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WERKSTOFFE/893: Gummi - Selbstheilung auf der Felge (Leibniz-Journal)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 4/2015

Selbstheilung auf der Felge

von Heiko Weckbrodt


Dresdner Forscher haben einen besonderen Gummi entwickelt. In einigen Jahren könnten sich Autoreifen damit selbst reparieren.


Der Anblick ist faszinierend: Amit Das schnappt sich eine Schere und schneidet - schnippschnapp - einen Gummistreifen durch. Wie ein Zauberer auf der Bühne zeigt der aus Indien stammende Chemiker in seinem Labor demonstrativ die zerteilten Enden und legt sie dann wieder zueinander. Wie Magie wirkt dann auch sein zweites Experiment Stunden später: Der Streifen ist wieder zusammengewachsen, ohne Leim oder andere Hilfsmittel, ganz von selbst. Und so sehr er auch die Schraubstöcke von beiden Seiten ziehen lässt: Das verheilte Stückchen Gummi dehnt und dehnt sich - als ob es niemals zerschnitten worden sei.

Diese Selbstheilungseffekte hat der 44-jährige Forscher zusammen mit Chemikern aus dem Institut für Makromolekulare Chemie am Leibniz-Institut für Polymerforschung Dresden (IPF) ausgetüftelt und dem Gummi durch besondere Zusätze eingeimpft. Sie bilden an den Polymerketten im Gummi besondere Vernetzungsstellen, die man sich wie Minikugeln vorstellen kann.

Amit Das und sein Chef, Gert Heinrich, Leiter des Instituts für Polymerwerkstoffe am IPF, nennen diese Verbindungsstellen "Ionische Assoziate". Ihre Bindungskraft beruht auf elektromagnetischer Wechselwirkung, also auf physikalischen und nicht auf klassischen chemischen Bindungen. Wird der Gummi an irgendeiner Stelle beschädigt, zum Beispiel durch einen Nagel oder durch eine Klinge, sorgt die natürliche Eigenbewegung der losen Molekülenden dafür, dass sie zueinander finden und sich erneut durch solche "ionischen Assoziate" verknüpfen. Je wärmer es dabei ist, umso schneller funktioniert die Selbstheilung. Und das Beste daran: "Wir haben das mit industrienahem Equipment ausprobiert, und wir denken, dass die Methode auf eine industrielle Massenproduktion übertragbar sein wird", sagt Gert Heinrich.


Nach 24 Stunden so gut wie neu

Auch die Laborerprobungen stimmen die Dresdner Wissenschaftler zuversichtlich: "In unseren Tests haben wir nachweisen können, dass die beschädigten Stellen nach 24 Stunden wieder verheilt sind und das Material wieder so stabil wie vorher ist", berichtet Gert Heinrich, der an der Technischen Universität Dresden eine Professur für Polymerwerkstoffe und Elastomertechnik inne hat. Zwar gebe es bereits heute Polymerwerkstoffe, die sich selbst heilen, räumt er ein. Doch die basieren meistens auf nichtautonomen Heilmethoden. Die Hersteller mischen beispielsweise kleine Kanülen oder Kügelchen aus klebendem Harz bei, die sich bei einem Schaden öffnen und den Werkstoff kitten. Das Dresdner Verfahren dagegen ist autonom, was heißt: Das Material selbst repariert sich automatisch.


Überzeugungsarbeit bei der Industrie

Getestet haben die Forscher ihren Selbstheileffekt zwar vorerst nur für die speziellen Gummisorten, aus denen die sogenannte "Innenseele" eines Fahrzeugsreifens besteht. Diese innere Schicht sorgt in der Praxis dafür, dass aus den schlauchlosen Reifen keine Luft entweichen kann. Amit Das und Gert Heinrich sind aber zuversichtlich, dass die autonome Reparatur auch an den anderen Reifenschichten funktionieren wird - diesem Ansatz werden sich ihre nächsten Experimente widmen. Und: "Wir werden jetzt natürlich auch die Industrie von unserem Verfahren überzeugen müssen", sagt Heinrich. Bereits jetzt habe einer der international führenden Reifenhersteller Interesse an der Selbstheilmethode aus Sachsen signalisiert.

Fände sich rasch ein potenter Industriepartner, könnte man in fünf bis zehn Jahren mit den ersten selbstheilenden Reifen aus einer Serienproduktion rechnen, schätzen Das und Heinrich. Vor allem in der Lkw-Sparte erwarten sie sich große Resonanz. Denn Spediteure und andere Transport-Unternehmer rechnen mit spitzer Feder, erwarten von jedem Reifen, den sie auf einen ihrer Laster aufziehen lassen, dass er möglichst auf eine Million Kilometer Laufleistung kommt. Wenn sich solche Reifen von den vielen Mikrorissen des Alltagsbetriebes automatisch über Nacht selbst heilen können und nicht mehr so oft runderneuert werden müssen, dann amortisiert sich für den Spediteur der Aufpreis eines Selbstheil-Reifens recht rasch.


Weniger Altreifen-Halden

"Das alles hat auch eine ökologische Dimension", betont Gert Heinrich. "Wenn ein Reifen länger hält und fährt, dann wachsen auch die Altreifenhalden nicht mehr so schnell." Auch an ganz andere Einsatzfelder neben der Reifenindustrie denken die Dresdner Polymerforscher bereits: An selbstheilende Förderbänder in Industrie und Tagebau zum Beispiel, an Gummidichtungen, die sich über Jahrzehnte hinweg immer wieder selbstständig reparieren - bis hin zum Erdbebenschutz auf Gummi gelagerter Wolkenkratzer in Asien. Das einzige, was den Wissenschaftler bei all diesen sprühenden Ideen fehlt, ist noch mehr Platz, um sie auszuprobieren: "Mit unseren Projekten ist hier schon fast jeder Quadratmeter ausgelastet", sinniert Professor Heinrich. "Wir brauchen definitiv mehr Technikumsflächen."

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 4/2015, Seite 34-35
Herausgeber: Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
Matthias Kleiner
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2016

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