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BUNDESTAG/9018: Heute im Bundestag Nr. 1165 - 22.10.2019


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 1165
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Dienstag, 22. Oktober 2019, Redaktionsschluss: 11.09 Uhr

1. Änderungen im Jugendstrafverfahren
2. Gesetz für bessere Löhne in der Pflege


1. Änderungen im Jugendstrafverfahren

Recht und Verbraucherschutz/Anhörung

Berlin: (hib/MWO) Eine ganze Reihe von Kritikpunkten machten die Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung zum Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren (19/13837) im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz am Montagnachmittag geltend. Die Vorlage wurde zwar prinzipiell begrüßt, weil sie den Vorgaben der EU-Richtlinie 2016/800 folge, die mit dem Gesetz umgesetzt werden soll. Uneinig waren sich die sieben Expertinnen und Experten aus den Bereichen Justiz, Wissenschaft und Jugendhilfe jedoch in der Bewertung einzelner Regelungen, die entweder als zu weitgehend oder nicht weitgehend genug bewertet wurden.

So mahnte Andreas Heuer, Generalstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg, mehr Augenmaß an. Der Gesetzentwurf bedürfe einer Überarbeitung, um den Grundprinzipien des Jugendstrafverfahrens gerecht werden zu können. Der Gesetzgeber habe in den letzten Jahren seinen Beitrag zur noch flexibleren Gestaltung des Verfahrens und zur Erweiterung des Reaktionsspektrums geleistet, sodass im Interesse der Jugendlichen immer besser individuelle Lösungen gefunden werden könnten. Dem Gesetzentwurf gelinge es nicht, daran anzuknüpfen und die Spielräume bei der Umsetzung der Richtlinie auszunutzen. Ohne dass dies gefordert wäre, formalisiere er das Jugendstrafverfahren und verzögere es. Dem Kindeswohl diene dies nicht.

Auch die anderen eingeladenen Staatsanwälte hatten überwiegend Kritisches anzumerken. Franz Gierschik von der Staatsanwaltschaft München I berichtete von seinen Erfahrungen mit der EU-Richtlinie, die mangels einer termingerechten nationalen Umsetzung seit Juli angewendet werde. Er bemängelte die Regelungen zur Verfahrensbeschleunigung, zur notwendigen Verteidigung und zur umfassenden Information der Beschuldigten. Der Entwurf gehe stellenweise über die Richtlinie hinaus und sei nicht besonders gelungen. Nicht zuletzt sorge er für erhebliche Mehrarbeit bei der Staatsanwaltschaft, den Gerichten und bei den Verteidigern. Frank Rebmann, Leitender Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Heilbronn, äußerte Bedenken gegen die Einordnung eines Schuldspruchs als Fall der notwendigen Verteidigung und gegen den vorgesehenen obligatorischen Neubeginn der Hauptverhandlung, wenn sich erst während der Hauptverhandlung die Mitwirkung eines Verteidigers als notwendig erweise. Mit Blick auf die Umsetzung der durch die Richtlinie zwingend vorgegebenen umfangreichen Unterrichtungspflichten gegenüber dem Jugendlichen plädierte Rebmann für eine knappe, verständliche und vor allem bundeseinheitliche Darstellung.

Demgegenüber stellte Theresia Höynck vom Institut für Sozialwesen der Universität Kassel fest, an einigen Stellen sei die Umsetzung der Richtlinie so zurückhaltend, dass fraglich sei, ob der Entwurf den Anforderungen der Richtlinie genügt. Aus fachlicher Sicht wären darüber hinaus zum Teil noch weitergehende Regelungen wünschenswert. Insgesamt könne der mit den Entwurf unternommene Versuch, die erforderlichen Neuregelungen in ein im Großen und Ganzen gutes und funktionierendes Gefüge einzubinden, aber als gelungen betrachtet werden. Eine echte Veränderung der bisherigen Konstruktion erfolge nur bezogen auf den Zeitpunkt der Bestellung der gegebenenfalls erforderlichen Pflichtverteidigung.

Jenny Lederer vom Deutscher Anwaltverein mahnte, dass bei der Umsetzung der Richtlinie der Blick nicht vom Kindeswohl als vorrangige Erwägung abschweifen dürfe. Dem hätten sich andere Erwägungen unterzuordnen, sagte sie mit Blick auf die Änderungen und den Widerstand bezüglich der Pflichtverteidigung. Gerade mit Blick auf die Situation, in der sich beschuldigte junge Menschen befinden, sei die Verteidigung ein elementares Instrument, um ihnen Gehör zu verschaffen und sie zu unterstützen. Eine Entschleunigung des Verfahrens sei hinzunehmen, wenn damit eine Stärkung der Rechte des jugendlichen Beschuldigten gewährleistet ist.

Der Berliner Rechtsanwalt Toralf Nöding bewertete den Entwurf aus der Sicht der Strafverteidigervereinigungen. Er lobte den Gesetzgeber dafür, nicht der Versuchung erlegen zu sein, das Schutzniveau des Jugendgerichtsgesetzes dort herabzusetzen, wo die Vorgaben der umzusetzenden EU-Richtlinie hinter dem Status quo des Gesetzes zurückblieben. Es gebe jedoch auch problematische Regelungen im Entwurf wie die Möglichkeit der Aushöhlung der Verpflichtung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers vor der ersten Vernehmung. Zudem fehlten Regelungen bezüglich der Auswahl des Pflichtverteidigers in Jugendstrafverfahren.

Bernd Holthusen vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) erklärte, dass mit den Neuregelungen die Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren weiter gestärkt würden. Gleichwohl gelte es aber auch zu erwägen, welche weiteren Auswirkungen die durchaus erheblichen Neuregelungen des Gesetzesvorhabens auf das Jugendstrafverfahren haben können. So könnte die vermehrte Anwesenheit von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten im Jugendstrafverfahren und die Notwendigkeit einer audiovisuellen Vernehmung einen Einfluss auf die Kultur und die Atmosphäre des Jugendstrafverfahrens haben und auch zur einer erheblichen Verlängerung der Verfahrensdauer führen.

Die Abgeordneten wollten von der Sachverständigen unter anderem wissen, welche Rolle die Jugendgerichtshilfe in den Verfahren spielt, wo ihrer Meinung nach der Schutzbedarf der Jugendlichen verletzt wird, welche Rolle die notwendige Verteidigung spielt und was die Vorteile eines beschleunigten Verfahren sind.

Wie es in dem Entwurf heißt, entspricht das deutsche Jugendstrafverfahrensrecht in vielerlei Hinsicht bereits den Vorgaben der Richtlinie. Neben einigen deshalb nur punktuellen Änderungen seien bezüglich einzelner Regelungsbereiche aber komplexere Änderungen erforderlich, um die von der Richtlinie eröffneten Spielräume so gut wie möglich für fachlich angemessene und praxistaugliche Lösungen nutzen zu können. Die Umsetzung der Richtlinie soll insbesondere durch Änderungen im Jugendgerichtsgesetz und punktuell in der Strafprozessordnung, dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und dem Gerichtskostengesetz erfolgen.

Ein Schwerpunkt der EU-Richtlinie betrifft laut Entwurf das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand. Vor allem würden gegenüber dem geltenden Recht weitere Fälle notwendiger Verteidigung und neue Bestimmungen zum Zeitpunkt der Bestellung notwendig. Weiter sei sicherzustellen, dass im Jugendstrafverfahren Freiheitsentzug als Strafe nur verhängt werden kann, wenn die beschuldigte junge Person zuvor über eine effektive Verteidigerunterstützung verfügte. Außerdem solle klargestellt werden, unter welchen Voraussetzungen die Teilnahme eines Vertreters der Jugendgerichtshilfe an der Hauptverhandlung verzichtbar ist. Weitere Regelungen beziehen sich auf Informationspflichten gegenüber jungen Beschuldigten, Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertretern sowie auf deren jeweilige Rechte auf Anwesenheit bei Untersuchungshandlungen und in der Hauptverhandlung.

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2. Gesetz für bessere Löhne in der Pflege

Arbeit und Soziales/Anhörung

Berlin: (hib/SAS) Im Bemühen um bessere Löhne in der Pflege hat die Bundesregierung Unterstützung von Experten erhalten. Im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagnachmittag, begrüßten die Sachverständigen mehrheitlich den Gesetzentwurf der Regierung für bessere Löhne in der Pflege (19/13395).

In dem Gesetzentwurf schlägt die Bundesregierung zwei Möglichkeiten vor, um bessere Löhne in der Pflegebranche durchzusetzen: Zum einen über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag, die sogenannte Tarifvertragslösung. Zum anderen über die Festlegung eines Mindestlohns durch eine dafür eingesetzte Kommission, die sogenannte Kommissionslösung. Für beide Wege müssen entsprechende Vorgaben des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, die Paragrafen 7 und 12, geändert werden.

Ebenfalls Gegenstand der Anhörung war ein Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel "Pflegelöhne auf Tarifniveau sofort refinanzieren" (19/14023). Darin fordern die Abgeordneten von der Bundesregierung ein Finanzierungskonzept, um die im Rahmen der laufenden Tarifverhandlungen zu vereinbarenden Tarifverträge für die Altenpflegebranche bundeseinheitlich refinanzieren zu können, ohne dass die Menschen mit Pflegebedarf und deren Angehörige zusätzlich finanziell belastet werden.

Die Vertreter der kirchlichen Arbeitgeber im Pflegebereich unterstützten das Vorhaben der Bundesregierung, bessere Löhne in der Pflege über eine tarifliche Lösung durchzusetzen. Die Entlohnungsbedingungen in der Pflege bedürften unbedingt einer Verbesserung, um die demografischen Herausforderungen zu meistern, erklärte Uta Losem (Kommissariat der deutschen Bischöfe). Da die Tarifbindung im nicht-kirchlichen Bereich der Branche mit "zehn bis 20 Prozent" auf einem ausgesprochen niedrigen Niveau liege, sei neben der Pflegekommission auch eine "tarifvertragsbasierte Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen" sinnvoll, so Losem.

Dies bekräftigte auch Jörg Kruttschnitt (Diakonie Deutschland): Angesichts des steigenden Pflegebedarfs müsse der Pflegeberuf attraktiver werden. Insbesondere gehe es darum, den Abstand zwischen Löhnen in der Altenpflege und Löhnen in der Krankenpflege weiter zu minimieren. Die Pflegekommission habe schon in der Vergangenheit eine "wichtigen Beitrag" geleistet, doch gehe er davon aus, dass sich "bessere und differenziertere Ergebnisse" über eine Tariflösung erzielen ließen.

Sylvia Bühler (ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) begrüßte ebenfalls das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung. Bislang sei es leider nicht gelungen, Tarifverträge für die kommerziellen Altenpflegeinrichtungen und ambulanten Dienste abzuschließen. Die Branche sei auch nicht durch "Haustarifverträge" zu ordnen, so Bühler. "Man kann nicht im Konflikt mehr als 10.000 Einrichtungen in die Tarifbindung zwingen." Auf Arbeitgeberseite fehle das Pendant, um als Gewerkschaft selbst Verträge auszuhandeln. Insofern helfe das Gesetz, für eine bessere Vergütung der Beschäftigten zu sorgen.

Thomas Greier (Arbeitgeberverband Pflege) wiederum übte deutliche Kritik an den Plänen der Bundesregierung. Diese nannte er einen weiteren Eingriff in die unternehmerische Freiheit. "Mit dem Gesetz beseitigen Sie auch noch die letzte Möglichkeit, dass ich mitbestimmen kann, wie ich mein Personal bezahle", monierte Greier und warnte, das Gesetz werde zu ungewünschten Auswirkungen führen. So sei etwa mit einer deutlichen Steigerung der Zuzahlungen zu rechnen. Dass die Bundesregierung vor dem Hintergrund steigenden Pflegebedarfs die unternehmerische Freiheit weiter einschränke, sei auch in anderer Hinsicht kurzsichtig, so der Sachverständige. "Welcher Unternehmer wird da noch in größeren Stil investieren, wenn er seinen Invest nicht refinanzieren kann?" Mit den geplanten Regelungen breche die Bundesregierung mit dem, was der Gesetzgeber eigentlich mit Einführung der Pflegeversicherung bezweckt habe - Wettbewerb und privates Kapital."

Sven Halldorn (bpa Arbeitgeberverband) äußerte darüber hinaus "massive verfassungsrechtliche Bedenken". So sei neben der unternehmerischen Freiheit auch Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes "massiv betroffen". Die positive wie auch und die negative Koalitionsfreiheit würden berührt durch das "sehr weitreichende Sonderrecht der Kirchen", kritisierte Halldorn. Letztendlich warnte der Sachverständige vor negativen Entwicklungen wie einer starken Konzentration in der bislang noch von vielen kleinen und mittelständischen Betrieben geprägten Branche.

Diese verfassungsrechtlichen Bedenken teilten wiederum die Einzelsachverständigen Professor Klaus Bepler und Professor Jens Schubert nicht. Bepler betonte, die im Gesetzentwurf gefundene tarifliche Regelung sei "wünschenswert und verfassungsfest". Die Erstreckung auf Außenseiter habe auch das Bundesverfassungsgericht bereits in einem früheren Urteil als unbedenklich erklärt. Auch die positive sowie die negative Koalitionsfreiheit seien nicht beeinträchtigt, so der ehemalige Richter des Bundesarbeitsgerichts. Auch das ergebe sich schon durch ein früheres Urteil der Karlsruher Richter zum Tarifeinheitsgesetz.

Schubert unterstrich zudem als Entgegnung auf Halldorns Kritik, dass allein der Umstand, dass ein Recht berührt werde, noch nicht bedeute, dass es auch verletzt sei. Es gebe zahlreiche gute Gründe, weshalb der Gesetzgeber bei diesem Thema justierend eingreife. (sas)

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Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 1165 - 22. Oktober 2019 - 11.09 Uhr
Herausgeber: Deutscher Bundestag
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2019

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