Schattenblick →INFOPOOL →PARLAMENT → FAKTEN

BUNDESTAG/3225: Heute im Bundestag Nr. 230 - 09.05.2012


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 230
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Mittwoch, 9. Mai 2012 Redaktionsschluss: 14:00 Uhr

1.‍ ‍SPD will Menschenrechte in Subsahara-Afrika stärken
2.‍ ‍Neues Versicherungsaufsichtsrecht verzögert sich
3.‍ ‍Jugendpolitik soll ein eigenständiges Politikfeld werden
4.‍ ‍Änderung des Börsengesetzes gebilligt
5.‍ ‍Koalition und SPD verlangen Maßnahmen für energieintensive Betriebe
6.‍ ‍Großer Handlungsbedarf bei der barrierefreien Mobilität und beim barrierefreien Wohnen
7.‍ ‍Experten diskutieren über die Rolle von Markt und Staat bei der Weingesetzreform



1. SPD will Menschenrechte in Subsahara-Afrika stärken

/Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Berlin: (hib/MLA) Die SPD-Fraktion will die Debatte um die deutsche Afrikapolitik bis 2015 neu entfachen. In ihrem Antrag (17/7370) fordern die Abgeordneten die Bundesregierung auf, sich vorrangig um die Umsetzung der Menschenrechte in Subsahara-Afrika zu kümmern, da sie die Basis für eine "nachhaltige Entwicklung" in der Region seien. Der Antrag wurde am Mittwoch im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.

Die SPD-Fraktion bemüht sich um einen eigenen Ansatz für die Region Subsahara-Afrika. Dort würden über 100 Millionen Menschen in extremer Armut leben, heißt es im SPD-Antrag. Mit ihrem Ansatz, menschenrechtliche Ziele besonders zu verfolgen, will die Fraktion "Rechtsstaatlichkeit, nachhaltige Entwicklung und gute Staatsführung" fördern. Wenn die Afrikapolitik aufgrund ihres Antrags in den Fokus des Parlaments zurückkomme, sei "ein erstes Ziel erreicht", äußerte sich die SPD-Fraktion im Ausschuss.

Die CDU/CSU-Fraktion sah im Antrag der SPD viele Übereinstimmungen mit dem Afrikakonzept der Bundesregierung. Es fehle jedoch ein tragfähiges Konzept zum "Krisenherd Trinkwasserversorgung". Daher stimmte die Union dem SPD-Antrag nicht zu.

Auch die FDP sah "viele richtige Dinge" im Vorschlag der SPD. Sie kritisierte aber, dass im SPD-Antrag das Engagement privater Investoren einseitig negativ dargestellt werden würde. Gerade "privat-wirtschaftliche Initiativen braucht es, um in der Region Ausbildungsplätze zu schaffen", argumentierte die FDP und lehnte den Antrag ab.

Die Fraktion Die Linke räumte ein, dass es extrem schwer sei, in einem Antrag die komplexen Zusammenhänge der Krisenregion Subsahara-Afrika zu behandeln. Es fehle jedoch unbedingt ein Konzept zur Krisenprävention - weshalb die Linksfraktion den Antrag ablehnte.

Der Fraktion Bündnis 90/Die Grüne fehlte im Antrag der "Biss". Die Fraktion lobte jedoch ausdrücklich das Engagement der SPD und stimmte dem Antrag, der viele gute Ansätze enthalten würde, zu. Insgesamt fand der SPD-Antrag damit im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe keine Mehrheit.

*

2. Neues Versicherungsaufsichtsrecht verzögert sich

Finanzausschuss

Berlin: (hib/HLE) Die von der Bundesregierung geplante Neuordnung des Versicherungsaufsichtsrechts verzögert sich. Der Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (17/9342) solle vorerst nicht weiter beraten werden, erklärte ein Vertreter der Bundesregierung am Mittwoch im Finanzausschuss. Grund dafür sei, dass die EU-Kommission derzeit an Änderungen in der Versicherungsaufsichtsstruktur arbeite. Diese Änderungen sollten dann auf nationaler Ebene in den vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet werden. Die Anwendung des neuen Rechts sei jetzt für 2014 vorgesehen, was auch mehr Zeit für die Beratungen lasse.

In dem Gesetzentwurf wird unter anderem auch die durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs verlangte Gleichstellung von Frauen und Männern bei Versicherungstarifen geregelt. Danach sind nach Geschlecht unterschiedliche Versicherungsbeiträge und Leistungen nur noch unter stark eingeschränkten Bedingungen möglich. Durch neue Eigenkapitalvorschriften, die nach einer EU-Richtlinie "Solvency II" genannt werden, sollen die Versicherungsunternehmen außerdem krisenresistent gemacht werden.

*

3. Jugendpolitik soll ein eigenständiges Politikfeld werden

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Berlin: (hib/AW) Der Familienausschuss hat am Mittwoch Nachmittag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP deren gemeinsamen Antrag (17/9397) für eine "eigenständige Jugendpolitik" gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Union und FDP wollen gemäß ihrer Koalitionsvereinbarung Jugendpolitik im Gegensatz zur früheren Kinder- und Jugendpolitik als eigenständiges Politikfeld etablieren. Die Oppositionsfraktionen SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen begrüßten zwar das Ansinnen prinzipiell. Sie kritisierten jedoch, dass im Koalitionsantrag keine klare Gesamtstrategie erkennbar sei. Er stelle lediglich ein "Sammelsurium" von Einzelmaßnahmen dar. Zudem seien wesentliche Problemfelder in der Jugendpolitik ausgeklammert.

Kinder- und Jugendzeit seien zwei sehr unterschiedliche Lebensphasen, argumentierte die Unionsfraktion. Dem müsse die Politik Rechnung tragen. Der Antrag solle als Auftakt für eine längerfristige Debatte über eine eigenständige Jugendpolitik verstanden werden. Die Politik dürfe sich nicht immer nur auf Problemfelder konzentrieren, sondern müsse auch jene Jugendlichen unterstützen, die ihren Weg durchs Leben "geräuschlos" gingen.

Nach den Vorstellungen der Koalition soll unter Federführung des Familienministeriums eine "Allianz für Jugend" gegründet werden, um konkrete Beiträge für eine eigenständige Jugendpolitik zu entwickeln. In der Allianz sollten neben der Kinder- und Jugendhilfe auch Vertreter aus Wirtschaft und Medien mitwirken. Für die Kooperation der unterschiedlichen Akteure an den Schnittstellen zwischen Schule, Ausbildung und Beruf sollen Impulse für eine systematische Abstimmung der Aktivitäten gesetzt werden. Union und Liberale setzen sich zudem dafür ein, die Förderstrukturen und die Richtlinien für die Evaluierung durch das Deutsche Jugendinstitut so zu gestalten, dass die Kriterien für die Vergabe auch für Jugendliche nachvollziehbar sind. Es sei ein unbürokratisches Antragsverfahren zu verankern, das auch kleineren Initiativen in der Jugendarbeit einen Zugang zum Kinder und Jugendplan (KJP) ermöglicht. Die Koalitionsfraktionen fordern zusätzlich die Erarbeitung eines "Praxishandbuchs Kulturelle Bildung" und Beratungs- und Informationsangebote zur Förderung der Medienkompetenz von Jugendlichen. Außerdem machen sie die Fraktionen für die Auslobung eines Preises für die "jugendfreundlichste Gemeinde Deutschlands" stark, der die Beteiligung junger Menschen an politischem Handeln, die Einführung von Online-Konsultationen und die Erprobung von Formen der E-Partizipation honoriert.

Die SPD-Fraktion bemängelte, dass Bereiche wie die kulturelle Bildung unterbelichtet seien. Es reiche nicht aus, ein Handbuch erarbeiten zu lassen. Gleiches gelte für die politische Bildung, an der von der Bundesregierung derzeit eher gespart werde. Ähnliche Vorwürfe kamen auch aus den Reihen der Grünen. Die Koalition habe vor zweieinhalb Jahren mit der Ankündigung einer eigenständigen Jugendpolitik große Hoffnungen geweckt, die jetzt enttäuscht würden. Die Wünsche und Forderungen der Jugendverbände, etwa nach einer Senkung des Wahlalters, seien komplett ignoriert worden.

Die Linksfraktion kritisierte, dass den Themen Jugendarmut und Jugendarbeitslosigkeit überhaupt keine Beachtung geschenkt werde. Ein Preis für die "jugendfreundlichste Gemeinde Deutschlands" sei zwar zu unterstützen, aber dieser dürfe sich nicht allein auf politische Partizipationsmöglichkeiten beschränken. Die Linke warb für ihren eigenen Antrag (17/7846) für einen "Preis für die jugendfreundlichste Kommune", der auch diese Aspekte berücksichtige. Diesen Antrag lehnte der Ausschuss jedoch mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der SPD und der Grünen ab.

Die FDP-Fraktion wies die Kritik der Opposition zurück. Im Gegensatz zu SPD, Linken und Grünen habe die Koalition eben keinen "Wünsch-Dir-Was"-Antrag vorlegt, mit dem nur mehr Geld ausgegeben werden soll. Die Opposition zähle lediglich auf, was ihr im Antrag fehle, mache aber selbst keine konkreten Vorschläge.

*

4. Änderung des Börsengesetzes gebilligt

Finanzausschuss

Berlin: (hib/HLE) Der Finanzausschuss hat dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU und zur Änderung des Börsengesetzes (17/8684) mit Änderungen zugestimmt. In der Sitzung des Ausschusses am Mittwoch stimmten die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP sowie die SPD-Fraktion für den Entwurf. Die Linksfraktion votierte dagegen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen enthielt sich. Grund für die Änderung ist die EU-Richtlinie über Wertpapierprospekte, die zu einer Anpassung des deutschen Rechtes zwingt.

Entsprechend wies die CDU/CSU darauf hin, dass es in erster Linie um die Umsetzung von EU-Recht gehe. Auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sprach von einer Vollharmonisierung in diesem Bereich. Die Fraktion machte aber ebenso wie die SPD-Fraktion kritische Anmerkungen zu einem der von der Koalition vorgelegten Änderungsanträge, mit dem sogenannte Zweitmarktfonds von den Regelungen des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagerechts ausgenommen werden. Zweitmarktfonds sind geschlossene Fonds, die nicht in einzelne Sachwerte, sondern in Anteile an anderen geschlossenen Fonds investieren. Dieser Bereich solle mit der bevorstehenden Umsetzung der AIFM-Richtlinie (Richtlinie zur Regulierung geschlossener Fonds) geregelt werden, schreiben die Koalitionsfraktionen in ihrem Änderungsantrag.

Im eigentlichen Gesetzentwurf geht es auch darum, den bürokratischen Aufwand zu verringern. So werden im Bereich des Wertpapierprospektgesetzes bestimmte Obergrenzen und Schwellenwerte für Ausnahmen von der Prospektpflicht erhöht. Auch soll es Erleichterungen für Mitarbeiterbeteiligungsprogramme geben.

Die Linksfraktion sprach zwar von einigen sinnvollen Regelungen in dem Entwurf, meinte aber andererseits, es gehe nicht um mehr Anlegerschutz, sondern um die Erleichterung der Arbeit von Wertpapierunternehmen. Außerdem verlangte sie eine Verpflichtung, dass Wertpapierprospekte in deutscher Sprache vorgelegt werden müssten.

*

5. Koalition und SPD verlangen Maßnahmen für energieintensive Betriebe

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Berlin: (hib/HLE) Die SPD-Fraktion hat von der Bundesregierung schnelle Maßnahmen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit besonders energieintensiver Betriebe verlangt. Man habe in der Vergangenheit oft Kritik an nicht zielgerichteten Strompreisvergünstigungen geübt, erklärte ein Sprecher der SPD-Fraktion in einer Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie am Mittwoch. Aber im Fall der Aluminiumindustrie gehe es um wirklich energieintensive Betriebe. Insgesamt gehe es um 40.000 Arbeitsplätze. Es müsse Ausnahmeregelungen für Betriebe geben, die angesichts hoher Strompreise nicht mehr mithalten könnten, um eine Verlagerung von Arbeitsplätzen zu vermeiden.

Die Abgeordneten hatten das Thema auf die Tagesordnung gesetzt, nachdem in Voerde (Nordrhein-Westfalen) eine Aluminiumhütte Insolvenz angemeldet hatte. Der Vertreter der Bundesregierung erläuterte dazu im Ausschuss, Deutschland habe in der EU den teuersten Industriestrom. Die Bundesregierung verhandele in Brüssel über Möglichkeiten, dass mehr für die energieintensive Industrie getan werden könne. Außerdem verwies er darauf, dass die Verordnung über abschaltbare Lasten in Vorbereitung sei. Damit soll Betrieben, wenn sie zeitweilig auf Strombezug verzichten und dadurch das Netz stabilisieren, eine Ausgleichsleistung gewährt werden. Es gebe aber die Besorgnis, dass die Verbraucher zu stark belastet werden könnten, wurde erläutert. Die Gespräche seien enorm schwierig. Die Verordnung solle zum 1. Januar 2013‍ ‍in Kraft treten.

Ein Sprecher der CDU/CSU-Fraktion erklärte, man befinde sich offenbar bereits in einem schleichenden Prozess der Deindustrialisierung und des Verlusts wichtiger Wertschöpfungsketten. Den betroffenen Branchen müsse geholfen werden. Sonst werde es in Deutschland bald keine dieser besonders energieintensiven Industrien mehr geben. Die FDP-Fraktion unterstützte die Appelle aus CDU/CSU und SPD zum Erhalt der Industrie. Es müsse dringend etwas geschehen, sonst verliere man den Anfang einer wichtigen Wertschöpfungskette. "Das wäre verheerend", so die FDP-Fraktion.

Nach Ansicht der Linksfraktion wurde von dem in Insolvenz gegangenen Unternehmen in Voerde der Strom am Markt zu teuer eingekauft. Die Hütte sei nicht wegen der allgemein hohen Strompreise in Probleme geraten. Ein Sprecher der Fraktion verlangte Informationen, wohin die Ermäßigungen für energieintensive Betriebe gehen würden. Es handele sich um zehn Milliarden Euro.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen warf der CDU/CSU-Fraktion vor, mit dem Gerede von der Deindustrialisierung die deutsche Wirtschaft schlechtzureden. Negativszenarien würden nicht weiterhelfen. Schließlich sei Deutschland Exportweltmeister. Die Aluminiumindustrie sei ein Sonderfall, da sie wegen starken Strombedarfs besonders von hohen Preisen betroffen sei. Doch dürfe dies nicht verallgemeinert und zum Entwerfen von Zusammenbruchs-Szenarien verwendet werden.

*

6. Großer Handlungsbedarf bei der barrierefreien Mobilität und beim barrierefreien Wohnen

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Anhörung)

Berlin: (hib/MIK) Bei der barrierefreien Mobilität und dem barrierefreien Wohnen muss noch viel getan werden. Dies wurde am Mittwoch bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung deutlich. Grundlage des Hearings waren insgesamt drei Anträge der SPD-Fraktion "Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen - Voraussetzung für Teilhabe und Gleichberechtigung" (17/6295), der Linksfraktion "Barrierefreies Bauen im Baugesetzbuch verbindlich regeln" (17/9426) sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "Barrieren abbauen - Mobilität und Wohnen für alle" (17/9406).

Sigrid Arnade, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, begrüßte, dass die drei antragstellenden Fraktionen die Notwendigkeit einer umfassenden barrierefreien Gestaltung in allen Lebensbereichen erkannt hätten. Auch sie sprach sich dafür aus, staatliche Förderung an Kriterien der Barrierefreiheit zu koppeln. Dies würde die Umsetzung einer langjährigen Forderung aller Behindertenverbände bedeuten. Zudem sprach sie sich in ihre Stellungnahme dafür aus, bei Verstößen gegen Barrierefreiheitsregelungen im Flugverkehr, im Fußverkehr sowie beim Bauen und Wohnen die Verhängung von Sanktionen zu verankern.

Um die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen wirksam zu schützen, schlug sie darüber hinaus die Einrichtung einer fraktionsübergreifenden Arbeitsgruppe aus Behinderten und nicht behinderten Fachleuten unter Einbeziehung der Expertise des Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit vor. Diese sollten Vorschläge zu der Frage erarbeiten, wie Barrierefreiheit und universelles Design in den Bereichen Mobilität und Bauen im föderalen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland am wirkungsvollsten zu realisieren seien.

Für den Präsidenten der Bundesarchitektenkammer, Sigurd Trommer, wäre es wünschenswert, dass sich das Denken der Menschen ändert und der Umgang von Behinderten und Nichtbehinderten selbstverständlich wird. Dabei dürfe für den Bereich Bauen aber nicht außer Acht gelassen werden, dass Barrierefreiheit für alte Menschen und Kinder von ebenso großer Bedeutung sei. Deshalb müsse die Städtebauförderung gestärkt und das KfW-Programm "Altersgerecht Umbauen" weiterentwickelt werden.

Für Volker Sieger vom "Institut für barrierefreie Gestaltung und Mobilität" stellt der demografische Wandel an die zukünftige Bautätigkeit große Anforderungen. Der von der Bundesbauministerkonferenz vorgelegte Entwurf einer Musterbauordnung sei unter dem Gesichtspunkt der Barrierefreiheit auf "große" Ablehnung gestoßen, heißt es in seiner Stellungnahme. Dabei sei kritisiert worden, dass die Anzahl der zukünftig bei Neubauten barrierefrei zu gestaltenden Wohnungen nicht im entferntesten dem demografischen Wandel gerecht werde und keine bessere Überwachung der barrierefreien Planung und Ausführung vorgesehen sei.

Nach neuesten Berechnungen sei für das Jahr 2025 mit einem Bedarf von rund zwei Millionen barrierefreien Wohnungen zu rechnen. Dieser Wohnraumbedarf werde überwiegend durch Modernisierungsmaßnahmen im Bestand gedeckt werden müssen, da im Vergleich die Zahl der Neubauvorhaben verschwindend gering sei. Selbst wenn alle Neubauvorhaben im Geschosswohnungsbau ab sofort barrierefrei errichtet würden, könnte der prognostizierte Bedarf in 2025 nicht erreichen werden.

Beim Verkehr kritisierte Sieger vor allem, dass bei dem geplanten Fernbusverkehr keine behindertengerechte Busse vorgesehen seien; auch bei den meisten Fluglinken gebe es Schwierigkeiten für Behinderte, da es zum Beispiel keine entsprechenden Toiletten und den Flugzeugen gebe.

Auch Helmut Grossmann von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation sieht großen Handlungsbedarf, um die erzielten Fortschritte im Bedarf auf barrierefreie Mobilität und barrierefreies Bauen zu sichern. Deshalb empfahl er als Grundlage für zielführende, effiziente Entscheidungen eine umfassende Wirkungsanalyse bisheriger Vorgaben zur Herstellung weitreichender Barrierefreiheit.

Christian Lieberknecht, Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, begrüßte "ohne Einschränkung" den Vorschlag, dass der Bund ab 2013 wieder in die Finanzierung des KfW-Programms "Altersgerecht Umbauen" einsteigen soll. Weiter begrüßte er, dass eine gleichberechtigte Teilhabe älterer und eingeschränkter Menschen in allen Lebensbereichen angestrebt werden müsse. Er hält es jedoch nicht für notwendig, 100 Prozent der Wohnungen barrierefrei auszustatten.

Für Ellen Engel von der Deutschen Bahn AG sind behinderte Menschen eine wichtige Kundengruppe, die weiter wachsen werde. Barrierefreies Bahnreisen werde auch in Zukunft im Fokus der DB AG stehen, sagte sie.

*

7. Experten diskutieren über die Rolle von Markt und Staat bei der Weingesetzreform

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Anhörung)

Berlin: (hib/EIS) Hilfe zur Selbsthilfe ist notwendig, wenn auch in Zukunft Wein auf Steillagen in Deutschland abgebaut werden soll. "Das ist allerdings eine Frage, die von einer Änderung des Weingesetzes unabhängig betrachtet werden muss", sagte Dieter Hoffmann von der Forschungsanstalt Geisenheim in einer öffentlichen Anhörung des Agrarausschusses am Mittwochmorgen zum Thema Weingesetz-Reform und Auswirkungen auf die deutsche Weinwirtschaft.

Für den Weinanbau in Steillagen sei zu befürchten, dass unattraktive und schwer zu bewirtschaftende Flächen in Zukunft mehr und mehr aufgegeben werden. Ein mögliches Instrument des Erhalts solcher Kulturflächen wäre die Fortsetzung der derzeit praktizierten Begrenzung der Gesamtanbauflächen für Reben in der Bundesrepublik, sodass auch unattraktive Flächen zum Beispiel in Flusslandschaften durch Angebotsmangel nachgefragt und erhalten bleiben. Doch die Kritiker dieses Weges glauben nicht daran, dass Anbaustoppregeln helfen. Der zum Beispiel aus touristischen Gründen von vielen gewünschte Erhalt der Steillagen könne nur noch durch politische und finanzielle Unterstützung im internationalen Wettbewerb unter Berücksichtigung der Produktionskosten bestehen, die auf großen ebenen Anbauflächen viel günstiger seien als in Hanglagen.

"Wenn wir nur Kleinstbetriebe erhalten wollen, sind wir naiv", sagt Hoffmann mit Blick auf den Strukturwandel der vergangenen 40 Jahre. Die Begrenzung der Anbauflächen für Weinreben würden unrentable Standorte nicht rentabel machen. Deshalb forderte der Wissenschaftler mehr Flexibilität für die Weinwirtschaft. Doch gerade die Frage danach, wie viel Flexibilität der Weinmarkt und die Produzenten vertragen, war ein wesentlicher Punkt der Auseinandersetzung unter den eingeladenen Sachverständigen. Steffen Christmann vom Verband Deutscher Prädikatsweingüter stellte eine "deutliche Fehlentwicklung auf dem Weinmarkt" fest.

Zwei Drittel der in Deutschland produzierten Weinmenge werde in Discountmärkten in einem Preisbereich unter zwei Euro gehandelt und mache maximal 30 Prozent des Umsatzes aus. "Weine im Preisbereich von über fünf Euro machen aber 60 Prozent des Umsatzes aus." Christmann zog den Schluss daraus: "Die mittleren Preisanbieter müssen gestärkt werden."

Auch Johannes Hübinger vom Bundesverband der Deutschen Weinkellereien und des Weinfachhandels sah darin ein Problem. Es gebe in Deutschland nur die Direktvermarktung und den Verkauf über Lebensmittelmärkte. Weil der Weinmarkt ein "sehr preissensibler Markt ist", sei es wichtig für die Weinanbaubetriebe, dass "alle Preisklassen bedient werden können". Christmann forderte, dass in Deutschland das Regionalweinkonzept weiterentwickelt werden muss. "Das bestehende Weinrecht lässt Konsumenten orientierungslos zurück, wenn wir nur den Begriff Qualitätswein verwenden", sagte er. Viel wichtiger sei für den Konsumenten jedoch, dass alle Herkunftsstufen erkennbar seien. Hübinger wies darauf hin, dass es einen Markt für geschützte geographische Markenweine neben Weinen aus sogenannten Großlagen geben würde. Der Experte Christmann forderte sogar, mit dem Regionalweinkonzept die Großlagen zu ersetzen.

Dieter Hoffmann warnte, dass die Weinproduzenten aufgrund des sehr fragmentierten Weinmarktes in Deutschland "unterschiedlichen Spielregeln" unterliegen. "Wir verzeichnen eine deutliche Trennung in Massenmarkt und Premiummarkt." Und der Luxusmarkt funktioniere hervorragend. Insofern seien in diesem Segment keine Regelungen erforderlich. Die Politik müsse deshalb darauf achten, was durch gesetzliche Regeln überhaupt gesteuert werden sollte. Mit der derzeit praktizierten Mengensteuerung durch das sogenannte Pflanzrechtsystem und auch durch die geltende Hektarertragsregelung unterliege der Weinanbau zwei komplizierten Systemen. "Das Pflanzrecht ist ein bürokratischer Moloch, denn wo die Rechte viel kosten, wird viel gepflanzt und wo sie nicht viel kosten, brauchen wir sie nicht", so der Wissenschaftler. Junge Winzer hätten in beiden Systemen das Nachsehen, weil sie darin nur schwer wettbewerbsfähige Betriebe etablieren könnten. Aus diesem Grund plädierte er für die Aufhebung der Begrenzung der Anbauflächen und Produktionsmengen.

Johannes Hübinger unterstützte die Forderung, denn die Hektarertragsmengenregelung sei zu restriktiv und reduziere die Wettbewerbsstärke. "Die geschürte Angst vor der Erweiterung der Flächen ist unbegründet", meinte er, weil Deutschland in Europa nur ein kleines Produktionsland sei und "niemand seine Produktion erweitert, wenn er nicht zusätzliche Lieferverträge hat, oder glaubt, diese Mengen nicht absetzen zu können". Der Weinkonsum in der Welt steigt, der Bedarf wird aber nicht gedeckt, unterstrich er die Chancen.

In den Augen Dieter Weidmanns vom Deutschen Raiffeisenverband gingen diese Forderungen zu weit. Weidmann trat für die Beibehaltung des Pflanzrechtsystems ein, "denn es ist ein erneuter Rückfall in die Überschussproduktion zu befürchten". Außerdem kritisierte er, dass in den vergangenen Jahren rund 300.000 Hektar Rebflächen in Europa mithilfe öffentlicher Mittel stillgelegt wurden. "Und nun sollen diese Fläche wieder aktiviert werden", kritisierte er. Die Ausweitung der Produktion in anderen Teilen der Welt lasse für die Zukunft eine weltweite Überproduktion erwarten. Deshalb dürfe nicht das Heil ausschließlich in hohen Produktionszahlen und Export gesucht werden. Weidmann sprach sich dafür aus, das Marketingmaßnahmen für deutsche Weine auf dem inländischen Markt erforderlich seien und Impulse geben könnten.

Derzeit gebe es in Deutschland einen Bedarf von rund 20 Millionen Hektolitern am Markt. Die Eigenproduktion decke die Nachfrage von neun Millionen ab. Eine Erweiterung der Kapazitäten sei mit hohem Risiko behaftet. Der heimische Markt habe in früheren Zeiten Überproduktionen in Deutschland durch Konsum nicht auffangen können, denn auch ausländischer Wein sei gefragt.

Vor der "totalen Liberalisierung" warnte auch Rudolf Nickenig vom Deutschen Weinbauverband. Er unterstützte die Forderung nach der Förderung regionaler Marken und der seit Jahren stattfindende Strukturwandel bezeugt seiner Ansicht nach, dass das bestehende Recht viel erlaubt. "Seit 30 Jahren beträgt die deutsche Anbaufläche rund 100.000 Hektar", die heute von Betrieben bewirtschaftet würden, die im Vergleich zu früher vier Mal größer seien. Damit beweise die Branche ihre Wettbewerbsfähigkeit und Flexibilität. Nickenig machte sich dafür stark, dass mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik in der EU auf die Besonderheit der Produktion von Wein und die Anpflanzung von Reben eingegangen wird. "Dafür bedarf es spezifischer Förderungsmaßnahmen", sagte er mit Blick auf die zum Beispiel komplizierten Anbaubedingungen an Hängen. Insofern seien bereits praktizierte Maßnahmen wie die Bereitstellung für die Umstrukturierung von Rebflächen und Absatzförderungsprogramme für Drittlandmärkte die "besten Instrumente, die sich in den letzten Jahren bewährt haben". Ihr Erhalt sei deshalb wichtig.

*

Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 230 - 9. Mai 2012 - 14:00 Uhr
Herausgeber: Deutscher Bundestag
PuK 2 - Parlamentskorrespondenz
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Telefon: +49 30 227-35642, Telefax: +49 30 227-36191
E-Mail: mail@bundestag.de
Internet: www.bundestag.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2012