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BUNDESTAG/3891: Heute im Bundestag Nr. 291 - 03.06.2013


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 291
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Montag, 3. Juni 2013 Redaktionsschluss: 16:50 Uhr

1. Vorstöße zu Wahlrechts-Änderung bei Experten umstritten
2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung stößt auf geteiltes Echo



1. Vorstöße zu Wahlrechts-Änderung bei Experten umstritten

Innenausschuss (Anhörung)

Berlin: (hib/STO) Vorstöße der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen für eine "Verbesserung des Wahlrechts von Menschen mit Behinderungen und Analphabeten" beziehungsweise "zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Wahlrecht" stoßen bei Experten auf ein unterschiedliches Echo. Dies wurde am Montag bei einer Sachverständigenanhörung deutlich. Während die Mehrheit der Experten dabei für eine Streichung von Gesetzesregelungen zum Ausschluss vom Wahlrecht plädierten, empfahl eine Minderheit der Sachverständigen, vor einem etwaigen Handeln des Gesetzgebers den Abschluss einer "Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen" abzuwarten.

Wie die Grünen-Fraktion in einem Gesetzentwurf (17/12068) schreibt, sind nach dem Bundeswahlgesetz und dem Europawahlgesetz "all jene Menschen pauschal vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer oder eine Betreuerin bestellt ist". Ebenfalls ausgeschlossen seien Menschen, die eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben und aufgrund dessen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Diese Ausschlusstatbestände seien nach geltenden menschenrechtlichen Standards nicht zu rechtfertigen und stünden "im Widerspruch zu den Zielen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen", die seit 2009 in Deutschland geltendes Recht sei. Sie sollen daher nach dem Willen der Grünen-Abgeordneten gestrichen werden.

Ebenso argumentiert die SPD-Fraktion, die in einem Antrag (17/12380) von der Bundesregierung die Vorlage eines Gesetzentwurfs fordert, der ausschließt, dass der Verlust des Wahlrechts künftig ausschließlich aufgrund der entsprechenden Bestimmungen im Bundes- und im Europawahlgesetz möglich ist. Auch soll die Regierung dem Antrag zufolge einen Gesetzentwurf zur Änderung der beiden genannten Wahlgesetze mit dem Inhalt vorlegen, dass durch die Verwendung von Parteisymbolen und Lichtbildern der Kandidaten auf den Stimmzetteln die Wiedererkennung von Parteien und Bewerbern "und somit die Stimmabgabe erleichtert wird".

In der Anhörung sagte Valentin Aichele vom Deutschen Institut für Menschenrechte, die zwei Ausschlüsse vom Wahlrecht seien mit den bürgerlichen Menschenrechten nicht zu vereinbaren, "weil sie mehrheitlich Menschen mit Behinderungen treffen und damit eine menschenrechtliche Diskriminierung vorliegt, die unsere Rechtsordnung nicht länger tolerieren darf".

Professor Hans Meyer von der Berliner Humboldt-Universität warb dafür, die entsprechenden Paragraphen "vollständig zu streichen". Sie entsprächen "in keiner Weise mehr" den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Feststellung der Betreuung erfolge von den Richtern ohne Rücksicht auf die Frage der Wahlmündigkeit. Eine Entscheidung, die nichts mit dem Wahlrecht zu tun habe, aber einen Ausschluss vom Wahlrecht zur Folge habe, sei eines Rechtsstaates unwürdig.

Gregor Rüberg vom Betreuungsverein Lebenshilfe Dortmund betonte, zu keinem Zeitpunkt des Betreuungsverfahrens werde geprüft, ob die Wahlfähigkeit vorliegt. Er halte eine Streichung der Vorschrift zum Wahlrechtsausschluss von Betreuten "für absolut erforderlich", weil diese Regelung zu viele Menschen betreffe.

Bernd Schulte, wissenschaftlicher Referent in München, nannte die Argumente für eine ersatzlose Abschaffung der Vorschriften über den Wahlrechtsausschluss "erdrückend". Er halte ein möglichst rasches gesetzgeberisches Handeln für geboten.

Professor Heinrich Lang von der Universität Greifswald plädierte dagegen dafür, die beiden Regelungen jetzt nicht zu streichen. Man solle lieber "abwarten, was die Forschung zu dem Thema bringt", fügte Lang hinzu und verwies darauf, dass die Bundesregierung ein entsprechendes Forschungsvorhaben ausgeschrieben habe. Dann solle man erneut über das Thema diskutieren.

Professor Gerd Strohmeier von der Technischen Universität Chemnitz sagte, das Wahlrecht sei ein "äußerst sensibles Feld" und der Ausschluss vom Wahlrecht sei "möglicherweise der sensibelste Teil dieses Feldes". Er bedürfe einer Regelung, die auf einer soliden Datenbasis basiere, die gegenwärtig noch nicht vorliege. "Erst wenn die Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen vorliegt, werden wir sachlich und fundiert über eventuell notwendige Reformen diskutieren können", unterstrich Strohmeier.

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2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung stößt auf geteiltes Echo

Ausschuss für Arbeit und Soziales (Anhörung)

Berlin: (hib/CHE) Das Zustandekommen und der Aufbau des aktuellen Vierten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung (17/12650) ist nach Ansicht von Experten in Teilen kritikwürdig. Das wurde während einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagnachmittag deutlich, in der es nicht nur um den Bericht selbst, sondern auch noch um Anträge der Fraktionen von CDU/CSU und FDP (17/13250), der SPD (17/13102), der Linken (17/12709) und von Bündnis 90/Die Grünen (17/(11) 1170) ging.

Dabei kritisierten die Experten zum einen, dass sich der Armuts- und Reichtumsbericht auf einen Lebensphasen-Ansatz konzentriert, also den Fokus auf die "Dynamik gesellschaftlicher Teilhabe innerhalb des eigenen Lebensverlaufs" richtet, wie es im Bericht dazu heißt. "Ein solcher Ansatz macht es schwer, wenn man zu einzelnen benachteiligten Gruppen Informationen finden will", sagte dazu Joß Steinke von der Arbeiterwohlfahrt. Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ergänzte, dass dieser Ansatz gegenüber dem vorher verwendeten Lebenslagen-Modell zwar neue Erkenntnisse biete. "Strukturelle Ursachen geraten bei einem solch individuellen Ansatz aber aus dem Blick", befand er. So würden zum Beispiel die Ursachen der Benachteiligung von Frauen nicht ausreichend gewürdigt. Dies sei aber ein wesentlicher Aspekt, fügte Ingo Kolf vom Deutschen Gewerkschaftsbund an. "Denn der Niedriglohnsektor in Deutschland ist weiblich. Armut ist weiblich", betonte Kolf.

Ein weiterer Kritikpunkt ist aus Sicht der Sachverständigen die Praxis der Einbeziehung von Wissenschaftlern in die Arbeit am Armuts- und Reichtumsbericht. Michael David von der Nationalen Armutskonferenz nannte die Beteiligung der Wissenschaft und von Nichtregierungsorganisationen mangelhaft. Diese hätten im Vorfeld nur sehr wenig Zeit für ihre Stellungnahmen gehabt. Er plädierte deshalb für eine unabhängige Kommission als Verfassergremium. Dem schloss sich auch Markus Grabka (DIW) an, der die Einbindung der Wissenschaftler ebenfalls als "verbesserungswürdig" bezeichnete und sich eine unabhängige Beraterkommission als Option vorstellen konnte.

Diskutiert wurde aber auch über die geeigneten Instrumente zu Armutsvermeidung. Ulrich Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg bekräftigte, dass verbesserte Jobchancen ein probates Mittel seien, Armut zu vermeiden. Denn über eine Arbeit finde gesellschaftliche Teilhabe statt, während Arbeitslosigkeit von einer solchen ausgrenze. Die Förderung der Erwerbstätigkeit sei deshalb ein zentrales Element. Sie allein biete aber auch keine Garantie zur Armutsvermeidung. Gerade bei Geringqualifizierten reiche eine Erwerbstätigkeit oft nicht aus, sagte Walwei in Bezug auf den Niedriglohnsektor. Für Ingo Kolf ist es ebenfalls zu einseitig, sich nur auf den Arbeitsmarkt zu konzentrieren. Er plädierte stattdessen für ein eigenständiges Armutsbekämpfungsprogramm, das ausreichend Bildungschancen über den gesamten Lebenslauf hinweg ermöglichen müsse, sowie für eine andere Verteilungspolitik. Markus Grabka bezeichnete das Bildungswesen zwar als einen der wichtigsten Aspekte überhaupt. Es wäre aber zu kurz gegriffen, sich nur auf Bildungschancen zu konzentrieren. "Die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung kann man durch reine Bildungspolitik nicht lösen. Dafür bedarf es steuerpolitischer Ansätze", betonte Grabka.

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Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 291 - 3. Juni 2013 - 16:50 Uhr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2013