratischen - und eben nicht nationalen - Vereinigung von 1990 geebnet haben. Ohne den Kniefall von Warschau, und ohne die moralische Anerkennung der Nachkriegsordnung mit ihren Grenzen wären die Nachbarn im Osten wie im Westen nicht bereit gewesen, der Vereinigung 1990 zuzustimmen.

Nochmals zur Erinnerung: Heute kann man es kaum noch nachvollziehen. Aber die Politik des Wandels durch Annäherung ist nach 1969 auf einen erbitterten Widerstand gestoßen.

Die auch von Konservativen unterstützte und wohl eher als rechtsradikal zu bezeichnende Aktion "Widerstand" gegen die Ostpolitik Brandts, konnte damals den Spruch öffentlich plakatieren: "Heute wissen wir's genau, Frahm heißt die Verrätersau."

Aber spätestens seit dem großen Wahlsieg von 1972 ist in Deutschland klar: Statt einer Politik der Stärke wollen die Deutschen Kooperation und Verhandlungen als Instrumente einer neuen europäischen Friedenspolitik. Wir wissen heute: Sie haben das 1972 ein für allemal entschieden. Ich bin davon überzeugt, dass die Neue Ostpolitik uns ein bleibendes Erbe hinterlassen hat. Der Erfolg von Willy Brandts Ostpolitik hat in der politischen Kultur Deutschlands dauerhaft verankert, dass der Frieden in Europa nur durch Verständigung, und nicht durch politische oder militärische Stärke zu sichern ist. Willy Brandt verfolgte erfolgreich deutsche Interessen auf eine aufgeklärte, pragmatische Weise, frei von der katastrophal gescheiterten nationalistischen Hybris.

Ich sage mit Blick auf die deutsche Haltung in der Eurokrise: Es ist gut, sich an diese historischen Wendemarke gelegentlich zu erinnern!

Es ist nicht einer deutschen Politik der Stärke zu verdanken, dass wir in Freundschaft mit unseren Nachbarn leben. Deutschlands Stärke in Europa basiert darauf, dass es keine Sonderwege mehr gehen will. Keine militärischen aber auch keine ökonomischen. Es ist bereits wirtschaftlich kurzsichtig, wenn Deutschland sich nicht um seine Nachbarn in Europa kümmert. Aber sowenig die ökonomischen Interessen Deutschlands eine Abkehr vor Europa begründen dürften, so wenig darf die Exportabhängigkeit Deutschlands zur alles bestimmenden Größe und Begründung unseres europäischen Engagements werden. Deutschland als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land auf dem Kontinent hat eine Verantwortung, die weit über die wirtschaftlichen Interessen hinaus geht.

Es ist verantwortlich dafür, dass nie wieder die Zentrifugalkräfte in Europa zunehmen, weil sich das Zentrum Europas indifferent oder gar ignorant gegenüber seinen Nachbarn verhält.

Es ist verantwortlich dafür, dass Europa ein Ort der Verhandlungen, der Kompromisssuche und der gemeinsamen Entscheidungen bleibt. Und nie wieder der Eindruck entsteht, der richtige Weg zur Durchsetzung eigener politischer Vorstellungen sei die einseitige Ausübung von Stärke und Macht - auch dann nicht, wenn sie unter dem Deckmantel des scheinbar finanziell und wirtschaftlich "Alternativlosen" daherkommt.

Weniges widerspricht dieser Verantwortung so sehr, wie der fatale Versuch, innenpolitisch Zustimmung dadurch zu erhalten, in dem man öffentlich das Ziel ausgibt, Europa müsse endlich lernen "deutsch zu sprechen". Oft wird in diesen Monaten von der Aufgabe nationaler Souveränität gesprochen, wenn wir den Euro und die EU erhalten wollen.

Was richtig ist: dass wir keine gemeinsame Währung erhalten können, wenn wir nicht bereit sind, zentrale Entscheidungen über unsere Finanz- Wirtschafts- und Sozialpolitik gemeinsam und verbindlich in Europa zu treffen und zu kontrollieren. Demokratisch legitimiert durch ein Europäisches Parlament und mit einer durch dieses Parlament gewählten europäischen Regierung. Dafür allerdings den Begriff "Souveränitätsverlust" zu benutzen, ist falsch. Im Gegenteil: In der Welt von heute und morgen, ist dies der einzige Weg, um Souveränität für die Völker und Nationen in Europa zu behalten. Worum es eigentlich geht, ist der Verzicht auf Autonomie, die wir aber in Wahrheit ohnehin verlieren werden, denn die Welt ändert sich schnell und dramatisch. Die Globalisierung ist eben nicht nur eine wirtschaftliche, sondern sie verschiebt auch die politischen Schwerpunkte auf unserem Globus. Wenn wir zusehen und glauben, wir könnten durch unsere heute noch bestehende ökonomische Stärke, auch in der Welt von morgen unsere Bedeutung behalten, werden wir schnell das Gegenteil erleben. Der Verlust an Autonomie wird schneller kommen, als er uns lieb ist, und durch Anpassungsdruck ersetzt. Und er wird am Ende auch den Verlust der demokratischen und politischen Souveränität zur Folge haben.

In Wahrheit lassen sich nationale - auch deutsche - Interessen nur noch mit und in der europäischen Zusammenarbeit verwirklichen. Und nationale Souveränität in einer globalisierten Welt, in der die Völker Europas an Zahl, wirtschaftlichem Gewicht und politischem Einfluß verlieren, lässt sich nur erhalten, wenn wir nationale Autonomie willentlich und gezielt zu Gunsten einer europäischen Selbstbestimmung aufgeben.

Das - und nicht die aktuell vorherrschende Ziellosigkeit der europäischen Politik - ist das politische Erbe Willy Brandts. Und deshalb wird die SPD sich für diesen Weg weiter engagiert einsetzen.


Willy Brandt hat mehr Demokratie gewagt

Willy Brandt und den Sozialdemokraten ist es in den 60ern und 70er Jahren gelungen, vielen Menschen das Gefühl zu geben, mitmachen zu können. Etwas bewirken zu können. Das war ein bewusstes Angebot zur demokratischen Teilhabe in allen Lebensbereichen, das Willy Brandt mit dem berühmten Motto überschrieben hat: "Mehr Demokratie wagen"! Wir können auch 43 Jahre später von diesem Motto einiges lernen.

Willy Brandt hat die Republik politisiert mit der Diskussion über Reformpolitik. Er hat damit wirklich "mehr Demokratie gewagt". Dieses Wagnis hat er in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 gleich zu Beginn und dann noch mal am Schluss angekündigt. Diese Regierungserklärung hat eine große Debatte in Westdeutschland eröffnet. Brandt sagte darin: "Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn werden im Innern und nach außen." Ein Volk guter Nachbarn. Auch im Innern! Es wurde in der Folgezeit in Deutschland heftig darüber diskutiert, wie man zusammenleben wollte:

- Wollen wir Demokratie auch in den Betrieben, den Schulen und den Hochschulen leben? Oder bleibt die Demokratie dem politischen Leben vorbehalten, und an den Werkstoren oder dem Eingang der Uni endet der demokratische Sektor?

- Wollen wir, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft die gleiche Chance haben, aus sich etwas zu machen? Oder betreiben wir eine Bildungspolitik, die von dem Gedanken ausgeht, dass alle Menschen ohnehin ungleich sind, und wir sie deshalb in den Schulen früh nach ihren Talenten sortieren müssen?

- Wollen wir, dass Menschen im Gefängnis sozialisiert und damit auf ein Leben ohne Verbrechen vorbereitet werden sollen? Oder wollen wir Kriminelle bestrafen, damit Rache an ihnen verübt wird?

- Wollen wir aktiv die Gleichheit von Männern und Frauen fördern, oder geben wir uns mit formaler Gleichheit zufrieden?

- Wollen wir einen Sozialstaat, der sich am Menschenrecht auf ein Leben in Würde und am Bürgerrecht auf Teilhabe an der Gesellschaft orientiert? Oder wollen wir einen Sozialstaat, der nur die ärgste Not lindert?

Die Antworten der sozial-liberalen Koalition auf diese Fragen sind Gesetz und Realität geworden.


Die SPD schmiedet ein neues Reformbündnis

Aber Sie sehen auch: Diese Fragen stellen sich auch heute, zwanzig Jahre nach seinem Tod und mehr als vierzig Jahre nach Willy Brandts erster Regierungserklärung. Manche davon haben wir Sozialdemokraten für beantwortet gehalten.

Willy Brandt wusste selbst gut, dass einmal Erkämpftes immer wieder behauptet werden muss. Das ließ er den Delegierten der Sozialistischen Internationalen im September 1992 - selbst schon schwer erkrankt - durch Hans-Jochen Vogel ausrichten. Ich zitiere: "Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer." Das bestätigt auch der Rückblick auf die Reformpolitik Brandts. Zwanzig Jahre neoliberale Hegemonie haben manches davon in Frage gestellt oder zurückgedreht.

Die letzten Jahrzehnte sind durch etwas ganz anderes geprägt worden und werden es immer noch: Statt öffentlicher Debatten darüber, wie wir zusammen leben wollen, haben uns die Ökonomen und selbst ernannte Welterklärer nämlich gesagt, wie wir angeblich leben MÜSSEN. Die Globalisierung war dabei immer die Ausrede, um die angeblichen Alternativlosigkeiten als "WIR MÜSSEN" hinzunehmen. So als sei die Globalisierung und Europäisierung so ähnlich wie das Wetter von morgen und durch Menschenhand nicht beeinflussbar. Das Gegenteil ist richtig. Und deshalb geht es auch heute wieder um politische Emanzipation und demokratische Selbstbestimmung.

Dabei geht es vor allem darum, die Gestaltungsfähigkeit demokratisch gewählter Regierungen und Parlamente zurück zu erobern. Nichts ist gefährlicher als der Eindruck, "Geld regiere die Welt". Den Finanzmärkten wieder Fesseln anzulegen, sie zu bändigen, ist mehr als ein technokratisches Projekt zur Verhinderung weiterer Finanzkrisen. Das allein wäre zwar schon Grund genug, aber es geht um weit mehr.

Die Demokratie und besonders die Sozialdemokratie lebt vom Hoffnungsüberschuss bei den Menschen. Heute erleben wir eher einen Fatalismusüberschuss. Und nichts ist gefährlicher für die Demokratie und auch hier wieder besonders für die Sozialdemokratie, als die Vermutung, demokratisches Engagement lohne sich sowieso nicht. Das ist das wohl schwierigste Erbe des Neoliberalismus. Wenn Menschen aber wieder an die Veränderbarkeit des Lebens glauben und dass sich Engagement lohnt, muss einem um die Demokratie auch im Internetzeitalter nicht bange sein.

Deshalb werden wir im kommenden Jahr bei der Bundestagswahl für unsere Idee der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, für die Bändigung der Märkte und für die Wiederherstellung eines sozialen Gleichgewichts in unserem Land und Europa kämpfen.

Die letzte Rede Willy Brandts vor der Sozialistischen Internationale ist auch dafür eine gute Leitlinie: "Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, daß jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll."

Willy Brandt wusste genau, worin die Kraft der Sozialdemokratie lag: Er selbst hat die Politisierung Deutschlands aktiv umgemünzt in starke demokratische Unterstützung. Er hat mit den Stimmen der Wähler die Bundesrepublik verändert! Er hat mit den Wählerinnen und Wählern Gutes bewirkt. Er hat sich nicht einer vermeintlichen "politischen Mitte" angepasst oder ist ihr hinterher gelaufen, sondern er hat mit seinen Überzeugungen um sie gekämpft und sie gewonnen. Brandt wusste: Wo andere über die Macht des Geldes oder der Waffen verfügen mögen, können Sozialdemokraten auf die Stärke der Vielen setzen! Der Vielen, deren Stimme ohne Solidarität und Demokratie nicht zu hören wäre.

Die Rolle der SPD dabei beschreibt er so:
"Sie ist in meinem Verständnis in der politischen Geographie die große linke Volkspartei?, die nach Möglichkeit (die) Strömungen der sozialen Demokratie, des demokratischen Sozialismus, in sich verarbeiten muß ... Bindendes Element ist die Überzeugung, daß soziale Fortschritte und Veränderungen nur in Freiheit und in strikter Treue zum demokratischen Rechtsstaat vollzogen werden können ..."

Dem ist - auch von heute aus betrachtet - nichts hinzuzufügen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 339/12 vom 8. Oktober 2012
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
Bürgerbüro, Willy-Brandt-Haus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2012