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PROJEKT/633: Projekt - Versorgungskonzepte für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 2/2011

EIVE FORSCHUNGSPROJEKT
Wie Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Zukunft besser versorgt werden können

Von Insa Gülzow


Seit Oktober 2009 kooperiert das Verbundprojekt Entwicklung innovativer Versorgungskonzepte (EiVE) unter Leitung der Technischen Universität Berlin mit der ACHSE, der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e.V., einem Netzwerk von über 100 Selbsthilfeorganisationen, um die Versorgungssituation von Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu ermitteln.


"Das Schlimmste sind nicht die Ärzte, die sagen 'ich weiß es nicht', das Schlimmste sind die Ärzte, die so tun, als wüssten sie Bescheid und den Betroffenen dann in die Irre leiten". So beschreibt die Vorstandsvorsitzende der Selbsthilfeorganisation Hoffnungsbaum e.V., Angelika Klucken, die Situation, in der sich Menschen mit Seltenen Erkrankungen und ihre Familien oft wiederfinden. Die Selbsthilfeorganisation Hoffnungsbaum setzt sich für die Förderung der Erforschung und Behandlung einer der zahlreichen Seltenen Erkrankungen ein: NBIA, eine Eisenspeicherkrankheit, die neurodegenerative Störungen auslöst.


Ärzte und Therapeuten in neuen Rollen

Das Forschungsprojekt EiVE hat über Hoffnungsbaum und andere Selbsthilfeorganisationen Betroffene und deren Ärzte und Pfleger über ihre Versorgungssituation befragt. Die von Prof. Dr. Carsten Schultz geleitete Arbeitsgruppe bestätigt in ersten Ergebnissen die häufig erheblichen Abstimmungsschwierigkeiten zwischen dem Patienten und den medizinischen, pflegerischen und sozialen Dienstleistern bei Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Wichtige Behandlungen und Operationen werden in der Regel nicht von einem behandelnden Arzt koordiniert, diese Aufgabe müssen die Betroffenen selbst oder ihre Angehörigen übernehmen. "Als medizinischer Laie hat man die Verantwortung für die medizinische Versorgung zu tragen", so Angelika Klucken.

Menschen mit Seltenen Erkrankungen werden häufig notgedrungen selbst zu Experten auf dem Gebiet ihrer Erkrankung. Damit kehrt sich das Rollenverständnis von Ärzten und Therapeuten als Wissende, die ihre Expertise anwenden, und dem behandelten Patienten um. Der Patient ist durch die Auseinandersetzung mit der Erkrankung detailliert über notwendige und sinnvolle Anwendungen informiert. Behandelt wird er von Ärzten, die oft zum ersten Mal mit dieser Erkrankung konfrontiert sind. Es kommt zu Unsicherheiten und Frustration, da die Betroffenen erwarten, kompetent behandelt zu werden und hier oft enttäuscht werden. Ärzte und Therapeuten hingegen werden in ihrer Ausbildung nicht konkret darauf vorbereitet, mit Nicht-Wissen umzugehen. Sie müssen erfahren, dass sie wichtige Informationen über Seltene Erkrankungen regelmäßig erst im Umgang mit den Betroffenen erwerben können.

Auch die Beantragung von Hilfsmitteln kann für betroffene Familien über die Erkrankung hinaus eine enorme Belastung darstellen. Was in der Altenpflege für Krankenkassen ein üblicher Vorgang ist, ist für die Bürokratie bei dem Bedarf von Betroffenen einer Seltenen Erkrankung eine neue Herausforderung. Es gibt kaum Erfahrungswerte, auf die sich Entscheidungen stützen können. So werden die Familien zusätzlich mit Problemen bei der Finanzierung und Erstattung von Hilfsmitteln konfrontiert.


Patienten, Angehörige und Selbsthilfeorganisationen sind Träger von Expertenwissen

Forschung zu Seltenen Erkrankungen ist ohne Betroffene nicht möglich. Für die Teilnehmer an Forschungsprojekten ist dies jedoch eher mit der Hoffnung auf langfristige Verbesserungen verbunden, als mit konkreter Hilfe für sich selbst. Um Betroffene über die Teilnahme sachlich zu informieren, sind Selbsthilfeorganisationen für die Erforschung von Seltenen Erkrankungen enorm wichtig. "Die Zusammenarbeit zwischen Betroffenen, Versorgungszentren und Forschungseinrichtungen muss dringend weiterentwickelt werden", sagt Angelika Klucken von der Selbsthilfeorganisation Hoffnungsbaum. Häufig sei die forschende Medizin zu weit weg von den Patienten, die aber ein berechtigtes Interesse an der Verbesserung ihrer medizinischen Versorgung haben. Patientenorganisationen können dabei zwischen den Anliegen von forschenden Medizinern und den Bedürfnissen der Betroffenen vermitteln. Ohne sich in die Arbeit von Ärzten einzumischen, können Vertreter von Patientenorganisationen auf sachlicher Ebene Informationen anbieten. Klucken: "Die Ärzte fremdeln manchmal noch". In den letzten Jahren habe sich der Wissensstand aber punktuell bereits enorm verbessert. Um dies flächendeckend zu erreichen, darf sich die Qualifizierung von Ärzten und Therapeuten nicht allein auf traditionell vermitteltes Wissen stützen. Es muss mehr Bereitschaft geben, auch die Erfahrungen von Betroffenen zu nutzen.


Versorgungskonzepte müssen sich an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren

Das EiVE-Projekt gibt klare Hinweise darauf, dass sich die Schwerpunkte der Schwierigkeiten ebenso unterscheiden wie die seltenen Erkrankungen selbst. Hierzu der Leiter des EiVE Projektes, Prof. Dr. Carsten Schultz: "Wir sind sehr zuversichtlich, mit den Ergebnissen unseres Forschungsprojektes einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung von innovativen Versorgungskonzepten leisten zu können. Schon jetzt können wir sagen, dass die Koordination der Dienstleistungen im Bereich Seltene Erkrankungen sich weitaus komplexer darstellt als bei Volkskrankheiten. Wir brauchen auf die Besonderheiten Seltener Erkrankungen abstellende Versorgungskonzepte. Diese müssen sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren, das Wissen der Betroffenen aktiv in die Koordination von Versorgungsaufgaben einbeziehen und die Zusammenarbeit von Kompetenzzentren und den im regionalen Umfeld der Patienten befindlichen Versorgern unterstützen. Bei der Umsetzung können moderne informationstechnische Ansätze helfen. Dadurch werden Qualitätsprobleme und letztlich Kosten vermieden, die durch Unwissen und mangelnde Abstimmung der Beteiligten entstehen".


Innovationsplattform zu Seltenen Erkrankungen gestartet

Ende März 2011 startete ein EiVE Teilprojekt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg - eine Innovationsplattform. Hier können sich Menschen vernetzen, die Interesse am Austausch von Wissen und an der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen im Bereich Seltene Erkrankungen haben. Die Initiative "Gemeinsam für die Seltenen" ist über www.gemeinsamselten.de zu erreichen und bietet Patienten, Angehörigen, Ärzten und Pflegekräften die Möglichkeit, ihr Wissen und ihre Fragen mit anderen zu teilen.


ACHSE - Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen - gibt den Seltenen eine Stimme

ACHSE vereint derzeit 104 Selbsthilfeorganisationen von Menschen mit Seltenen Erkrankungen und ihren Angehörigen. ACHSE bringt die Anliegen Betroffener in die Öffentlichkeit und setzt sich dafür ein, dass Bedürfnisse von Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Politik und Gesellschaft wahrgenommen werden, um kurz- und langfristig neue Wege und Lösungen zu finden.


KONTAKT

Dr. Insa Gülzow • ACHSE e.V.
c/o DRK-Kliniken Westend
Spandauer Damm 130
14050 Berlin
Tel.: (030) 33007 08-0
www.achse-online.de
www.achse.info


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Quelle:
Selbsthilfe 2/2011, S. 40-41
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2011