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BADEN-WÜRTTEMBERG/1057: NSU-Untersuchungsausschuss gibt Ergebnisse seiner Arbeit bekannt (LBW)


Landtag von Baden-Württemberg - Pressemitteilung 130/2018

Untersuchungen abgeschlossen

NSU-Untersuchungsausschuss gibt Ergebnisse seiner Arbeit bekannt


Stuttgart. Der Untersuchungsausschuss "Rechtsterrorismus/NSU BW II" hat seine Arbeit abgeschlossen. Am Montag, 3. Dezember 2018, haben der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler MdL (SPD) und die Obleute aller fünf Fraktionen auf einer Pressekonferenz die Erkenntnisse bekanntgegeben, die seit Einsetzung des Gremiums im Juli 2016 in 28 Sitzungen gewonnen wurden. Obwohl die Bewertung des festgestellten Sachverhaltes und die Beschlussempfehlung des Untersuchungsausschusses einstimmig verabschiedet wurden, haben die Ausschussmitglieder der AfD-Fraktion zugleich eine abweichende Bewertung und Beschlussempfehlung eingebracht. Der rund 1.100 Seiten starke Abschlussbericht wird nebst einem Anlagenband sowie einem als Verschlusssache "Nur für den Dienstgebrauch" eingestuften weiteren Band dem Landtag vorgelegt, der sich am 20. Dezember 2018 im Plenum mit der Aufklärungsarbeit befassen wird, so Drexler.

Aufgabe des auf Antrag der Fraktionen GRÜNE, CDU, SPD und FDP/DVP eingesetzten Ausschusses war es laut Drexler, auf Grundlage der Ergebnisse des Vorgängergremiums Fragestellungen zu beleuchten, die in der vergangenen Wahlperiode aus Zeitgründen oder wegen tatsächlicher oder rechtlicher Hindernisse nicht bzw. nicht zufriedenstellend aufgeklärt werden konnten; außerdem solche, bei denen aufgrund neuer Erkenntnisse oder Beweismittel eine weitergehende Aufklärung nunmehr möglich und erforderlich erschien.


12 Fragenkomplexe

Konkret bestand der Untersuchungsauftrag nach Angaben des Vorsitzenden aus zwölf Fragenkomplexen. Untersucht werden sollte etwa, welche Verbindungen zwischen Mitgliedern der Terrorgruppe NSU und ihren Unterstützern zu Personen, Organisationen und Einrichtungen des rechtsextremen/rechtsradikalen Spektrums in Baden-Württemberg bestanden haben. In diesem Zusammenhang sollte namentlich die Rolle rechtsextremer Musikgruppen und Musikvertriebsstrukturen berücksichtigt werden, des Weiteren von bestimmten Treffpunkten, von Rockergruppierungen und Organisierter Kriminalität sowie des Ku-Klux-Klan. Im Mittelpunkt der Aufklärungsarbeit stand zudem die Frage, inwiefern sich NSU-Mitglieder und Unterstützer in Baden-Württemberg aufgehalten und Straftaten begangen haben, ob bzw. wie Personen aus Baden-Württemberg hieran beteiligt gewesen sind, und ob der NSU weitere Anschläge im Südwesten geplant oder ausgeführt hat. Zum weiteren Schwerpunkt hat sich laut Drexler die Frage entwickelt, ob Angehörige von ausländischen Sicherheitsbehörden am 25. April 2007 auf oder in der Umgebung der Heilbronner Theresienwiese, dem Ort des Anschlags auf die Polizeibeamten M. K. und M. A., anwesend gewesen sind, bejahendenfalls welche Rolle sie beim Tatgeschehen gespielt und welche Erkenntnisse dazu bei den deutschen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden vorgelegen haben.

Besonderes Augenmerk sollte der Untersuchungsausschuss auf die Arbeit der baden-württembergischen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden in Bezug auf den NSU und etwaige Fehler und Versäumnisse legen. Untersuchungsgegenstand war dabei, welche Erkenntnisse die Behörden hatten oder hätten haben müssen, ob bzw. welche Konsequenzen gezogen wurden, und wie sich die Zusammenarbeit mit Behörden des Bundes und anderer Länder bzw. Staaten gestaltet hat. Insoweit sollte auch der Zugang in entsprechende Strukturen mittels "Quellen" (V-Leute) untersucht werden, des Weiteren, inwiefern und auf welcher Rechtsgrundlage nach dem Aufdecken des NSU Akten mit erkennbarem Bezug zum Untersuchungsgegenstand vernichtet wurden.


Statistik: 158 Beweisbeschlüsse gefasst

Wie Drexler weiter mitteilte, fasste der Untersuchungsausschuss insgesamt 158 Beweisbeschlüsse. Zu deren Abarbeitung hielt das Gremium 28 Sitzungen ab. Hiervon fanden 24 öffentlich statt, wobei in 21 Sitzungen Zeugen sowie Sachverständige befragt und in den weiteren drei lediglich Urkunden eingeführt wurden; die vier verbleibenden Sitzungen dienten allein nichtöffentlichen Ausschussberatungen. In zusammengenommen 121 Stunden vernahm der Ausschuss 78 Zeugen - manche davon mehrfach - sowie sechs Sachverständige. Aufgrund bestehender Auskunftsverweigerungsrechte sah der Untersuchungsausschuss davon ab, weitere Personen aus dem Kreis der im Münchener NSU-Verfahren Angeklagten bzw. in anhängigen Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts Beschuldigten zu laden. Die vom Untersuchungsausschuss der vergangenen Wahlperiode beigezogenen mehr als 600 Aktenordner sind zwischenzeitlich auf rund 1.300 angewachsen, was 60 Regalmetern entspricht. Hinzu kommen noch einige Tausend Seiten digitale Akten. Die Unterlagen stammen im Wesentlichen von staatlichen Stellen, nämlich vom Deutschen Bundestag und von Länderparlamenten, von Ministerien des Bundes und der Länder, von Gerichten wie dem Bundesgerichtshof und dem Oberlandesgericht München, von der Bundesanwaltschaft und Staatsanwaltschaften der Länder, vom Bundesamt und von Landesämtern für Verfassungsschutz, sowie von Polizeibehörden wie dem Bundeskriminalamt und Landeskriminalämtern. In einigen Fällen war der Beiziehung die Sichtung des bei den jeweiligen Stellen vorhandenen umfangreichen Aktenbestandes auf Relevanz für den Untersuchungsgegenstand vorausgegangen. Wie bereits im Vorgängerausschuss wurde hiermit der Rechtsanwalt Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg betraut, der die bedeutsamen Aktenteile herausarbeitete, worauf sie vom Ausschuss angefordert wurden. Während dieser in der vergangenen Wahlperiode als sogenannter "Sondersachverständiger" tätig gewesen war, hatte eine vom Vorgängergremium vorgeschlagene Änderung des Untersuchungsausschussgesetzes es möglich gemacht, ihn - entsprechen der Regelung im Untersuchungsausschussrecht des Deutschen Bundestages - als "Ermittlungsbeauftragten" einzusetzen, wie Drexler betonte.

Die Kosten des Untersuchungsverfahrens belaufen sich auf ca. 2,4 Millionen Euro.


Strafanzeige gegen Zeugen

Gegen drei Zeugen hat der Ausschuss Strafanzeige wegen Verdachtes der uneidlichen Falschaussage erstattet. Während zwei der hierauf eingeleiteten Verfahren mittlerweile dem Amtsgericht - Strafrichter - Stuttgart zur Verhandlung vorliegen, wurde ein weiteres von der Staatsanwaltschaft Stuttgart vorläufig eingestellt und dem betroffenen Zeugen zur Auflage gemacht, eine Geldauflage von 1.000 Euro zu bezahlen. Ferner wurde gegenüber sechs Zeugen, die auf Ladungen nicht erschienen waren bzw. Angaben zur Sache verweigert hatten, jeweils Antrag auf gerichtliche Verhängung eines Ordnungsgeldes gestellt. In zwei Fällen wurde ein solches angeordnet und in der Folge bezahlt. In einem weiteren Fall - betreffend den Zeugen Rechtsanwalt S. H. - wurde in erster und am 26. November 2018 in zweiter Instanz entschieden, dass dieser das Zeugnis ohne gesetzlichen Grund im Rahmen seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss verweigerte und die Anordnung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 1.000 Euro unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache verhältnismäßig sei. In den übrigen Fällen wurden jeweils aufgrund nachträglichen Entschuldigungsvorbringens die Anträge wieder zurückgenommen bzw. die bereits ergangene Ordnungsgeldanordnung wieder aufgehoben.


Feststellung des Vorgängergremiums bestätigt

In der Sache bekräftigt der Ausschuss in seinem einstimmig verabschiedeten Abschlussbericht - auch unter Hinweis auf das Urteil im NSU-Strafverfahren vor dem Münchener Oberlandesgericht - die schon vom Vorgängergremium getroffene Feststellung, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als unmittelbare Täter für den Mordanschlag auf der Heilbronner Theresienwiese verantwortlich seien. Zudem handele es sich bei Beate Zschäpe um deren Mittäterin. Obschon es einzelne, teils erhebliche Ermittlungsfehler gegeben habe, seien Anhaltspunkte, die klare Rückschlüsse auf die NSU-Täterschaft schon vor dessen Bekanntwerden zugelassen hätten, nicht festzustellen gewesen.


13 Zeugen zur Rolle ausländischer Sicherheitsdienste

Soweit der Vorgängerausschuss die mögliche Rolle ausländischer Sicherheitsdienste zunächst nicht abschließend habe bewerten können, sei der aktuelle Untersuchungsausschuss dieser Frage nunmehr umfassend auf den Grund gegangen; zu dem Komplex seien allein 13 Zeugen vernommen worden. Dabei sei das Gremium zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei dem im Artikel des Magazins "stern" vom 1. Dezember 2011 ("Mord unter den Augen des Gesetzes?") angeführten Observationsprotokoll um eine Fälschung handele. Es sei widerlegt, dass eine derartige Observation stattgefunden habe und dass zu jener Zeit bei der Heilbronner Filiale der Santander-Bank eine Einzahlung von 2,3 Millionen Euro vorgenommen worden sei. Des Weiteren sei ein Zusammenhang zwischen einer US-Terrorwarnung bzw. dem polizeilichen "Rahmenbefehl Nr. 10" einerseits und dem Polizeieinsatz "Sichere City" am 25. April 2007 in Heilbronn andererseits, an welchem die Anschlagsopfer teilgenommen hätten, ausgeschlossen. Ferner sei Heilbronn kein Schwerpunkt radikaler Islamisten gewesen und seien in Ansehung eines am Anschlagstag "geblitzten" US-Militärangehörigen Anhaltspunkte für einen Tatzusammenhang nicht ansatzweise erkennbar.

Maßgeblicher Ausgangspunkt für das Tätigwerden deutscher Stellen zum Thema "Anwesenheit von Nachrichtendiensten auf der Theresienwiese" sei der besagte "stern"-Artikel vom 1. Dezember 2011 gewesen. Da sich die darin behaupteten Indizien als falsch herausgestellt hätten, breche jede darauf aufbauende Argumentation in sich zusammen. Die sich anschließenden Rechercheaktivitäten der Sicherheitsbehörden hätten demgemäß nichts herausfinden können und könnten erst recht nicht als Beweis für eine Anwesenheit von Geheimdiensten herhalten.


Ausschuss schließt FBI-Anwesenheit aus

Während im "stern"-Artikel vom 1. Dezember 2011 eine Operation des US-Dienstes "DIA" behauptet worden sei, habe ein weiterer "stern"-Beitrag vom 13. September 2016 ("Aufklärung unerwünscht?") die Frage aufgeworfen, ob zwei FBI-Mitarbeiter am Tattag in Heilbronn gewesen seien. Indes schließe der Untersuchungsausschuss eine Anwesenheit des FBI am Tatort aus. Insofern habe das FBI mit Schreiben vom 12. Oktober 2012 - ursprünglich Verschlusssache und auf Betreiben des Ausschusses für eine öffentliche Verwendung ausgestuft - eine solche Anwesenheit ausdrücklich und eindeutig verneint. Soweit sich die Aussage einer Beteiligung von zwei FBI-Agenten in mehreren Fassungen innerhalb der Akten finde, sei dies letztlich zurückzuführen auf eine missverständliche Äußerung des vernommenen Zeugen P. L., ehemals Verbindungsbeamter der US-Geheimdienste in Süddeutschland, dessen entsprechende Angabe jedoch keinerlei Tatsachengrundlage gehabt habe. Demnach habe P. L., der sich nicht eigeninitiativ an die deutschen Stellen gewandt habe, sondern von diesen eingeschaltet worden sei, auch kein offizielles Gespräch zu den Hintergründen angeregt, sondern lediglich angeboten, der von ihm angedeuteten bloßen Möglichkeit eines FBI-Einsatzes weiter nachgehen zu wollen - wobei er sodann keine Rückmeldung mehr gegeben habe. Insgesamt habe der Ausschuss aufgrund seiner umfassenden Beweisaufnahme in diesem Bereich feststellen müssen, dass die Verschriftung in den - teils als Verschlusssache eingestuften - Akten nicht durchweg die tatsächlichen Gegebenheiten wiedergebe und Fehldarstellungen bedauerlicherweise nur teilweise korrigiert worden seien.


Angeregt: Änderung Untersuchungsausschussgesetz

Im Übrigen merkt der Untersuchungsausschuss an, dass sich die Behauptungen zur Anwesenheit von Sicherheitsbehörden aus Anlass einer Überwachung islamistischer Terroristen letztlich auf den Zeugen R. K. zurückführen ließen, der sich als "vollständig unglaubwürdig" erwiesen habe. Mit Blick darauf, dass dieser Zeuge während des laufenden Untersuchungsverfahrens bei der AfD-Fraktion als Parlamentarischer Berater angestellt wurde, plädiert das Gremium in seinen Beschlussempfehlungen für eine Änderung des Untersuchungsausschussgesetzes, mit welcher derart persönlich beteiligte Personen von einer Mitarbeit im Ausschuss künftig ausgeschlossen werden sollen.


Zur Rolle islamistischer Extremisten

In Bezug auf die an das Thema "Anwesenheit ausländischer Sicherheitsdienste" anschließende Frage nach der Rolle islamistischer Extremisten habe der Ausschuss nach ausführlicher Befassung keinen Beleg dafür gefunden, dass die Mitglieder der "Sauerland-Gruppe" bzw. deren Umfeld wie der im besagten "stern"-Artikel vom 1. Dezember 2011 ins Feld geführte M. K. zur Zeit des Heilbronner Mordanschlags am Tatort gewesen seien. Bei dem in einem Fernsehbeitrag aufgeworfenen möglichen Zusammenhang zwischen dem Tatgeschehen und einer Zünderübergabe für die "Sauerland-Gruppe" handele es sich um eine "mediale Blendgranate". Überhaupt findet das Gremium in diesem Kontext deutliche Worte:

"Der eingangs genannte 'stern'-Artikel ist vollumfänglich widerlegt. Spätere Abwandlungen oder neue, darauf basierende Variationen entbehren daher ebenfalls jeder Grundlage.

Der Ausschuss kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier die These der islamistischen Terroristen - gegen den klaren Verlauf der Beweiserhebung - künstlich am Leben erhalten werden soll. Wer Interesse daran haben könnte, eine Zeugen- oder gar Täterschaft von US-Diensten und/oder islamistischen Terroristen zu forcieren, um von der Tatbeteiligung der Rechtsterroristen Mundlos und Böhnhardt abzulenken, kann hier nicht dargelegt werden, da sich der Ausschuss sonst selbst an Spekulationen beteiligen würde.

Der Ausschuss geht weiterhin davon aus, dass es sich um einen Anschlag des NSU gegen die Polizei als Repräsentant des Staates handelte. Diesem Anschlag sind M. K. und M. A. als zufällig auf der Theresienwiese anwesende Polizeibeamte zum Opfer gefallen."


Zeugin Rechtsanwältin R. L.

In diesem Zusammenhang sei auch mehrfach die Rechtsanwältin R. L. vernommen worden, die sich zuvor eigeninitiativ an den Ausschuss gewandt habe. Diese Zeugin habe bekundet, eine Kontaktperson habe ihr Anfang des Jahres 2009 gesagt, dass es sich bei der Frau (dem damaligen "unbekannten weiblichen Phantom") nicht um die Täterin des Polizistenmordes handele, sondern dass es dort um eine Waffenübergabe gegangen sei und dass eine Person dort gewesen sei, die sowohl für den türkischen Geheimdienst MIT als auch für die CIA arbeite, ferner habe sich auch die CIA vor Ort befunden. Die Namhaftmachung dieser Kontaktperson habe die Zeugin anfangs verweigert. Hieran habe sie selbst nach Festsetzung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 1.000 Euro zunächst festgehalten und habe den Namen erst genannt, nachdem der Ausschuss den Beschluss gefasst habe, bei Gericht die Anordnung von Beugehaft zu beantragen. Im Rahmen umfangreicher Abfragen bei allen relevanten Behörden wurde die Auffassung mitgeteilt, dass dieser Kontaktmann namens I. S. vermutlich vor dem 16. März 2013 bei Kampfhandlungen in Syrien zu Tode gekommen sei.


Keine Treffer bei Funkzellenerhebung

Zwei bei den polizeilichen Ermittlungen angefallene "Kreuztreffer", d.h. Anschlussnummern, die man sowohl bei der Funkzellenerhebung zum Tatgeschehen erlangt als auch bei EUROPOL zum Phänomenbereich Islamismus vorgehalten habe, hätten keinem der islamistisch-dschihadistischen Terrorszene zugehörigen Personenkreis zugeordnet werden können. So sei die eine der beiden Nummern im Mobilfunktelefonbuch des Beschuldigten eines eingestellten Ermittlungsverfahrens gefunden worden; sie sei von einem selbst nicht beschuldigten Reisevermittler genutzt worden. Anhaltspunkte für Bezüge zum Mordanschlag auf der Theresienwiese habe der Ausschuss nicht:

"Soweit in einer Veröffentlichung allein aus der Tatsache, dass der Mitarbeiter eines Reisebüros einen türkischen Hintergrund hat, ein Bezug zum Islamismus hergestellt wird (sinngemäß: türkische Reisebüros spielten bei der Reise von Dschihadisten nach Tschetschenien eine Rolle), tritt der Ausschuss dieser Behauptung entgegen. Sie ist klischeebeladen und macht allein den türkischen Migrationshintergrund als Beleg für eine Nähe zu islamistischen Kreisen geltend. Ohne weitergehende belastbare Belege oder Anhaltspunkte verbietet sich eine solche Annahme nicht nur im NSU-Kontext der Morde an türkischstämmigen Migranten, sondern ist auch sonst unseriös und spekulativ."

Die andere, vormals im "Sauerland-Verfahren" erhobene Anschlussnummer wiederum habe der Ausschuss durch eigene Ermittlungen als solche des Außendienstmitarbeiters eines Ulmer Textilunternehmens identifizieren können; bei der Funkzellenauswertung festgestellte Gesprächsverbindungen seien mit einem verarbeitenden Gewerbebetrieb in Schwäbisch Hall geführt worden. Der Anschluss habe sich daher als unverdächtig erwiesen. Allerdings kritisiert es das Gremium - zumal in Anbetracht bestehender Datenlöschungsfristen - als "nicht nachvollziehbar", dass die polizeiliche Auswertung dieser Kreuztreffer für über zwei Jahre zurückgestellt worden sei und auch nach dem November 2011 keine näheren Inhaberermittlungen stattgefunden hätten. Des Weiteren bemängelt der Ausschuss, dass nach Bekanntwerden des NSU kein vollständiger Abgleich der Funkzellendaten mit den Rufnummern aller polizeilich bekannten Rechtsextremisten - zumindest aber derjenigen aus dem Rhein-Neckar-Raum, Heilbronn und Ludwigsburg - durchgeführt worden sei.


Verbindungen des NSU nach Baden-Württemberg

Hinsichtlich der untersuchten Verbindungen des NSU nach Baden-Württemberg habe der Ausschuss die Überzeugung gewinnen können, dass das sogenannte Trio in den 1990er-Jahren eine Freundschaft mit Personen der rechtsextremen Szene in Ludwigsburg begründet habe, die Grundlage für wechselseitige Besuche gewesen sei. So habe sich Mundlos noch im Jahre 2001 - nach der ersten Mordtat des NSU - in Ludwigsburg aufgehalten. Hingegen seien keine konkreten Unterstützungshandlungen seitens der Ludwigsburger Rechtsextremisten für die Taten des NSU festzustellen gewesen. Auch bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass der NSU vor oder nach dem Heilbronner Mordanschlag Freunde oder Unterstützer in Ludwigsburg besucht habe. Soweit das Gremium eine potenzielle Waffenbeschaffung für den NSU durch den ehemals in der rechtsextremen Szene in Ludwigsburg verkehrenden Zeugen J. P. näher beleuchtet habe, stehe zwar fest, dass es ein Waffengeschäft zwischen J. P. und dem weiteren Zeugen S. R. aus Thüringen gegeben habe. Jedoch sei nicht erweislich, dass die betreffende Pistole in die Hände des NSU-Trios gelangt sei.


Rechtsextremistische Szene in Heilbronn

Vor dem Hintergrund der dortigen Tatörtlichkeit habe man sich intensiv mit der rechtsextremistischen Szene in Heilbronn beschäftigt, die in den untersuchungsrelevanten Jahren von 1990 bis 2011 aktiv und gut vernetzt gewesen sei. Aus dieser hätten "Kennverhältnisse" zu Personen aus dem Umfeld des Trios bestanden. Belege dafür, dass Personen aus Heilbronn dem NSU oder dessen Umfeld Unterstützungshandlungen geleistet hätten, habe man zwar nicht gefunden; allerdings sei dies auch nicht auszuschließen. Wenngleich ein in der Zwickauer Wohnung des Trios gefundener Stadtplan von Heilbronn ein Indiz dafür sei, dass Interesse an dieser Stadt bestanden habe, sei nicht nachzuweisen, dass sich das Trio vor dem Tattag in Heilbronn aufgehalten habe. Weil die Stelle des Anschlagsortes auf dem Stadtplan verbrannt gewesen sei, könne man keine Aussage treffen, ob dort mit Blick auf die Tatbegehung etwas markiert gewesen sei.

Wie bereits das Vorgängergremium habe sich der Ausschuss der Frage gewidmet, ob die Rückfahrt vom Tatort Mundlos und Böhnhardt über den Rems-Murr-Kreis geführt habe, insbesondere ob ein Zwischenhalt bei dem damals in Remshalden wohnhaften A. G. eingelegt worden sei, dem Gitarristen der lokalen Rechtsrockband "Noie Werte", der vormals in Chemnitz im selben Haus wie das Trio gewohnt habe. Hinweise für eine solche Fahrtroute hätten indes nicht vorgelegen.


Belege für Aufenthalt in Stuttgart

Demgegenüber bestünden Belege für einen Aufenthalt von Mundlos und Böhnhardt im Juni 2003 in Stuttgart, wahrscheinlich zum Zwecke der Ausspähung potentieller Anschlagsziele. Gefundene Bilddateien zeigten die Nordbahnhofstraße, wo sich viele Geschäfte türkischer, griechischer und italienischer Migranten befänden. Konkrete Anhaltspunkte für örtliche Unterstützer hätten jedoch nicht festgestellt werden können. Überhaupt habe der Ausschuss keine Belege gefunden, dass der NSU in Baden-Württemberg weitere Anschläge geplant oder begangen habe.


Zum Teil Bezüge zum NSU

Soweit rechtsextremistische Organisationen und andere in Baden-Württemberg vorhandene Strukturen untersucht worden seien, hätten sich zum Teil Bezüge zum NSU gezeigt. So habe man mehrere von der "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG)" vermittelte Briefkontakte der NSU-Mitglieder festgestellt. Auch sei der NSU-Unterstützer R. W. zeitweise als Ansprechpartner für die Homepage des "Aktionsbüro Rhein-Neckar" genannt worden - wobei es darüber hinaus keine Hinweise dafür gebe, dass Akteure des "Aktionsbüros Rhein-Neckar" Mittäter oder Unterstützer des NSU gewesen seien. In Ansehung weiterer Vereinigungen (NPD, "Kreuzritter für Deutschland", "Autonome Nationalisten Backnang", "Europa-Burschenschaft Arminia Zürich zu Heidelberg/Karlsruhe", "Kameradschaft Karlsruhe", "Kameradschaft Rastatt", "Hammerskins" sowie "Furchtlos & Treu") habe der Ausschuss hingegen keine Hinweise auf unmittelbare NSU-Kontakte bzw. - Unterstützungsleistungen gefunden. Zu Rockergruppierungen und der Organisierten Kriminalität gebe es zwar durchaus personelle und inhaltliche Überschneidungen. So seien zwischen 2001 und 2008 Clubheime des MC "Bandidos" für rechtsextremistische Konzerte genutzt worden, was für die Rocker jedoch kommerzielle Gründe gehabt habe. Gemeinsame Strukturen im Sinne fester Kooperationen habe der Ausschuss nicht feststellen können.

Wesentliche, über die Ergebnisse des Vorgängerausschusses hinausgehende Erkenntnisse zum Themenkomplex "Ku-Klux-Klan" seien nicht zu gewinnen gewesen, was nicht zuletzt an der mangelnden Kooperationsbereitschaft des einstigen Klan-Funktionärs A. S. gelegen habe, der sich in den USA aufhalte und trotz intensiver Bemühungen nicht als Zeuge zu vernehmen gewesen sei. Jedenfalls erhärte sich der Eindruck, dass der Klan in Deutschland nie richtig habe Fuß fassen können.


Befassung mit rechtsextremistischer Musikszene

Im Bereich der rechtsextremistischen Musikszene habe sich der Untersuchungsausschuss namentlich mit der im Jahre 2000 verbotenen Organisation "Blood & Honour", die insofern das wichtigste internationale Netzwerk gewesen sei und einen Tätigkeitsschwerpunkt in Baden-Württemberg gehabt habe, sowie der 1987 in Esslingen gegründeten und 2010 von ihren Mitgliedern aufgelösten Rechtsrockband "Noie Werte" befasst. Titel dieser Gruppe hätten sich auf einer frühen Version des NSU-Bekennervideos gefunden. Während die ehemaligen Mitglieder O. H. und A. G. als Zeugen vernommen worden seien, habe der frühere Frontmann S. H. unter Berufung auf ein angeblich umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht, welches ihm aus anwaltlicher Tätigkeit im NSU-Strafverfahren vor dem Münchener Oberlandesgericht zustehe, vor dem Untersuchungsausschuss die Aussage zur Sache verweigert. Diese Auffassung habe das Gremium nicht geteilt und sei in seiner Einschätzung vom Amtsgericht Stuttgart in einem daraufhin angestrengten gerichtlichen Ordnungsgeldverfahren bestätigt worden. Weil gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt worden sei, habe man den Zeugen bis zum Schluss der Beweisaufnahme nicht mehr vernommen. Mit Beschluss vom 26. November 2018 stimmte auch das Landgericht Stuttgart der Rechtsauffassung des Ausschusses und des Amtsgerichts Stuttgart zu und verwarf die Beschwerde des Rechtsanwalts S. H. Dessen ungeachtet habe der Untersuchungsausschuss - durch den Sachverständigen J. R., durch Aussteiger aus der (Musik-)Szene sowie durch weitere Zeugen mit vormaligem oder fortdauerndem Bezug zum Rechtsextremismus - tiefgehenden Einblick in die Bedeutung rechtsextremistischer Musik, Musikgruppen, Konzerte und Musikvertriebsstrukturen gewonnen. Derartige Musik sei nach Auffassung des Ausschusses eines der zentralen Mittel der Szene zur Rekrutierung neuer Mitglieder, insbesondere junger Menschen, weshalb er in seinen an den Landtag gerichteten Beschlussempfehlungen eine effiziente Bekämpfung der rechtsextremistischen Musikszene fordere.


Baden-württembergische Stellen anerkennend bewertet

Die Rolle baden-württembergischer Stellen bei der Aufarbeitung des NSU werde vom Untersuchungsausschuss überwiegend anerkennend bewertet, während eine schleppende oder fehlende Informationsweitergabe und Aktenübermittlung von Bundes- an die Landesbehörden festzustellen sei. Durch ein solches Vorgehen von Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt entstehe aus Sicht des Ausschusses der Eindruck, dass diese Sicherheitsbehörden ihre Möglichkeiten, das Unterstützernetzwerk restlos zu ermitteln, nicht ausgeschöpft hätten.

Die Einrichtung der polizeilichen Ermittlungsgruppen "Rechts" und "Umfeld" zur Erhellung eines möglichen Täterumfeldes sei zu begrüßen, wenngleich die Vernehmung von Zeugen rechtlich nicht erzwingbar gewesen sei; dadurch leide das Gesamtbild bedauerlicherweise an Lücken. Insofern habe der Ausschuss einzelne betroffene Personen seinerseits als Zeugen befragt; dieser Vernehmung hätten sie sich nicht entziehen können.

Nachrichtendienstliche Vertrauenspersonen wiederum seien zur Informationsgewinnung wichtig, jedoch sei deren Einsatz stets kritisch zu hinterfragen.

Die stark verzögerte und erst nach Abschluss der Beweisaufnahme erfolgte Vorlage eines vom Sachverständigen Jerzy Montag erstellten Berichts zum V-Mann "Corelli" durch den Deutschen Bundestag (vgl. Pressemitteilung 92/2018 vom 20. Juli 2018) beurteile der Ausschuss als unbefriedigend.


Stärkung des Opferschutzes und Festigung Rechtsextremismusprävention

Den Bewertungen des Untersuchungsausschusses schließe sich eine Reihe von Empfehlungen an, die dem Landtag unterbreitet werden. Neben einer Stärkung des Opferschutzes werde eine Festigung der Rechtsextremismusprävention gefordert - insofern solle ein "Aufbruch für Demokratie" Kinder und Jugendliche gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (z. B. Antisemitismus) und gegen autoritäre und totalitäre Einstellungen stärken. Genannt seien ferner die Unterbindung von Waffenbesitz bei Rechtsextremisten sowie eine optimierte Qualifizierung bei den Landesbehörden. Ein seit 2012 bestehendes Aktenvernichtungsmoratorium solle so lange fortgelten, wie die Aktenvorhaltung erforderlich sei.

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Quelle:
Pressemitteilungen 130/2018 - 3.12.2018
Herausgeber: Landtag von Baden-Württemberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2018

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