DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Januar 2016
Bundesweit wegweisendes Projekt wird in diesem Jahr eröffnet
Erste Clearingstelle für Eltern mit Behinderungen
Von Petra Wilkening
Noël ist elf Monate alt. Gerade hat der kleine Junge das Stehen entdeckt und übt jetzt mit großem Fleiß am Hosenbein seines Vaters. Noch sieht es etwas wackelig aus, wenn er sich daran hochzieht. Täglich lernt Noël Neues dazu. Das muss auch sein Vater André Haarstrich tun - damit er den kleinen Sohn gut versorgen und erziehen kann. Dabei wird er im Rahmen der "Begleiteten Elternschaft" unterstützt. Der Betheler Dienst in Bielefeld eröffnet in diesem Jahr ein ergänzendes Clearingangebot. Den Unterstützungsbedarf von Eltern mit Behinderungen in einem geregelten mehrmonatigen Verfahren abzuklären ist ein bundesweit wegweisendes Projekt.
André Haarstrich ist ein stolzer Vater. Ein Leben ohne Noël kann
er sich nicht mehr vorstellen, und die Überwindung, die es gekostet
hat, in eine Eltern-Kind-Einrichtung zu ziehen, ist längst kein Thema
mehr. Als seine Partnerin Anita Milonas schwanger wurde, zog André
Haarstrich zunächst bei ihr ein. Er nahm selbst Kontakt zum Jugendamt
auf. "Eigentlich wollte ich eine ambulante Hilfe für zuhause." Das
Jugendamt stellte ihn vor die Wahl: Pflegefamilie für Noël oder
Eltern-Kind-Einrichtung. "Es war ein komisches Gefühl, aus der eigenen
Wohnung in eine stationäre Einrichtung zu ziehen", verrät André
Haarstrich, der sich für die "Begleitete Elternschaft Am Ellernkamp"
im Bielefelder Stadtteil Sieker entschied - mit Kind, aber ohne
Partnerin, denn das Zusammenleben hatte sich als problematisch
erwiesen. "Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen. Ich
war der Meinung: So viel Hilfe brauche ich doch gar nicht." Inzwischen
weiß der alleinerziehende Vater die Unterstützung zu schätzen und
setzt die Ratschläge aufmerksam um. Seinem Sohn soll es schließlich
gut gehen.
In dem Wohnhaus am Ellernkamp gibt es neun Zweiraum-Wohnungen. "Unsere Bewohnerschaft ist bunt gemischt", sagt Petra Thöne, Bereichsleiterin der Begleiteten Elternschaft. "Wir haben hier Elternpaare, aber auch alleinerziehende Mütter oder Väter mit Kind. Und teilweise kommen am Wochenende auch die Partner dazu. Das wird zwar nicht refinanziert, aber die Kinder sollen mit beiden Elternteilen leben können." Anita Milonas kommt täglich in den Ellernkamp. Die Eltern bringen Noël morgens gemeinsam in die Kita.
Zwei Trainingswohnungen in der Nachbarschaft gehören ebenfalls zur Begleiteten Elternschaft Am Ellernkamp. Nach einem knappen Jahr bewältigt André Haarstrich seine Aufgabe als Vater inzwischen so gut, dass er mit seinem Sohn in eine der Wohnungen ziehen kann. Dort ist dann zwar nachts kein Mitarbeiter direkt vor Ort, aber im Hintergrund steht bei Bedarf eine Rufbereitschaft zur Verfügung, die in die Wohnung kommen kann.
"Der Hilfebedarf unserer Eltern, Mütter und Väter ist ganz unterschiedlich", so Petra Thöne. Der Bedarf wird in einem intensiven Aufnahmeverfahren abgeklärt. "Wir waren aber nie zufrieden damit, das Clearing bei uns - im Grunde 'nebenbei' - durchzuführen." Dadurch gebe es naturgemäß häufige Wechsel innerhalb der Bewohnerschaft, was viel Unruhe ins Haus bringe. "Und das tut den Eltern nicht gut, die hier eine langfristige Perspektive gefunden haben und über viele Jahre hier wohnen." Auch habe sich gezeigt, dass die Diagnostik noch mehr Zeit brauche und noch strukturierter durchgeführt werden müsse, als das bisher möglich gewesen sei.
Eine spezielle Clearing-Einrichtung für Eltern mit geistiger Behinderung bringt die Lösung. Im Bielefelder Stadtteil Ummeln an der Eichenstraße entsteht zurzeit ein Haus der Bielefelder Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft, in dem Bethel.regional zwei Etagen anmietet. Hier werden ab Herbst Eltern, alleinerziehende Mütter oder Väter mit ihren Kindern für mindestens sechs Monate leben. Auch schon vor der Geburt des Kindes können schwangere Frauen und gegebenenfalls ihre Partner aufgenommen werden.
Das Angebot umfasst 24 Plätze und eine Betreuung rund um die Uhr. Während des Aufenthalts findet eine umfassende Diagnostik statt. Dazu gehören die Abklärung der Intelligenz und Persönlichkeit der Eltern und ihrer Bindungsfähigkeit, ebenso die Bewertung der Eltern-Kind-Beziehung und der Kindesentwicklung. Für die Analyse von Alltagssituationen und die Erziehungsberatung wird auch die Videotechnik eingesetzt. Schon im Clearingverfahren findet eine Förderung der Eltern statt, um sie soweit wie möglich zu befähigen, ihrer Aufgabe als Eltern gerecht zu werden. Zwei Trainingswohnungen vervollständigen das Angebot. Um Eltern und Kinder kümmert sich ein multiprofessionelles Team: Die künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verfügen über sozial- und heilpädagogische, pädagogische, pflegerische und hauswirtschaftliche Qualifikationen.
Das Clearing macht deutlich, welche Perspektiven längerfristig für Eltern und Kinder in Frage kommen. Das kann das stationäre Wohnen in der Begleiteten Elternschaft mit einer 24-Stunden-Betreuung sein, das eigenständigere Wohnen in einer Trainingswohnung oder auch das Wohnen in einer Gastfamilie. Weitere Möglichkeiten sind das Ambulant Unterstützte Wohnen, das Wohnen ohne Betreuung oder - wenn das Kindeswohl gefährdet ist - die Trennung von Eltern und Kind.
"Jeder Mensch hat das Recht - ob behindert oder nicht - auf Partnerschaft, Sexualität und Elternschaft", betont Petra Thöne. Allerdings sei das teilweise noch ein Tabuthema, und die Finanzierung von Unterstützungsangeboten für Eltern mit geistiger Behinderung werde von Region zu Region unterschiedlich gehandhabt; oft sei die Zuständigkeit der Träger - Jugendhilfe oder Eingliederungshilfe - ungeklärt. "Wenn es keine Angebote gibt, weil es keine Finanzierung gibt, werden die Kinder von ihren Eltern getrennt", so Petra Thöne, die sich in der Bundesarbeitsgemeinschaft "Begleitete Elternschaft" engagiert. Umso mehr freut sich die Betheler Bereichsleiterin, dass mit der Stadt Bielefeld und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe klare Regelungen getroffen werden konnten: Nicht nur können im Betheler Ellernkamp, als einer von fünf Einrichtungen bundesweit, Eltern mit Kindern bis zum 18. Lebensjahr begleitet werden - jetzt wird auch die neue Clearing-Einrichtung möglich. "Deutschlandweit gibt es nur rund 130 Plätze der Begleiteten Elternschaft, davon die meisten in Nordrhein-Westfalen, und eine reine Clearingstelle gab es, soviel ich weiß, bisher noch gar nicht. Da sind wir Vorreiter."
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Quelle:
DER RING, Januar 2016, S. 12-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2016
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